aus welt.de, 24. 10. 2025 zu öffentliche Angelegenheiten
Kraft durch Furcht.
Kaum
jemand hat die Herrschaft des Nationalsozialismus so überzeugend
erklärt wie Götz Aly. Seine Thesen, die er jetzt in Wien vortrug,
gefallen weder Rechten noch Linken und nicht den Feministinnen. Nur der
Katholizismus kommt halbwegs gut weg.
Das neue angesichts seines Umfangs von mehr als 700 Seiten von ihm ironisch „Opus Magnum“ genannte Buch von Götz Aly heißt „Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945“. Im Wiener Jüdischen Museum machte Aly zu Beginn deutlich, dass die titelgebende Frage nicht raunend-moralisch, sondern empirisch, als Frage nach den infrastrukturellen, sozioökonomischen und mentalitätsgeschicht-lichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus zu verstehen sei. Wie mussten sich die Institutionen des bürgerlichen Rechts, der Kirchen, der Fürsorge, der kommu-nalen Verwaltung, der Gewerkschaften, aber auch private und halböffentliche For-men von Nachbarschaftshilfe, Familie, Ehe und Freundschaft verändert haben, damit sich der „kollektive Bestialismus“ entfesseln konnte, als den Aly mit den Worten Thomas Manns den Nationalsozialismus beschrieb?
Alys Buchvorstellung im Rahmen der vom Simon-Wiesenthal-Institut für Holo-caust-Studien veranstalteten „Lectures“, versammelte wie in einem Prisma, was seine Arbeiten – vom 1984 mit Karl Heinz Roth veröffentlichten Buch „Die restlose Erfassung“ über Volkszählungen im Nationalsozialismus über „Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus“ (2005) bis zur 2015 erschienenen Studie „Volk ohne Mitte“ – stets als anstößig erscheinen ließ.
Der in Deutschland mittlerweile zur Staatsräson avancierte linke Antifaschismus, der den Nationalsozialismus trotz dessen Selbstbezeichnung als extremen Nationalismus und daher als „rechts“ rubriziert, stört sich an Alys zentraler Erkenntnis. Er zeigt, wie die in Deutschland und Österreich seit den Fünfzigerjahren mit großer Zustimmung der Bevölkerung etablierte Form des Sozialstaats Elemente der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt mit ihrer Integration der Gewerkschaften in die Solidargemeinschaft und ihrer Sicherung bezahlter Urlaubs- und Krankheitstage übernommen hat. Der Nationalsozialismus ebenso wie der postnazistische Fürsorgestaat wies „sozialistische“ Charakteristika auf.
Konservative wiederum stören sich dran, dass Aly statt von „den Nationalsozialisten“ von „uns“ spricht, weil der Nationalsozialismus keine traditionelle Diktatur – keine der Bevölkerung oktroyierten Fremdherrschaft –, sondern eine mörderische Form der Volksherrschaft gewesen sei. Er sei kein Gegensatz zur Demokratie, sondern deren Produkt gewesen. Doch auch Feministinnen und Katholizismus-Verächter können mit den Einsichten, die Aly in Wien polemisch kondensiert darbot, wenig anfangen: Mit der Tatsache zum Beispiel, dass die Nationalsozialisten „arische“ Frauen durch beispiellose Reformen der Ehe- und Familiengesetzgebung in der Zeit seit dem Angriffskrieg auf Polen ökonomisch emanzipierten, indem sie ihnen am Einkommen der eingezogenen Ehemänner orientierte Unterhaltszahlungen gewährten. Auch die Bevölkerungsmassen, die sich an den seit 1941 verstärkt stattgefundenen öffentlichen Deportationen und Plünderungen jüdischer Einrichtungen beteiligten, bestanden wegen der kriegsbedingten Abwesenheit von Männern zu einer großen Zahl aus Frauen.
Als Residuum von Widerstand oder zumindest partieller Renitenz in der deutschen Bevölkerung machte Aly – auch dies eine unpopuläre Einsicht – statt der kommunistischen Untergrundgruppen, die es auch gab, vor allem die Katholiken aus. Während die evangelische Kirche schon vor 1933 gegenüber den Nationalsozialisten nicht selten vorauseilenden Gehorsam an den Tag legte, habe sich der Katholizismus, wegen seiner das Sakrale als Geheimnis schätzenden religiösen Praxis, gegenüber volksgemeinschaftlicher Agitation als spröde erwiesen. Mit der Diagnose der nationalsozialistischen Liquidierung von Privatheit hing auch die Pointe zusammen, die Aly dem Abend gab: die These, dass das „Deutsche Reich“ sich als totaler und tendenziell suizidaler „Verbrechenszusammenhang“ beschreiben lasse, der sich nur durch Inkaufnahme kollektiver Selbstzerstörung aufrechterhalten ließ.
