aus nzz.ch, 11. 12. 2024 Die
genderneutralen Ampeln wurden in London anlässlich des Christopher
Street Day 2016 rund um den Trafalgar Square installiert. zu Männlich; zu öffentliche Angelegenheiten
Die Kultur der Wokeness neigt sich dem Ende zu – und hinterlässt einen politischen Flurschaden, der kaum zu überblicken ist.
Die Woke-Bewegung hat die Welt nachhaltig verändert. Zum Schlechteren. Jetzt ist sie auf dem Rückzug, aus vielen Gründen.
In den vergangenen vier Jahrzehnten hat sich eine gesellschaftliche, wirtschaftliche, kulturelle und politische Bewegung zunächst langsam entwickelt, dann zugespitzt, in Wellen aufgetürmt und sich in einer Flut über den Westen ergossen. Und weil ihr kaum Widerstand entgegengebracht wurde, hat sie in den USA und in Europa Säu-len der Moderne schwer beschädigt und bisweilen zum Einsturz gebracht, insbe-sondere Rationalität und Wissenschaft, Individualismus und Humanismus.
Die Rede ist von der Woke-Bewegung. Die Geschichte des Begriffs (dt. «aufge-weckt») lässt sich nicht mehr genau nachverfolgen. Am wahrscheinlichsten ist, dass er einem Lied der amerikanischen Soul-Sängerin Erykah Badu entnommen ist.
In jedem Fall bündelt er Verhaltensweisen, politische Überzeugungen und gesellschaftliche Forderungen, die auf die akademischen Aufsätze der amerikanischen Gender-Theoretikerin Judith Butler und ihrer Kollegin Kimberlé Crenshaw zurückzuführen sind. Was an den Universitäten Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre seinen Ausgang nahm, kulminierte in Aktivismus wie den «Black Lives Matter»-Protesten, vor allem aber in einer Geisteshaltung, die verschiedenste gesellschaftliche und politische Bereiche durchdrang.
Nun, am Ende des Jahres 2024, da sich in Europa, Lateinamerika und den USA Regierungen abzeichnen oder konstituiert haben, die sich einig in der strikten Ablehnung der Woke-Ideologie sind, lässt sich der Bruch der Flutwelle an vielen Markierungen feststellen. Und mancherorts zieht sich die Flut langsam wieder zurück.
Sie oder er?
Ein paar Beispiele: Selbst Amerikas wichtigste Woke-Ideologin in der Politik, die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, gibt in ihren öffentlichen Biografien nicht länger ihre Pronomen an. Die Notierung von «she/her» (sie/ihr) oder auch «they/them» (geschlechtsneutraler Plural) oder kaum mehr nachvollziehbaren Neologismen wie «ze/zir/zirs» (gedacht insbesondere für Transsexuelle) in Profilen, E-Mail-Signaturen oder Biografien galten lange Jahre als Ausweis des besonders «aufgeweckten» Daseins.
Zahlreiche Konzerne, darunter der grösste Autohersteller der Welt, Toyota, schaffen «Diversity, Equity and Inclusion» (Diversität, Gleichheit, Inklusion), den wirtschaftlichen Auswuchs der Woke-Bewegung, weitgehend ab und machen das auch öffentlich.
Mehrere Länder schaffen Gesetze, um Operationen, die das Geschlecht verändern, zumindest bei Kindern und Jugendlichen zu verbieten oder strengstens zu regulieren. Die ansteigenden Zahlen dieser Operationen waren der wohl dramatischste Effekt der Woke-Zeit.
Und in dieser Woche berief Donald Trump Harmeet Kaur Dhillon zur stellvertretenden Justizministerin. Dhillon ist eine harte Kämpferin gegen die Woke-Ideologie. Wo die Welle nicht zurückrollt, wird sie zurückgedrängt. (Und auch darin besteht eine Gefahr, denn insbesondere dem Trump-Team ist zuzutrauen, dass es nicht aufhört, wenn eine Normalität ohne Woke-Kultur erreicht ist.)
