Freitag, 27. Januar 2023

Die Nebelbank Ganztagsschule.


aus derStandard.at, 26. 1. 2023                                                                                          zu Levana, oder Erziehlehre

Die Ganztagsschule wird's auch nicht richten
Um Ungerechtigkeiten im Bildungssystem auszugleichen, wird schnell nach der Ganztagsschule gerufen. Dass die Forschung hier widerspricht, scheint egal. Was tatsächlich helfen würde: eine gemeinsame Schule!


von Ferdinand Eder

Bildungsexperte Ferdinand Eder schreibt in seinem Gastkommentar, dass der "außerge-wöhnlich starke Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildungsergebnisse und Bildungs-laufbahnen nicht daraus resultiert", dass die Schule hierzulande eine Halbtagsschule ist. 

Ilkim Erdost, Bereichsleiterin Bildung in der Arbeiterkammer Wien, listet in ihrem Gast-kommentar zu einem Beitrag des Sozial- und Wirtschaftswissenschafters Paul Reinbacher vieles zutreffend auf, was das österreichische Schulsystem nicht leistet, und diagnostiziert dafür die "Halbtagsschule" als Ursache. Als ob das "Weh und Ach" der Schule "aus einem Punkte zu kurieren" wäre.

Die im Beitrag angesprochenen großen Leistungsunterschiede in den Bildungsstandards zwischen Volksschülerinnen und Volksschülern aus Akademikerfamilien und jenen aus Familien mit maximal Pflichtschulabschluss, um nur auf ein Thema einzugehen, können wohl nicht generell dem Faktor Halbtagsschule zugeschrieben werden: Im ganztagsschul-reichen Wien sind diese Unterschiede um ein Drittel höher als im ganztagsschularmen Kärnten.


Der in Österreich außergewöhnlich starke Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildungs-ergebnisse und Bildungslaufbahnen resultiert ja nicht daraus, dass die Schule eine Halbtags-schule ist, sondern aus einer Tradition des Denkens über Lernen und Leistung, die nicht auf Förderung, sondern auf Auslese ausgerichtet ist. Bereits in der Volksschule wird getrennt zwischen Kindern, denen man eine "höhere" Bildung zutraut, und solchen, die lediglich eine "mittlere" erhalten sollen – mit dem Ergebnis, dass sich in der ersten Gruppe die Kinder aus Familien mit höherer Bildung und in der zweiten jene mit niedriger Bildung wiederfinden.

In der anschließenden AHS-Unterstufe haben fast 80 Prozent der Eltern zumindest Matura, in den Mittelschulen sind es rund 40 Prozent, und an manchen Mittelschulstandorten geht diese Quote gegen null. Die Zusammensetzung von Schulklassen mit überwiegend sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern ist ein entscheidender Faktor dafür, dass an manchen Einrichtungen ein Bildungs- und Lernmilieu entsteht, in dem sich die Kinder und Jugendlichen wechselseitig am Lernen hindern und Lehrpersonen in ihrem Bemühen um Förderung leistungsschwächerer Schülerinnen und Schüler resignieren.

Die 2018 ermöglichte Aufteilung der Mittelschulschülerinnen und -schüler nach zwei Gütestandards ("Standard" und "Standard AHS") bildet den vorläufig letzten Schritt in dieser Tradition der Auslese, die so weit führt, dass sogar positive Noten, die Schülerinnen und Schüler in der Leistungsgruppe "Standard" erreichen, schulrechtlich einem "Nicht genügend" gleichgestellt werden. Nicht der Halbtagscharakter, sondern die Struktur des Schulsystems ist – ungeachtet anderer Einflüsse – der entscheidende Faktor, dass Lernerfolge ausbleiben und Förderung nicht ausreichend geschieht.

Das Heilmittel?

Erdost sieht in Ganztagsschulen das Heilmittel für fast alle Mängel des Schulsystems. Aber: Die Annahme, more of the same, also die Ausweitung der Schulzeit in Form einer gut organisierten Ganztagsschule, wäre hier schon die Lösung, ignoriert die wissenschaftliche Befundlage. Nicht nur "ambivalente" Befunde, wie Reinbacher schreibt, nein: klare Befunde widersprechen dieser Annahme. Im Einklang mit bisherigen Forschungsergebnissen resümieren die Autorinnen und Autoren einer neuen Untersuchung in Deutschland: "Es findet sich kein signifikanter Effekt des Ganztagsschulbesuchs auf Lernleistungen, wenn man die Standardisierten Tests betrachtet. Aber in Deutsch und Mathematik verbessert sich die Einschätzung der Schülerinnen und Schüler durch die Lehrkräfte, die Noten verbessern sich." Die Studie beruht auf einer Längsschnittanalyse mit 5.000 Schülerinnen und Schülern, deren Entwicklung seit 2012 begleitet wurde. Und auf die Frage nach der Verringerung der gesellschaftlichen Ungleichheit lautet der Befund: "Die sehen wir nicht in den Daten!" Dahinter stehen immerhin fast 20 Jahre Ganztagsschulentwicklung in Deutschland, in der redlich versucht wurde, Modelle und Praktiken für eine ganztägige Beschulung zu entwickeln.

