Montag, 2. Januar 2023

Ästhetisch erleben.


aus Tagesspiegel.de, 29. 12. 2022                                                                                              
  zu Geschmackssachen

Kunst auf Rezept
Wie sinnliche Erlebnisse heilen können
Kunstobjekte in Krankenhäuser lindern Ängste, gemeinsame Theaterbesuche helfen Menschen mit psychischen Erkrankungen. Doch wie genau wirken das ästhetische Erleben auf den Organismus?

von Susanne Donnerie 

Patienten und Patientinnen des Pariser Universitätskrankenhaus Seine-Saint-Denis müssen sich gewundert haben, als 2018 in einem Innenhof eine überlebensgroße Kopie der Venus von Milo aufgestellt wurde. Die Skulptur der Göttin Aphrodite war Teil des Projektes „Louvre im Krankenhaus“. Neben vier Skulpturen stellte das Museum 30 Abdrucke von Gemälden und 200 kleinere Motive in den Patientenzimmern aus.

Im Verlauf mehrerer Monate bekamen viele Patienten neben den täglichen Visiten eine anderthalbstündige Kunsttour geboten. Und siehe da, die Kunstobjektezerstreuten bei den meisten der 451 Teilnehmenden Ängste und Sorgen. Viele reagierten begeistert auf die ungewöhnliche Ablenkung und wünschten sich mehr Kunst im Krankenhaus. Das Projekt wurde noch vor der Coronapandemie auf mehrere Krankenhäuser in der französischen Hauptstadt ausgeweitet.

In Großbritannien, Kanada und mehreren skandinavischen Ländern gibt es mittlerweile sogar „Kunst auf Rezept“. Erkrankte Menschen dürfen dann umsonst in die Oper oder ins Museum gehen. Kunst fördert nämlich die Gesundheit: Das Arts Council England stellte beispielsweise fest, dass Arztbesuche um 37 Prozent und Krankenhauseinweisungen um 27 Prozent zurückgehen, wenn Menschen regelmäßig Kunstgalerien und Museen besuchen.

Die Lebenszufriedenheit steigt und das Gefühl eines inneren Friedens nimmt zu, resümierte die Weltgesundheitsorganisation, nachdem sie sich erstmals 2019 dem Thema annahm und 900 Studien zur Wirkung von Kunst ausgewertet hat

Die Psychologin Anita Jensen von der dänischen Universität Aalborg betreut derzeit das „Kunst auf Rezept“-Programm im Nachbarland Schweden. Zweimal pro Woche gehen die Teilnehmenden für zehn Wochen ins Theater, in Museen oder die Opfer. Menschen mit einer psychischen Erkrankung, etwa einer Depression oder Phobie, können daran teilnehmen.

"Vielen Menschen tut schon der Austausch mit anderen und dann noch die positive Anregung über die Kunst sehr gut", sagt Anita Jensen, Psychologin an der dänischen Universität Aalborg. „Die meisten waren noch vorher nie in einem Museum oder einer Oper“, sagt Jensen. Und sie staunen über die Stimmungsaufhellung und das wachsende Selbstwertgefühl, wie sie in ihren Studien ermittelt hat. Auch die betreuenden Ärzte würden bemerken, dass es ihren Kranken besser geht. 

Sinnliches Erleben ohne Stimatisierung

Unklar ist aber, auf welche Weise Kunst der Gesundheit zuträgt. „Unsere Angebote sind immer in Gruppen organisiert: Vielen Menschen tut schon der Austausch mit anderen und dann noch die positive Anregung über die Kunst sehr gut“, sagt Jensen. Besonders sozial isolierte Menschen profitieren davon, weshalb sie im aktuellen dänischen Programm genauso mitmachen dürfen. Ein Drittel käme tatsächlich aus Einsamkeit, berichtet die Forscherin.

Einen großen Unterschied zu anderen Behandlungen sieht Jensen auch darin, dass es gerade nicht um die Krankheit geht. Die Teilnehmenden erfahren keine Stigmatisierung, berichtet sie. Während in einer Psychotherapie das Leiden bearbeitet wird, setzt die Kunst dem ein ganz anderes sinnliches Erleben entgegen. Man könnte von einer therapeutischen Form der Ablenkung sprechen.

Auf körperlicher Ebene könnten verschiedene Effekte zusammenkommen: Einzelne Studien zeigen, dass der Spiegel des Stresshormons Cortisol zurückgeht, wenn wir Kunst auf uns wirken lassen. Das italienische Team um den Psychologen Stefano Mastandrea wies zudem nach, dass der Blutdruck beim Betrachten von Kunstobjekten sinkt.

Wenn uns Kunst besonders ergreift, bringt das zudem das Gehirn in einen anderen Modus. Hirnforscher vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik zeigten, dass Kunst, die uns anspricht, das Default Mode Netzwerk im Gehirn anregt. Diese Hirnregion ist auch beim Tagträumen und Schmieden von Zukunftsplänen aktiv.

Der therapeutische Effekt von Kunst findet seinen Niederschlag auch in verschiedenen Formen der Kunsttherapie. Parkinson-Betroffene können beim Tanz wieder sicherer auf den Beinen werden. Schmerzpatienten erfahren in einer Musiktherapie eine gewisse Linderung.

„Der Unterschied ist aber, dass diese Therapien ein definiertes klinisches Ziel verfolgen und von einem speziell ausgebildeten Therapeuten, einer Therapeutin ausgeführt werden“, stellt Jenssen klar. Kunst auf Rezept indes will die Verfassung der Betroffenen ganz allgemein verbessern. Jenssen spricht von „Kulturvitaminen“.


Nota. - Der Mensch ist nicht einesteils sinnlich, andernteils intellektuell. Das sind Unter-scheidungen, die eine (intellektuelle) Reflexion nachträglich an dem vornimmt, was er ur-sprünglich 'ist' - nämlich tut. Was tut er? Er erlebt. Was ist erleben? Es ist ein Fühlen, das mit Bedeutungen ausgezeichnet ist.

Soll man sagen, Ästhetisches zu erleben habe unmittelbar Einfluss auf sein Gesamtbefin-den? Oder ist es sein ästhetisches Erleben, das auf seinen Gesamtzustand einen Einfluss hat?

Was kann das heißen: sein Erleben habe Einfluss? Ist es nicht eher selber Aus druck seines Gesamtzustands? 

Weder kommt das eine vor den andern, noch das andre von dem einen. Wie man es dreht und wendet: Ein Subjekt ist immer tätig, nur darum ist es Subjekt. Seine Tätigkeit ist, bevor sie irgendwas anderes wird, zuerst erleben. Sein Erleben unterscheidet es, sobald es reflek-tiert, in Subjekt, Prädikat, Objekt. Das, was ist, ist schlechterdings - Prädikat? Nein; prädi-zieren.

*

Die Frage Wie genau? ist daher dumm. Die Ärzte können zufrieden sein, wenn sie auf die Dauer empirische Beobachtungen machen können, die eine gewisse Regelmäßigkeit erken-nen lässt, die der Laie dann für Kausalität hält. Wissenschaftlich wird mehr nicht drin sein.

(Und übrigens: Es lässt sich schon nicht begreifen, 'was Wirkung ist'; schon gar nicht wer-den es die Forscher mit ihren Bildgebenden Verfahren darstellen können. Man kann nicht einmal sagen, was mit Wie genau? gemeint ist.)
JE



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