Mittwoch, 11. Januar 2023

Ist Vernunft nur eine Illusion oder immerhin eine zweckweisende Fiktion?

aus spektrum.de, 11.01.2023                                                                             zu Philosophierungen

»DIE ILLUSION DER VERNUNFT«
Der Psychiater Philipp Sterzer erklärt, wie Hirnfunktionen es uns ermöglichen, die Welt zu verstehen – und uns manchmal in die Irre führen. Eine Rezension
 

von Wolfgang Skrandies 

Philipp Sterzer ist Psychiater an der Universität Basel und beschäftigte sich unter anderem mit der visuellen Wahrnehmung. In seinem Buch erklärt er, wie Hirnfunktionen es uns ermöglichen, unsere Welt zu verstehen. Aufhänger für seine Ausführungen sind Beobachtungen von Patienten, die an Wahnvorstellungen unterschiedlicher Ausprägung leiden. Dabei erläutert Sterzer, wie Aussagen von Patienten zu bewerten sind: als irrational und krankhaft oder als noch gesund und normal. Gerade weil es bei Wahnvorstellungen oder auch persönlichen Überzeugungen einen fließenden Übergang von nachvollziehbar bis irrational gibt, fällt eine Bewertung oft schwer.

Das Leib-Seele-Problem

Damit reiht sich das Buch in die Literatur ein, die sich im weitesten Sinn mit dem großen »Leib-Seele-Problem« beschäftigt. Wie werden Sinnesdaten interpretiert, um die Welt zu verstehen? Jeder Mensch konstruiert im Kopf sein eigenes Bild, wobei irrationale Aspekte des Denkens oft nicht erkannt werden. Sterzer erklärt das unter anderem durch einen Selektionsdruck der sozialen Umgebung: Durch eine »Bestätigungstendenz« wird unser Denken in Richtung vorgefasster Interpretationen und Überzeugungen verzerrt.

Ein grundlegender Erklärungsansatz, der in dem Buch entwickelt wird, liegt in der Funktion des Gehirns als »Vorhersagemaschine«: Sinnesdaten und Wahrnehmungen sind oft unvollständig oder ungewöhnlich, deshalb werden sie automatisch korrigiert und passend interpretiert. Unser Gehirn reagiert also nicht passiv auf Reize, sondern es versucht permanent auf Grund früherer Erfahrungen, ein stimmiges Bild unserer Welt zu erzeugen. Das illustriert der Autor anhand bistabiler Kippfiguren, die sich aus unterschiedlicher Perspektive betrachten lassen, oder dem von uns nicht bemerkten blinden Fleck. Ähnliche Beispiele sind Augenbewegungen, mit denen wir bewegten Gegenständen mühelos folgen können, auch wenn sie zeitweise verdeckt sind. Sterzer schildert, dass manche Patienten mit psychischen Erkrankungen Sinnesreize sogar empfindlicher wahrnehmen als Gesunde.

Sterzer geht auch auf das Entstehen irrationaler Überzeugungen ein, die sich durch sachliche Argumente oft nicht entkräften lassen. Offenbar teilen viele Menschen absurde Aussagen: etwa dass die Erde flach sei oder die Mondlandung nur in Filmstudios stattgefunden habe. An solche Verschwörungstheorien glaube die Hälfte aller Amerikaner und ein Drittel der Deutschen, schreibt Sterzer. In einem Epilog über die »Überzeugungen in Zeiten der Pandemie« erliegt der Autor der Versuchung, auf zwölf Seiten aktuelle Bezüge herzustellen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob sich Schlagworte und Sachverhalte wie »Querdenker«, »Covidioten« oder »Corona als Lehrstück über die Wissenschaft« auf diese Weise wirklich angemessen erklären und beurteilen lassen.

Das Buch scheint vor allem für Laien interessant. Wer sich bereits mit ähnlichen Themen beschäftigt und die Publikationen dazu verfolgt hat, erfährt nicht allzu viel Neues. Der Ansatz, Wahrnehmungen, Überzeugungen und Verhalten von Menschen durch Hirnfunktionen zu erklären, hat eine sehr lange Tradition, und so wundert es nicht, dass die Darstellung angesichts der umfangreichen wissenschaftlichen Literatur für Fachleute etwas redundant wirkt. Die erwähnten Wahrnehmungstäuschungen wurden schon oft herangezogen, um das aktive und auch fehlerhafte Verarbeiten von Sinnesdaten durch das Nervensystem zu illustrieren. Manche Aspekte hingegen fehlen, wie die Darstellung des Gehirns als Beziehungsorgan, die der Psychiater Thomas Fuchs 2008 entwickelt hat. Es wäre interessant zu lesen, wie Sterzer dessen Befunde und Interpretationen in die bestehende wissenschaftliche Literatur einordnet. Dennoch ist dieses Buch ein lesenswerter Beitrag zu aktuellen Fragen.


Nota. - Ist Vernunft naturgegeben, oder nur ein subjektiv induziertes Konstrukt? Sind Vernünftigkeit und Irrsinn objektivierbare Data? 

Wenn  mir zwar keiner widerlegen könnte, dass Vernunft eben ist, was sie ist, so kann ich sie ihm doch nicht erweisen. Er könnte an ihrer Statt eine andere vorschlagen, doch ich könnte ihm sicher nachweisen, dass er dabei wissent- oder unwissentlich von Prämissen ausgeht, die er nicht erwiesen hat und die ich ihm nicht zugestehe. Es gälte also, alle überflüssigen Prämissen auszuscheiden, beziehungsweise die eine herauszuarbeiten, die schlechthin un-vermeidlich ist. 

Der Ansatzpunkt kann nicht sein: "Gibt es Vernunft?" Es muss ja vorher bestimmt sein, was darunter zu verstehen wäre. Und historisch ist es so: Erst trat Vernunft auf mit dem Anspruch, universal zu gelten, bevor die Frage aufkam, wer oder was sie überhaupt sei. So ist es immer: Erst beginnt ein Handeln, reflektiert wird hinterher. So war es mit der Vernunft - zuerst machte sie sich in der Welt geltend, erst dann musste sie sich vor ihren Gegnern rechtfertigen.

Das begann mit der Kant'schen Vernunftkritik.

Ich weiß, was ich weiß. Überprüfen auf seine Richtigkeit kann ich allenthalben, wie ich weiß - wie ich zu meinem Wissen komme -, denn da bin ich dabei. Doch was ich weiß, kann ich nicht prüfen, weil ich in das Ding an sich eo ipso nicht hineinkomme. Wissen kann ich allenfalls, was ich mit ihm anfangen kann,  wenn ich es will - und das muss ich schließlich und endlich selber wissen. Mit andern streiten, was die Dinge an sich wären. kann ich sinnvoller Weise gar nicht, bevor ich mich nicht verständigt habe, was aus ihnen zu machen wäre.

Die Annahme, dass es Vernunft geben kann, setzt voraus, dass ich beabsichtige, mich allgemein zu verständigen darüber, wozu sie Ding der Welt gebraucht werden sollen. Wenn eine solche Verständigung nicht gelingt, bleibt Vernunft immerhin als Problem übrig - und man wird nicht ernstlich behaupten können, dass es sie nicht gibt; höchstens, dass man sie entbehren mag

"Dass unser Wissen keinen Grund hat, mag schon sein. Aber dann lässt sich das Leben nicht führen; denn so könnte man nicht zusammen leben. Aber so könnte man Kunst machen. Das mag diesem und jenem genügen, aber nicht allen."

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