Piranesi, Der runde Turm
aus nzz.ch, 15. 10. 2024 zu öffentliche Angelegenheiten
Die westliche Wert- und Weltordnung erodiert auf vielen Ebenen – die Zeit zum Gegensteuern läuft ab
Der
Westen befindet sich in einer intellektuellen und geistigen Krise:
Wissen wird nicht mehr verinnerlicht, Wahrheiten werden erfühlt,
Selbstwiderspruch stört nicht mehr, Diskursverweigerung nimmt zu. Es
sieht nicht gut aus für den Fortbestand von Freiheit und Demokratie.
von Dietmar Hansch
Der
Fortschritt der Menschheitsgeschichte basiert auf dem allmählichen
Erstarken der Rationalität. In der Moderne gewann der Geist der Vernunft
die Oberhand über die archaischen Instinkte, die unser Verhalten im
Dienste von Art- und Machterhal-tung seit Urzeiten prägten. Dank der
Aufklärung und mit den Mitteln von Revolu-tion und Reform gelang es den
europäischen Gesellschaften zunehmend, Eigen- und Gruppeninteressen den
Prinzipien von Moral und Gesetz zu unterstellen.
Die
Epochenwende von 1989 brachte mit dem Ende des real existierenden
Sozia-lismus einen Triumph des Freiheits- und Gerechtigkeitsgedankens,
was manche veranlasste, vom «Ende der Geschichte» zu sprechen. Danach
schien das Prinzip der wissenschaftsbasierten, rechtsstaatlich
verfassten liberalen Demokratie weltweit konkurrenzlos gesiegt zu haben.
Flexible Zusammenschlüsse
Während
der vormoderne Mensch fest in die Netzwerke von Clans und Stämmen
integriert war und sein Verhalten streng nach deren Erfordernissen
ausrichtete, de-finiert sich der moderne Mensch als Individuum, das seine
persönlichen Fähigkeiten zu entwickeln trachtet, einen analytischen
Geist ausbildet und sein Verhalten ratio-nalen Prinzipien unterwirft.
Diese modernen Individuen lösen sich in der Neuzeit aus den starren, auf
genetischer Verwandtschaft basierenden Sozialstrukturen, wer-den mobil
und bilden zunehmend Institutionen durch flexiblen und freiwilligen
Zusammenschluss nach den Erfordernissen des Geistes, in Form von
Städten, Zünften, Universitäten, Unternehmen, modernen Staaten.
Dieser
Prozess wurde entscheidend gefördert durch die Ehe- und Familienpolitik
der katholischen Kirche: Verbot von Viel- und Verwandtenehe, Förderung
der mo-nogamen Kernfamilie mit entsprechenden Erbschafts- und flexiblen
Wohnsitznor-men, Förderung einer geistig-religiös begründeten Identität.
Ebenso bedeutsam war die Förderung von Alphabetisierung und allgemeiner
Lesekultur durch den Prote-stantismus: Jeder Christ war angehalten, die
Bibel selbst zu lesen.
All
dies und der langsam in Gang kommende technologische Fortschritt traten
in ein Verhältnis wechselseitiger Verstärkung – mit tiefgreifenden
Konsequenzen für Gehirnfunktion und Psychologie. Selbstdisziplin und
Arbeitsethik verbesserten sich. Die Regeln von Logik und
Wissenschaftlichkeit wurden erkannt und gelernt.
Es
gelang zunehmend, den Denkraum von ausserrationalen Einflüssen wie
Instink-ten und Emotionen abzuschirmen. Durch Wissensaneignung entstanden
umfassen-de innere Modelle, welche die äussere Lebenswelt in immer mehr
Facetten abbil-deten und komplexe Abwägungsentscheidungen in Bezug auf
das Gesellschafts-ganze ermöglichten. Theoretische und diskursive
Kompetenz entwickelten sich: Dem entwuchs das Bewusstsein, dass der
Einzelne perspektivisch beschränkt ist und die Welt immer nur in
unvollständigen mentalen Modellen zu erfassen vermag, die niemals ein
absolut wahres Abbild der gesamten Realität liefern.
So
wurde es möglich, sich in den anderen hineinzuversetzen, um im
gewaltfreien Diskurs kreativ mit Meinungen umzugehen und sachlichen
Erkenntnisfortschritt zu erzielen.
