Montag, 30. Januar 2023

Machterschleichung, II.


aus welt.de, 28. 1. 2023                           Hitler, m., v. Papen, r.                                                    zu öffentliche Angelegenheiten
              
Wie Macht in Hitlers unberechenbare Hand gelangen konnte
Eine Intrige mit schlimmen Folgen: Der Zeithistoriker Lothar Machtan erklärt, welche Ränke dem Chef der Nationalsozialisten die Reichskanzlerschaft einbrachten, wer welche Ambitionen hatte – und welche Rolle ein Gerücht spielte.


Ein Interview mit Prof. Lothar Machtan
Interviewer  Sven Felix Kellerhoff

WELT:
 Haben Hitler und die NSDAP am 30. Januar 1933 die „Macht ergriffen“?

Lothar Machtan: Nein. Das ist ein Märchen, das die Nazis selbst später in die Welt gesetzt haben. Um ihren Anteil an dem kapitalen Ereignis größer zu machen, als er tatsächlich war. Es war ein kleiner Zirkel von Reaktionären, die Hitler Regierungsmacht in die Hand gespielt haben. In vorderster Front: Deutschlands Staatsoberhaupt Reichspräsident Paul von Hindenburg, und die beiden sich bis aufs Messer bekämpfenden letzten Kanzler der Weimarer Republik Franz von Papen und General Kurt von Schleicher – nebst ihren jeweiligen Cliquen. Sie geboten damals über die meiste Entscheidungsmacht; direkte oder indirekte. Deutschlands Schicksal hing am Ende an den Fäden, die von diesen politischen Schlüsselfiguren gesponnen bzw. durchkreuzt wurden. Ihre persönlichen Beziehungen, genauer: ihre Kabalen sind in der Regierungskrise vom Winter 1932/33 ins Zentrum der politischen Entscheidungsfindung gerückt.

WELT: Wenn es keine „Machtergreifung“ war – was denn dann?

Machtan: Hitlers Lancierung zum Chef einer „Regierung der nationalen Konzentration“ war ein politisch gesteuerter Vorgang, der sich allerdings unter einer Käseglocke abgespielt hat. Und unter den Bedingungen der kranken Machtkultur eines seit Monaten kriselnden Staates. Die hat an der Jahreswende 1932/33 auch solche früheren Bedenkenträger einer Machtübertragung an Hitler infiziert wie den Chef der Deutschnationalen Volkspartei Alfred Hugenberg oder Stahlhelm-Führer Franz Seldte. Am Ende schoben alle ihre Skrupel beiseite, und das politische Wagnis einer Reichskanzlerschaft Hitlers wurde gleichsam „alternativlos“. Weil man anders nicht mehr glaubte, selbst an das Ruder eines neuen Machtstaats zu gelangen (oder zu daran zu bleiben). Was für eine Katastrophe sie damit auslösen würden, schwante wohl den wenigsten der damaligen Entscheidungsträger.

WELT: Am Tag vor Hitler Ernennung zum Kanzler liefen in Berlin Putschgerüchte um. Die Reichswehr marschiere und wolle die Macht selbst übernehmen, hieß es. Was war da dran?

Machtan: Ende Januar 1933 hat der Chef der Heeresleitung Kurt von Hammerstein-Equord tatsächlich an so etwas wie die Selbstermächtigung einer Militärregierung gedacht. Ein solches – sagen wir einmal – „Direktorium“ war aber hauptsächlich gegen Hindenburg/Papen gerichtet, nicht gegen Hitler. Der hätte sogar ruhig Kanzler werden können – nur eben von der Reichswehr Gnaden und kontrolliert von Schleicher und Hammerstein.

WELT: Wieso kam es dazu nicht?

Machtan: Schleicher zögerte; er blieb ambivalent sowohl, was seine Frontstellung zu Hindenburg als auch zu Hitler betraf. Seine Loyalität gegenüber Hindenburg erodierte, aber auch seine Animosität gegenüber einer Kanzlerschaft Hitlers. Rücksichtslos eigene Wege mochte er ebenfalls nicht gehen. Das lief dann auf eine Selbstblockade hinaus. Und letztlich wurde der Plan auch fallen gelassen.