An der Spitze des Zeitgeistes
Jetzt kommt jedenfalls die Zeit, den Schaden zu begutachten. In Anbetracht der etlichen Vertreter der Wokeness, die in unzähligen Videoclips bewiesen haben, dass sie viel Meinung, aber keinerlei Ahnung haben, wenn es um Grammatik, Pronomen und Sternchen mitten in Worten geht, könnte man meinen, es sei mit einem verächtlichen Kopfschütteln getan – was haben diese Menschen schon anrichten können?
Das Gegenteil ist der Fall: Wirtschaftlich sind Milliarden vernichtet worden. Gillette, Hersteller von Rasierapparaten, meinte, sich in Anzeigen um «toxische Männlichkeit» statt um Bärte kümmern zu müssen. Die Kunden wandten sich ab. Der Mutterkonzern Procter & Gamble musste Milliarden Dollar abschreiben. Natürlich gibt es, wie immer, Streit darüber, ob der Schaden allein dem Schritt in die woke Richtung zuzurechnen ist oder auch andere Ursachen hatte.
Walt Disney mischte sich in die Gesetzgebung ein, produzierte Filme, in denen Hautfarben und Geschlechter bewusst gegenteilig zur bekannten verfilmten Geschichte verteilt wurden. Millionen Kunden lassen den Konzern links liegen. Anheuser Busch bewarb Amerikas damals beliebteste Biermarke Bud Light im April 2023 mit einem Transgender-Star, im August war der Absatz so weit gefallen, dass die Firma den Spitzenplatz verlor. Ähnlich erging es Goodyear, Victoria’s Secret und vielen anderen Firmen.
Wie konnte das passieren? Es waren erstaunlicherweise CEO, die in der Woke-Zeit besonders rückgratlos auftraten und versuchten, sich an die Spitze des Zeitgeistes zu setzen, indem sie Unternehmenswerte veränderten und HR-Abteilungen anwiesen, weniger auf Qualifikation als auf Sexualität, Geschlecht und Hautfarbe von Bewerbern zu achten. So kamen zahlreiche unqualifizierte Personen zu Lohn und Brot, während sowohl die besseren Bewerber als auch der Wert der Firma das Nachsehen hatten.
Menschenrechte sind Menschenrechte
Die Rückgratlosigkeit der Wirtschaftschefs lässt sich exemplarisch an Mark Zuckerberg beobachten, der als einer der Ersten seine Firma Facebook behaupten liess, es gebe bis zu 70 verschiedene Geschlechter; diese konnten sich seine Kunden auf Facebook auch zuschreiben. Das zeitigte einen enormen normativen Effekt: Warum kann man nicht auch im Personalausweis sein Geschlecht erfinden? Heute stellt sich derselbe Mann mit Trump gut – Prinzipienlosigkeit als Geschäftsgrundlage.
Kulturgüter wurden oder werden attackiert, teilweise zensiert, als lebte man in einer Diktatur. Legende sind die Attacken auf klassische Lektüren von «Herr der Fliegen» bis «Die Abenteuer von Tom Sawyer», weil Worte nicht mehr in den Sprachgebrauch passen und den Lesern die Fähigkeit zur Reflexion älterer Texte abgesprochen wurde oder weil die Autoren urplötzlich als «nicht transfreundlich» galten, wie Joanne K. Rowling, die durch und durch feministische Autorin von «Harry Potter». Bisweilen traf es gerade Bücher, die sich gegen Rassismus richten, wie zum Beispiel «Wer die Nachtigall stört» von Harper Lee.
Politisch ist der Schaden, den die Woke-Bewegung hinterlässt, noch kaum zu überblicken. Am gewaltigsten hat es die Menschenrechte getroffen, die einst als Übereinkunft darüber gedacht waren, was man sich nicht antut. Das mächtig vorgetragene Statement «Trans Rights Are Human Rights», dem sich Politiker im ganzen Westen verschrieben haben, betont eine Banalität. Denn natürlich gelten Menschenrechte auch für Transsexuelle, siehe Artikel 2, in dem die allgemeine Gültigkeit festgeschrieben ist. Die Betonung dieser Banalität grenzt an eine Entwertung des Begriffs «Menschenrechte». Statt um Sklaverei- und Folterverbot ging es auf politisch höchsten Ebenen um die Frage, ob Männer aufs Damenklo dürfen und umgekehrt.
