Freitag, 20. Dezember 2024

Ein gutes Gehirn nimmmt sich die Zeit, die es braucht.

Visualisierung der neuronalen Aktivität eines Gehirns 
aus derStandard.at, 19. 12. 2024           Visualisierung der neuronalen Aktivität                 zu Jochen Ebmeiers Realien

Forscher messen unsere "Denkgeschwindigkeit" – es sind nur zehn Bits pro Sekunde
Ein Caltech-Team stellte fest, dass unser Gehirn bewusste Gedanken verblüffend langsam verarbeitet. Schlimmer noch: Echtes Multitasking gibt es auch nicht

von Thomas Bergmayr

Das menschliche Gehirn wird gerne als das komplizierteste Gebilde bezeichnet, das die Natur je hervorgebracht hat. Das mag durchaus stimmen, immerhin beherbergt es im Schnitt etwa 86 Milliarden Nervenzellen und ein Vielfaches davon an Verbin-dungspunkten. Allein deshalb ist kein existierender Supercomputer dazu in der Lage, was das Gehirn zu leisten imstande ist.

Umso erstaunlicher ist daher, was nun ein Forschungsteam des California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena, Kalifornien, herausgefunden hat: Trotz der unvorstellbaren Komplexität unseres Gehirns denken wir mit einer geradezu quälend langsamen Informationsrate von zehn Bits pro Sekunde.

Denken im Schneckentempo

Wir treffen Entscheidungen, versuchen ein Rätsel zu lösen, erinnern uns an Begebenheiten und stellen uns Dinge vor unserem geistigen Auge praktisch nur im Schneckentempo vor, während der Rest unseres Nervensystems und insbesondere unsere Sinnessysteme Informationen mit einer Geschwindigkeit von einer Milliarde Bit pro Sekunde verarbeiten. Warum das so ist, dafür haben die Forschenden allenfalls Hypothesen.

Für das Team um Markus Meister und Jieyu Zheng sind die neuen im Fachjournal Neuron präsentierten Erkenntnisse regelrecht paradox: Unser Verstand gibt uns manchmal das Gefühl, gleichzeitig mehrere Gedanken verarbeiten zu können, tatsächlich aber können wir nur auf einen Gedanken zur selben Zeit fokussieren – was macht das Gehirn, während es all die Abermilliarden Informationseinheiten filtert?

 

 

"Das menschliche Gehirn ist offensichtlich viel weniger beeindruckend, als wir vielleicht denken", sagte Meister. "Es ist unglaublich gemächlich, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen, und im Vergleich zu modernen technischen Geräten ist es lächerlich langsam." Selbst futuristische Technologien, wie sie beispielsweise Elon Musk mit seinem Unternehmen Neuralink gerade umzusetzen versucht, können diese Grenze nicht überwinden. "Auch wenn wir unser Gehirn direkt mit einem Computer verbinden würden, könnten wir Informationen nicht schneller austauschen als über ein Telefon", meinte Meister.

Zehn Bits, um die Welt wahrzunehmen

Für ihre Untersuchung sammelten Meister und Zheng einen gewaltigen Datenberg aus Jahrzehnten psychologischer und neurologischer Forschung und setzten Techniken aus dem Bereich der Informationstheorie ein. Das ernüchternde Fazit: Die menschliche Kognitionsgeschwindigkeit liegt konstant zwischen fünf und 20 Bit pro Sekunde, im Durchschnitt sind es zehn Bit pro Sekunde. Zum Vergleich: Eine herkömmliche WLAN-Verbindung schleust rund 50 Millionen Bit pro Sekunde durch. "Es ist eine extrem niedrige Zahl", sagte Meister. "In jedem Moment extrahieren wir nur zehn Bits aus den Billionen, die unsere Sinne aufnehmen, und nutzen diese zehn, um die Welt um uns herum wahrzunehmen und Entscheidungen zu treffen."

Diese Diskrepanz zwischen der Geschwindigkeit der Sinnesorgane und der kognitiven Verarbeitung wirft neue wissenschaftliche Fragen auf. Das Gehirn besteht aus etwa 86 Milliarden Neuronen, von denen ein Drittel in der Hirnrinde angesiedelt und für höhere Denkprozesse zuständig ist. Jede einzelne dieser Nervenzellen sind leistungsstarke Informationsprozessoren und können problemlos deutlich mehr als zehn Bits pro Sekunde an Informationen übertragen. Aber warum tun sie es nicht? Und warum haben wir so viele, wenn wir so langsam denken?

