aus spektrum.de, 27.12.2024 zu Geschmackssachen zu Jochen Ebmeiers Realien
von Manon Bischoff
Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.
Es
gibt eine Sache in der Mathematik, die mich regelmäßig verwirrt. Immer
wieder veröffentlichen Forschende Arbeiten mit neuen Erkenntnissen, die
allerdings darauf aufbauen, dass die riemannsche Vermutung richtig ist.
Sprich, die Fachleute nutzen die Vermutung bei dem Beweis eines anderen
Ergebnisses. Das Problem: Niemand weiß, ob die riemannsche Vermutung
wirklich korrekt ist. Seit mehr als 160 Jahren versuchen Mathematiker
sie zu beweisen – oder zu widerlegen. Erfolglos.
In einer Vorbesprechung zum Podcast »Geschichten aus der Mathematik«
habe ich mit meinem Kollegen Demian Nahuel Goos über dieses Phänomen
geredet. »Das ist doch total verrückt«, meinte ich damals. »Das ist ja,
wie wenn man anfangen würde, ein Haus zu bauen, ohne zu wissen, ob es
überhaupt Balken gibt, die stark genug sind, um es zu stützen.« Demian
lachte damals und erzählte mir die Geschichte vom Bau des Doms in
Florenz, Santa Maria del Fiore. Dort war genau das der Fall.
Der Dom sollte ein besonders imposantes Bauwerk werden
und Florenz damit andere Städte wie Venedig oder Pisa übertrumpfen.
Hauptattraktion sollte eine riesige Kuppel sein. Der Dom wurde im
15. Jahrhundert quasi fertig gestellt. »Quasi«, weil im Kirchenbau noch
ein riesiges Loch klaffte. Von der Kuppel fehlte jede Spur. Denn:
Niemand wusste, wie man so eine gigantische Dachkonstruktion
bewerkstelligen sollte. So wie die heutigen Mathematiker auf die
riemannsche Vermutung setzen, hatten auch die Bauherren im Mittelalter
in der Hoffnung begonnen, dass im Lauf der Zeit eine clevere Lösung
gefunden werden würde.
Und
tatsächlich gab es eine Person, die sich der Herausforderung stellte
und mit Kreativität und Einfallsreichtum gesegnet war: Filippo
Brunelleschi (1377–1446) – der noch nicht einmal gelernter Architekt
war, sondern Goldschmied. Der begnadete Handwerker entwarf nicht nur
eine Kuppel, die noch größer war als die ursprünglich geplante, sondern
legte auch den Grundstein für eine neue Form der Geometrie, indem er
seinen Zeichnungen Tiefe verlieh.
Bilder neu gedacht
Seit
Jahrtausenden beschäftigt sich die Menschheit mit Geometrie. Eines der
bedeutendsten Werke in diesem Gebiet, »Elemente«, stammt von dem antiken
griechischen Gelehrten Euklid, der im 3. Jahrhundert vor unserer
Zeitrechnung lebte. Darin formulierte er das Grundgerüst der Geometrie
- Postulat: Durch zwei Punkte in der Ebene lässt sich exakt eine Linie ziehen.
- Postulat: Eine Linie zwischen zwei Punkten lässt sich beliebig verlängern.
- Postulat: Es ist stets möglich, aus einem Punkt und einem vorgegebenen Radius einen Kreis zu zeichnen.
- Postulat: Alle rechten Winkel stimmen überein.
- Postulat: Zu jeder Geraden gibt es eine einzige Parallele mit festem Abstand.
Perspektive | Parallele Geraden treffen sich im Fluchtpunkt – das ist einer der zentralen Unterschiede zwischen der euklidischen und der projektiven Geometrie.