Welche Auswirkungen die politisch geschaffene Möglichkeit, sich jederzeit als Frau oder Mann zu definieren, für Frauenrechte und den Feminismus hat, sollten Feministinnen beantworten. Viele von ihnen, zumal diejenigen, die in ihrem Leben eindeutige Ungerechtigkeit hart und angestrengt bekämpft haben, wie Alice Schwarzer, sehen Wokeness als Angriff auf fast alles, was sie für Frauen erreicht haben.
Ideologisch getrieben
Kinder wurden besonders indoktriniert, sei es durch die «Lesungen» von sexualisiert auftretenden Transmenschen in Bibliotheken – so geschehen zum Beispiel in München – oder durch völlig neue Kinderbücher und Lehrmaterialien, die geschickt den Eindruck erwecken, Kinder zur Toleranz zu erziehen, und ihnen dabei tatsächlich komplexeste sexuelle Themen aus kleinsten gesellschaftlichen Gruppen wie zum Beispiel Transsexualität als zu bevorzugende Familienkonstellation vermitteln.
Heute klagen manche, die sich als körperlich verstümmelt erleben, darüber, wie sie als Teenager von ideologisch getriebenen Eltern, Psychiatern und Ärzten zu sogenannten geschlechtsangleichenden Operationen gebracht wurden; einige bereuen dies bitterlich. Wie viele, ist Gegenstand sich widersprechender Studien. Zahlen, die vorliegen, zeigen, dass Menschen, die sich der Operation unterzogen haben, etwa sieben bis acht Mal häufiger Suizidversuche als andere begehen, die Versuche enden fast zwanzig Mal häufiger mit dem Tod als in Kontrollgruppen.
Man sollte aus Respekt vor den Schicksalen aller Menschen, die sich in ihrem Geschlecht nicht sicher sind und womöglich psychisch und körperlich herausfordernde Phasen durchleben, nicht jede Operation als Fehler einer woken Gesellschaft, nicht jeden Tod als Auswirkung derselben zählen. Richtig ist allerdings, dass es eine direkte Linie vom Zeitgeist zu der stark zunehmenden Anzahl der Operationen gegeben hat. Laut dem Statistischen Bundesamt gab es 2021 in Deutschland 2598 Operationen zur Genitalumwandlung. Im Jahr 2007 waren es nur 419. Die Zahl steigt deutlich von Jahr zu Jahr.
Der richtige Gedanke
Warum das alles? Die Woke-Ideologie hat nicht nur im Akademischen Wurzeln, sondern auch in Bewegungen, die für Werte kämpften, die im Rückblick die Gesellschaft dramatisch verbessert haben – zum Beispiel in der Bürgerrechtsbewegung. Manches war zumindest zu Beginn gut gemeint. Dann radikalisierte sich die Woke-Bewegung.
Aus dem richtigen Gedanken, Schwache stützen zu müssen, wurde die Idee, Starke behindern zu müssen. Aus der nach Jahrzehnten endlich durchgesetzten Erkenntnis, dass Hautfarbe keine Rolle spielen darf, wurde die Idee, dass Hautfarbe (wieder) über vielem anderen stehen sollte. Aus «social justice» (soziale Gerechtigkeit) – dem Wert, den sich die Woke-Bewegung selber zuschreibt – wurde viel zu oft «social injustice».
In vielerlei Hinsicht ging es um Geld. Einige «Black Lives Matters»-Aktivisten stehen mittlerweile als Betrüger vor Gericht, sie haben Spenden in Millionenhöhe für sich abgezweigt. Für die meisten aber ging es darum, dazuzugehören, mitzumachen, beliebt zu sein. Nicht die fünf, sechs Prozent der Gesellschaft, die die Bewegung aktiv getrieben haben, haben ihren Erfolg herbeigeführt. Sondern die Millionen, die brav ins Mitmachen verfallen sind. Da unterschied sich die Wokeness nicht von anderen Bewegungen.
Nota. - Das reißt Sie nicht vom Hocker? Ja, das ist arglos gutgemeint. Es hieß einmal, glücklich sei eine Zeit, die keine Helden braucht. Doch unglücklich ist eine Zeit, in der die Stimme des gesunden Menschenverstands kindlich wirkt.
JE
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