Die Illusion von Multitasking

Einer der spannendsten Aspekte der Studie ist die Erkenntnis, dass unser Gehirn die Illusion erzeugt, viele Denkaufgaben gleichzeitig zu bewältigen, während unser Bewusstsein die Informationen in Wahrheit selektiv filtert. Die Details unserer Umwelt, die uns vermeintlich so klar erscheinen, sind oft nichts weiter als Konstruktionen unseres Verstandes.

Daraus ergibt sich ein weiteres ungeklärtes Rätsel: Warum verarbeitet das Gehirn nur einen Gedanken nach dem anderen und nicht viele parallel, wie es unsere sensorischen Systeme tun? Eine Schachspielerin oder ein Schachspieler, die oder der sich beispielsweise eine Reihe von Zügen vorstellt, kann immer nur eine mögliche Abfolge nach der anderen in seinem Geist durchspielen und nicht mehrere gleichzeitig.

Nervenzellen des GehirnsDas menschliche Gehirn besteht aus rund 86 Milliarden Nervenzellen mit einem Vielfachen an Verbindungen. Warum wir dennoch so langsam und sequenziell statt parallel denken, könnte entwicklungsgeschichtlich begründet sein.

Die Antwort auf einige dieser Fragen könnte in der Entwicklungsgeschichte unseres Gehirns liegen, vermutet Meister. Die selektive Wahrnehmung könnte evolutionsbiologische Vorteile gehabt haben, sagte der Neurowissenschafter. Sie erlaubt es dem Gehirn, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, anstatt von der Fülle an Sinnesreizen überwältigt zu werden.

Nur ein "Gedankenpfad" auf einmal

Bisherige Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die frühesten Lebewesen mit einem Nervensystem ihr Gehirn hauptsächlich zur Navigation nutzten. Es ermöglichte ihnen, sich auf potenzielle Nahrung zuzubewegen und vor Raubtieren zu fliehen. "Wenn unser komplexes Gehirn auf diesen einfachen Systemen zur Verfolgung von Pfaden basiert, wäre es plausibel, dass wir deshalb immer nur einem 'Gedankenpfad' auf einmal folgen können", sagte Meister.

Das menschliche Denken könnte dementsprechend als eine Form der Navigation durch einen Raum abstrakter Konzepte betrachtet werden, glauben Zheng und Meister. Die Forschenden sehen angesichts der Entdeckung dieser "Geschwindigkeitsbegrenzung" im Gehirn und der fehlenden Fähigkeit zum gedanklichen Multitasking erheblichen Forschungsbedarf. Es sei vor allem notwendig herauszufinden, wo diese Ein-Gedanke-nach-dem-anderen-Prozesse in der Architektur des Gehirns kodiert sind.

Effiziente Datenverarbeitung

"Unsere frühen Vorfahren haben in einer ökologischen Nische gelebt, in der die Welt langsam genug ist, um das Überleben zu ermöglichen", schreiben die Wissenschafter in ihrer Studie. "Tatsächlich wurden die zehn Bits pro Sekunde offenbar nur in Worst-Case-Situationen benötigt", sagte Meister, "die meiste Zeit ändert sich unsere Umgebung in einem viel gemächlicheren Tempo."

Augenscheinlich liegt die wahre Genialität des menschlichen Gehirns also nicht in seiner Geschwindigkeit. Eine viel wichtigere Rolle dürfte in seiner Fähigkeit, Sinneseindrücke und Aufgaben zu priorisieren und Informationen effizient zu verarbeiten, liegen. In einer Welt, die immer schneller wird, könnte genau das unsere Überlebensstrategie sein.

Studie

Neuron: "The Unbearable Slowness of Being: Why do we live at 10 bits/s?"

 

Nota. - Hinter jedermanns Ohren gerschrieben: Denken ist nicht reagieren. 

Will sagen: Denken ist nicht der lineare Abkömmling von dem, was alle Tiere tun: auf Reize reagieren. Denken ist insbesondere reflektieren. Das ist, wenn das Gehirn sich gegen sich selbst kehrt und seine eigne Tätigkeit für einen Reiz nimmt  und auf ihn 'reagiert'. Und das setzt voraus, das es sein 'Selbst' bemerkt hat. Genauer be-trachtet handelt es sich wohl um ein und denselben Akt.

Das ist kein Trick, den sich die Individuen selber einfallen lassen, sondern ein Er-werb unserer Gattungsgeschichte: eine genetische Disposition. Daraus folgt eine Menge.
JE



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