Entlastung der Familien


Die ganztägige Schule leistet einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung sozialer und gesellschaftlicher Entwicklungen, insbesondere eine Unterstützung der Frauen bei der Bewältigung ihrer beruflichen und familiären Herausforderungen, eine Entlastung der Familien vom nervigen täglichen schulischen Kleinkram wie Aufgabenbetreuung. Und sie bietet andererseits den Kindern und Jugendlichen Raum für die Entwicklung ihrer sozialen Beziehungen. Das reicht als Rechtfertigung aus, Schule anders zu organisieren – sie ist ja dazu da, gesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen, auch die "Aufbewahrung" und Betreuung von Kindern während der Berufstätigkeit ihrer Eltern. Das sollte auch den finanziellen Aufwand wert sein.

Der Ganztagsschule aber signifikante Effekte zur Lösung pädagogischer oder bildungspolitischer Herausforderungen zuzuschreiben, dafür fehlt zurzeit jegliche Evidenz. Und jene Länder, die als Beleg für das pädagogische Potenzial von Ganztagsschulen herangezogen werden, haben so gut wie alle im Pflichtschulbereich Gesamtschulen, also gemeinsame Schulen auch für die Zehn- bis 14-Jährigen, eingeführt und auf diese Weise einen entscheidenden Schritt zur Verringerung sozialer Ungleichheit in der Schule und damit zur Verbesserung der Lebenschancen ihrer Kinder und Jugendlichen gesetzt. "Aus der Zeit gefallen", wie Erdost schreibt, ist nicht unmittelbar die Halbtagsschule, sondern das "differenzierte" zweigliedrige Schulsystem, das allein durch seine Struktur und die daraus resultierende Abwertung der Leistungsschwächeren Jahr für Jahr Bildungsverliererinnen und Bildungsverlierer erzeugt.

Wer sich als Lobby für Kinder und Jugendliche und weniger als Interessenvertretung verstehen möchte, fände in der Umsetzung einer gemeinsamen Schule für alle ein bei weitem wirkungsvolleres Handlungsfeld.

Ferdinand Eder ist pensionierter Professor für Pädagogik an der Universität Salzburg mit Schwerpunkt Schul- und Bildungsforschung sowie Herausgeber der "Zeitschrift für Bildungsforschung".


Nota. -  Das ist löblich, dass endlich einer vom Fach den Rauchschleier zerreißt, den interessierte Standesvertreter und die Tenöre der Industrie über die Ganztagsschule gebreitet haben. Doch als hätte er Angst vor der eigenen Courage, lässt er ihren Apologeten doch noch ein Schlupfloch offen: Wenn sie schon sonst nicht viel taugt, böte sie immerhin "den Kindern und Jugendlichen Raum für die Entwicklung ihrer sozialen Beziehungen". Das ist nicht, wie Lenin sagt, ein Löffel Teer in einem Honigfass, das ist selbst ein Fass Teer.

Dieselben Medien, die das Publikum mit Ganztagsserenaden umgirren, trommeln bei jeder neuen Gelegenheit über Mobbing auf den Pausenhöfen und Bewaffnung an den Schulen. 'Braucht es' dort also eine längere Verweildauer, um die Resistenz aufzuweichen? 

Nichts ist schädlicher fürs "Einüben sozialer Verhaltensweisen" als ein Pausenhof. Die künstliche tägliche Vermassung von je ein paarhundert Kindern trägt nicht zu ihrer Sozialisierung, sondern zur Verwahrlosung bei, die die von Markt und Verwaltung erodierte naturwüchsige Kindergesellschaft gar nicht mehr kompensieren kann. Weniger Pausenhof ist aber nur vertretbar bei weniger Unterrichtsstunden. Mehr Kindergesellschaft fördert nicht nur die spontanen Sozialbildung der Kinder, sondern regt ihre Neugier, Abenteuerlust und den Tätigkeitsdrang an. Das ists, worauf es künftig ankommen wird. Denn nicht nur wird das Speichern von Informationen von den Maschinen besser besorgt, sondern außerdem werden immer mehr freie Intelligenzen erforderlich, um sie unter Kontrolle zu halten.

Herr Eder, fassen Sie sich ein Herz und sagen Sie über die Ganztagsschule die ganze Wahrheit, die Sie ohne Zweifel längst kennen und bloß nicht auszusprechen wagen: Sie ist nicht nur didaktisch unnütz, sondern pädagogisch richtig schädlich.
JE


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Blog-Archiv

Pausen sind gut und nötig; der Pausenhof ist ein Übel.

                                                          aus Levana, oder Erziehlehre Die Schule ist ein Ort, der Kinder in einer so ...