Machtan: Keineswegs. Als Drohkulisse wurde diese Machtoption der Militärs von interessierter Seite durchgestochen (und wohl auch aufgebauscht). Dadurch konnte der Plan eine Eigendynamik entfalten, die am Ende Hindenburgs Bereitschaft, Hitler zum Kanzler zu ernennen, maßgeblich beeinflusst hat. Es war also die politische Wirkungsmacht eines Gerüchts, die Weltgeschichte (mit)geschrieben hat – eine Breaking News freilich, an der tatsächlich etwas dran war. Vor allem die ernsthafte Erwägung der Schleicher-Leute, Hindenburg aufs Altenteil abzuschieben.

WELT: Die entscheidende Figur am 30. Januar 1933 war Hindenburg. Was wollte er, was war sein Ziel?

Machtan: Die Politik der Hindenburg-Kamarilla zielte seit Mitte Januar 1933 zunächst und vor allem auf eines: auf die Ausschaltung von Schleicher, bis dahin die Graue Eminenz im politischen Berlin. Hindenburg wollte auf keinen Fall seine Kontrolle über die Reichswehr an diesen gewieften Machtjongleur verlieren, dessen Finessen ihn zutiefst beunruhigten. Viel mehr an strategischen Überlegungen war da erst einmal nicht. Hindenburgs (zunächst heimlicher) Auftrag zur Regierungsneubildung an Papen war eher ein Nebenkriegsschauplatz. Das hatte auch keine Eile.



Adolf Hitler und Hermann Göring am Abend des 30. Januar 1933 am Fenster der Reichskanzlei. Im Hintergrund rechts: Rudolf Heß


Dann steigerte sich – nicht zuletzt durch eine brodelnde Gerüchteküche – die Dramatik von intriganten Vorgängen in der Berliner Wilhelmstraße, die schließlich den Reichspräsidenten bestimmten, in Hitler das wesentlich kleinere Übel gegenüber Schleicher zu sehen. Denn zwei Dinge darf man dem greisen Staatsoberhaupt auch in der angespannten Situation der letzten Januarwoche getrost zubilligen: ein ungetrübtes Machtbewusstsein und den festen Willen, die Macht konkurrierender Akteure zu brechen. Hindenburg hat kalkuliert, wie hoch für ihn persönlich (und für sein Image) der Schaden ist, den die Ernennung Hitlers verursachen könnte. Die Antwort war: gering. Die anderthalb Lebensjahre, die ihm verblieben, haben seinem Kalkül Recht gegeben.

Hindenburg

WELT: Ist die Machtübernahme durch die NSDAP 1933 hinreichend erforscht? Oder gibt es doch noch offene Fragen?

Machtan: Mit Blick auf die Festmeter an einschlägiger Literatur scheint kaum ein politisches Ereignisfeld gründlicher erforscht zu sein als das Schwellenjahr 1933. Doch fragt man nach dem historisch-politischen Kern dieser Zäsur – für mich ist das die Unumkehrbarkeit von Hitlers Ermächtigung – so bleibt da vielleicht noch einiges aufzuklären. Namentlich: Ob das Schlüsseldatum 30. Januar 1933 bereits der point of no return war? Weil damals bereits alle halbwegs realistischen machtpolitischen Alternativen zu Hitler (Militärdiktatur oder Restauration der Monarchie etwa) verspielt oder verschüttet wurden. Und wenn das so war, wofür meines Erachtens einiges spricht, so stellt sich die Frage nach den speziell dafür Verantwortlichen und deren Motiven umso dringlicher. Deshalb dürfte es sich weiterhin lohnen, die Fährte nach neuen Quellen aufzunehmen. Also nach Zeugnissen, die uns noch besser verstehen lassen, wie 1933 unwiederbringliche Macht in die unberechenbare Hand eines Adolf Hitler gelangen konnte.
 

Lothar Machtan, emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bremen, gehört zu den Historikern, die immer auf der Suche nach bislang unbekannten Zeugnissen über die Vergangenheit sind, um so Rätsel zu lösen. Zu seinen Büchern zählt ein Band über das Foto Otto von Bismarcks auf dem Sterbebett, eine Biografie des letzten Reichskanzlers des Kaiserreichs Prinz Max von Baden sowie jüngst eine Studie zum „blinden Fleck“ der Hohenzollern-Dynastie unter dem Titel „Der Kronprinz und die Nazis“.