So wie sich mit Beginn des in der deutschen Bevölkerung anfangs sehr unbeliebten Kriegs im Osten die innenpolitische Volkswohlfahrtsökonomie als unfinanzierbar und die Volksgemeinschaft als „Gemeinschaft auf Pump“, als Verschuldungsge-meinschaft erwies, so schweißte Aly zufolge der „Bestialismus“ die Volksgemeinschaft, die ihn trug, als potenzielle Selbstmordgemeinschaft zusammen. Da die begangenen Verbrechen menschliches Maß immer stärker überschritten, erschienen alle, auch die nur passiv Beteiligten, als Komplizen, die einander deckten und füreinander logen. Notfalls mussten sie in den Tod gehen, um die drohende Strafe zu vermeiden oder wenigstens nicht zu erleben.
Diese Logik fasste Aly unter der Formel „Kraft durch Furcht“ zusammen. Dass es zu jenem Strafgericht nicht kam, dass vielmehr die westlichen Siegermächte die Bundesrepublik nach und nach als Teil der zivilisierten Staatengemeinschaft anerkannten, von denen der Staat, dessen Rechtsnachfolger sie war, sich verabschiedet hatte, ermöglichte die Form der Geschichtsschreibung, für die Aly steht. Moralischen Besserdeutschen ist sie heute ein Ärgernis.
Nota. - Die Tragödie Deutschlands war, dass sich das sozialdemokratische Pro-gramm der Zivilisierung des Kapitalismus, das doch allein dessen Zukunft sein konnte, aus den momentan gegeben Bedingungen - Versailler Kriegsschulden und halb demokratische und halb preußische politische Verfassung - nicht umsetzen ließ; nicht zuletzt aber wegen der historischen Kompromittierung der Sozialdemo-kratie mit der Konterrevolution. Parlamentarische Mehrheiten waren nicht möglich, und hätten auch kaum die ersten Wochen überstanden: Das Land steuerte auf den Bürgerkrieg zu, und das war nicht durch Kompromiss, sodern nur durch vorängige Entscheidung zu verhindern: durch einen Gewaltstreich.
Der Erste Weltkrieg war nicht wirklich durch Sieg und Niederlage zuende gegan-gen, sondern durch Erschöpfung auf beiden Seiten - wozu die Oktoberrevolution Revolution dort und die Novemberrevolutiom hier gehörten - auf die lange Bank geschoben worden. Das deutsche Kapital hatte gegen England - wer redete noch von Frankreich! - seinen Platz an der Sonne nicht erkämpfen können. Doch Eng-land war nur mit amerikanischer Hilfe um Haaresbreite davongekommen und war seither Schuldner der Vereinigten Staaten.
Das deutsche Kapital konnte nur auf einen zweiten Waffengang hoffen, der die Ergebnisse des ersten korrigieren würde und den von England verwirkten ersten Platz auf dem Weltmarkt für Deutschland freimachen konnte.
Dem stand zweierlei im Wege: die unvollendete und immer dringlichere Revolution in Deutschland und der Aufstieg der neuen Supermacht auf der andern Seite des Atlantik. Wem von den Herrschenden nicht der eine Gesichtspunkt reichte, den Nationalsozialismus zu fördern, den überzeugte der andere.
So kam Hitler an die Macht; stilgerecht durch eine Parlamentsintrige und ohne alle Ergreifung.
Gesellschaftspolitisch war Hitlers Volksstaat nicht viel was anderes als Franklin D. Roosevelts New Deal in Amerika, dem nur die Vorgeschichte seiner Demokrati-schen Partei mit ihrer rassistischen und regionalistisch-populistischen Tendenz im Wge stand - dem die Republikaner traditionell als antirassistische, rechtsstaatliche und zentralistische Alternative entgegen standen.
Das musste Roosevelt umkehren. Ohne die Great Depression und die folgende Weltwirtschaftskrise wäre ihm das nie gelungen. Anstelle der Masse der Farmer im Mittelwesten galten ihm und seinem Vordenker John Dewey die Industriearbeiter als the People, ihr Populismus war nicht klassenkämpferisch, wohl aber klassenpo-litisch motiviert: der Aufstieg der Industriegewrkschaft CIO wurde zu ihrem Rückgrat.
Aber ohne Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg und den daraus folgenden Industrieboom wäre das Experiment jämmerlich gescheitert. Nun nämlich hatte die Zentralregierung in Washington alle Mittel in der Hand, Big Business in ihren Tross zu zwingen, indem sie ihnen Profite ermöglichte, von denen selbst Amerikaner bis dahin nur träumen konnten.
JE
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