Genau diese Effekte wollte Brunelleschi in seinen Zeichnungen einfangen, um sie realistischer erscheinen zu lassen. Und zwar nicht so wie einige seiner Zeitgenossen in ihren Gemälden irgendwie nach Gefühl (weshalb manche Bilder aus der Zeit völlig falsche Größenverhältnisse aufweisen), sondern mit der nötigen mathematischen Stringenz. Die Mathematik hatte dem Architekten schon den Bau der beeindruckenden Kuppel in Florenz ermöglicht. Nun sollte das Fach ihm dabei helfen, die dreidimensionale Welt möglichst exakt in einem zweidimensionalen Bild darzustellen.
Brunelleschi
ging sogar so weit, dass er eines seiner Bilder vor einer Szene
platzierte, die er gezeichnet hatte, es herumdrehte und ein winziges
Loch hineinschnitt. Dann bat er Menschen, von der Rückseite des Bilds
durch das Loch auf die Szene zu blicken. Anschließend nahm er einen
Spiegel und führte ihn vor das Bild, damit er seine Zeichnung
reflektierte. Die Person, die immer noch durch das Loch sah, konnte
dadurch erkennen, wie realistisch Brunelleschis Darstellung war.
Ein mathematisches Grundgerüst
Die Kunstszene zeigte sich schnell beeindruckt von den neuen Techniken. Infolgedessen übernahmen einige Künstler die neuen Methoden und verfeinerten sie. Für die Mathematik war diese Entwicklung anfangs uninteressant – schließlich ist in unserer dreidimensionalen Welt Euklids Geometrie realisiert. Die perspektivischen Ansätze von Brunelleschi waren nur ein Hilfsmittel, um das Dreidimensionale realistisch in einer Ebene einzufangen.
Nicht
nur Brunelleschis Kollegen erfreuten sich an den neuen Methoden,
sondern auch er selbst. Er berücksichtigte die mathematischen
Erkenntnisse über seine Zeichnungen hinaus in seiner Architektur. Er hat
seine Bauten so konzipiert, dass sie perspektivisch harmonisch sind,
etwa durch ganzzahlige Proportionsbeziehungen. Das sieht man besonders
gut in der Basilica di San Lorenzo, einer weiteren Kirche in Florenz,
die als »Kirche der Medici« bekannt ist.
Zwischen
dem 17. und 18. Jahrhundert erkannten Mathematiker, dass das
perspektivische Zeichnen festen Regeln folgt, die sich durch die Sprache
der Mathematik einfangen lassen. Sie fingen deshalb an, ein neues
Regelwerk für diese Art der Geometrie aufzustellen – denn offensichtlich
gelten dort nicht mehr alle altbekannten Postulate von Euklid. Zum
Beispiel stellen die Fluchtpunkte so etwas wie einen unendlich fernen
Punkt dar: der, in dem selbst parallele Geraden sich treffen. Für eine
solche Situation stringente mathematische Regeln aufzustellen, erwies
sich als extrem komplexe Aufgabe. Deshalb wurde erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die so genannte projektive Geometrie begründet.
Um eine realistische Zeichnung anzufertigen, muss man nicht unbedingt Experte in der projektiven Geometrie sein. Da genügt es durchaus, die Regeln der Perspektive zu kennen, die Brunelleschi aufgestellt hat. Doch Kunst entwickelt sich ja weiter – inzwischen kommen in dem Bereich immer öfter Computer zum Einsatz. Und damit sie eine Szene wahrheitsgetreu darstellen, brauchen sie feste mathematische Anweisungen. In diesem Fall bieten sich die Methoden der projektiven Geometrie an. Die kommt ebenfalls bei Computerspielen zum Einsatz. Auch diese erzeugen zweidimensionale Bilder auf einem Bildschirm, die einer dreidimensionalen Welt ähneln sollen – so wie bei Brunelleschis Zeichnungen.
Eine große Herausforderung im Bereich der Informatik ist es aktuell, KI-Programmen ein solches geometrisches Verständnis beizubringen, damit sie ein räumliches Verständnis entwickeln. So sollen künftige Algorithmen aus zweidimensionalen Aufnahmen ableiten können, was sich in der dreidimensionalen Welt abgespielt hat. Mal schauen, wann sie Brunelleschis Methoden verinnerlicht haben.
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