Nota. - Hätte es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben, wenn Hitler nicht Reichskanzler geworden wäre? Den zweiten Weltkrieg hat es gegeben, weil mit dem Vertrag von Versailles die Gründe, wegen derer es zum Ersten gekommen war, nicht erledigt wurden - das war nur eine der allseitigen Erschöpfung geschuldete Waffenruhe. Das von Großbritannien beherrschte Gleichgewicht auf dem Weltmarkt war ins Wanken geraten, weil die neuen Mächte Deutschland, Amerika und Japan nach einem Platz an der Sonne drängten.

Hätte es den Faschismus nicht gegeben, wenn es die Oktoberrevolution nicht gegeben hätte? Ernst Nolte hatte völlig Recht - das, was er den "europäischen Bürgerkrieg" genannt hat, ist im Auge des kritischen Betrachters die Geschichte vom Scheitern der Weltrevolution gewesen. Die imperialistischen Gegensätze hatten den Weltmarkt in eine Zerrüttung geführt, die er bis Sommer 1939, dem Moment des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs, nicht überwunden hatte - und prompt ging es wieder da los, wo es 21 Jahre zuvor steckengeblieben war. 

Wer oder was hätte es hindern können? Die Ausweitung der Oktoberrevolution auf die industrialisierten Länder des Westens. Das war die Alternative: Revolution oder Konterrevolution. Wo die proletarischen Massen in Bewegung geraten waren, konnte die Konterrevolution nicht siegen, wo sie ihr Gesicht gezeigt hätte - nicht als Freikorps und nicht als Hitler-Ludendorff-Putsch. Er musste sich selber als Revolution verkleiden und Massen in Bewegung bringen..

"Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen", hieß es im Horst-Wessel-Lied, dem Hymnus der SA. Reaktion, das waren Hugenberg und von Papen, und unter vorgehaltener Hand der Reichsmarschall Hindenburg. Eine bloß scheinhafte Zwischenwelt war das System, nämlich das weimarische, wo hinter der Kulisse einer parlamentarischen Schwatzbude Regierungskombinationen in Kabinettsintrigen ausgefeilscht wurden. 

Gegen die Reaktion hier und die vaterlandslose rote Revolution dort schritt mit festem Tritt seit 1923 die nationale Revolution des Nationalsozialismus, kompromisslos gegen Links und  Rechts von... Wahlsieg zu Wahlsieg. Doch außer den verhöhnten Wahlzetteln hatten sie nichts aufzubieten

Ihr ausgesuchter Gegner war die organisierte Arbeiterbewegung, die hätte sie auf offenem Feld schlagen und dabei - die nationalrevolutionäre Maske fallenlassen müssen. Einem solchen Offenbarungseid war schon Mussolini wohlweislich aus dem Weg gegangen.

Als im Herbst 1932 die NSDAP zum erstenmal seit zehn Jahren bei der Reichstagwahl stimmen verloren hatte und in Millionenhöhe, da schien die rhetorische Blase geplatzt zu sein. Es galt, zu retten, was zu retten war, irgendein namhafter Erfolg musste her, kostete es was es wollte. Warum nicht eine Kabinettsintrige in bestem weimarischen Stil? Eine Strategie hatte es gar nicht gegeben, warum nicht eben Taktik von der Hand in den Mund!

Der Nationalsozialismus hat genausowenig je gesiegt wie Mussolinis Faschismus. Sie haben sich nur so durchgemogelt.

Wie kann das sein - ein so gewaltiges weltgeschichtliches Ereignis aus so erbärmlich kleinem Anlass?

Die Größe der Ereignisses lag in der Größe des Verrats derer, gegen die es gerichtet war, an den Millionen von Arbeitern, die ihnen - "trotz allem"! - vertraut hatten.

Die wahre Schuld an Faschismus, Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg tragen die sozialdemokratischen und stalinistischen, stalinistischen und sozialdemokratischen Führungen der europäischen Arbeiterbewegung.
JE


 



                 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Blog-Archiv

Pausen sind gut und nötig; der Pausenhof ist ein Übel.

                                                          aus Levana, oder Erziehlehre Die Schule ist ein Ort, der Kinder in einer so ...