In
dieser Entwicklung kam immer mehr zum Tragen, was die Psychologie als
Kohä-renzgefühl bezeichnet. Menschen geniessen kohärente Abläufe desto
mehr, je kom-plexer und stimmiger sie geraten. Finden lässt sich das
beispielsweise im Erleben einer Gruppe, die im Gleichtakt und unter
pulsierendem Licht zu Musik tanzt. Das gilt auch im Geistigen:
Philosophen geniessen die Eleganz ihrer Gedankenfiguren, Physiker
erleben ihre Theorien als schön. Solch subjektive Kohärenzorientierung
hat sich oft als guter intuitiver Wegweiser in Richtung objektiver
Wahrheit erwiesen.
Im
entwickelten Geist entsteht so eine intrinsische Motivation, die eigene
Kohärenz immer weiter zu steigern, Unverbundenes zu verbinden und
Widersprüche auszu-schalten. Kognitive Dissonanzen dagegen sind schwer
auszuhalten. Von einem Sinnzusammenhang getragen zu sein, füllt den
Menschen aus, macht ihn glücklich, ja sogar gesund.
Zeitalter der Unaufmerksamkeit
Die
Pflege dieses Geistes hat nun zwei ganz zentrale psychostrukturelle
Voraus-setzungen, die mit Mühe und Anstrengung verbunden sind. Es muss in
grossem Umfang Wissen eingelernt und verinnerlicht werden. Weiter
müssen die eingelern-ten Wissensteile im Inneren angepasst und kohärent
integriert werden, was oft eigenkreative Ergänzungen erfordert.
Diese
mühevolle und langwierige innere Arbeit kann nur gelingen unter der
Bedin-gung existenzieller Abgesichertheit, der Verfügbarkeit von Zeit und
der Pflege von Konzentration. Solches zu garantieren, ist die Aufgabe
von Lehrkräften und Bil-dungseinrichtungen auf allen Stufen.
Allerdings
ist es seit dem Siegeszug der Massen- und Konsumkultur, vor allem aber
seit dem Aufkommen des Internets um diese Bedingungen nicht mehr zum
Besten bestellt. Die Explosion digitaler Inhalte aller Art führt zu
einer dramatischen Ver-knappung der Ressource Aufmerksamkeit. Klicks
bedeuten im Cyberspace Geld, und diese werden durch Überreizung,
Zuspitzung und Emotionalisierung generiert, was zu einem Tsunami von
Ablenkung führt. Bewusst werden niedere biologische Instinkte
angesprochen, was Kinder und Jugendliche in die Tiktok-Sucht treibt. Auf
der Strecke bleiben die Seele und der Geist.
Doch
auch wer sich bemüht, seriös mit dem Internet umzugehen, begibt sich in
Gefahr: Die äussere Allverfügbarkeit des Wissens untergräbt die
Lernmotivation, immer weniger Wissen wird eingelernt und verinnerlicht,
Hektik und Ablenkung tun das ihre, um die innere Kohärenzbildungsarbeit
zu behindern.
Wohlstandsverwöhnung
schlägt Anstrengungsbereitschaft. Die zunehmend fehl-ende gesamthafte
innere Repräsentation der Welt führt zu thematischen Veren-gungen und zur
Unfähigkeit, komplexe Abwägungen in Graustufen zu treffen. Beides
fördert die Neigung zum weltanschaulichen Extremismus.
Die
Folgen haben sich schleichend in den letzten zwanzig Jahren entwickelt,
sie sind mittlerweile dramatisch, insbesondere bei Kindern und
Jugendlichen: Auf-merksamkeitsspanne, Konzentrationsfähigkeit und
Selbstbeherrschung nehmen ab. Das Verständnis komplexer Texte sinkt,
Jüngeren geht sogar die Grundfähigkeit für Lesen, Rechnen und Schreiben
ab. Psychische Störungen nehmen seit längerem stark zu.
In
den Geisteswissenschaften siegt zusehends Ideologie über Wissenschaft,
Schwarz-Weiss-Denken hält Einzug, was einen Rückfall in den vormodernen
Geist darstellt. Die Verabsolutierung von Opfer- bzw. Tätergruppen etwa
bedeutet eine Abkehr vom universalistischen Individualismus und die
Hinwendung zu Tribalis-mus, Clan- und Stammesdenken. Einzelaspekte, so
sie denn politisch genehm sind, werden aus dem Kontext gerissen und
fanatisch überhöht – etwa Fragen der Ge-schlechtlichkeit oder der
Sprache. Auch die Klimabewegung leidet unter einer ex-tremistischen
Verengung auf das Thema CO2-Reduktion, das in den Kontext
ganz-heitlicher Kosten-Nutzen-Rechnungen gehört, um es mit den Folgen in
anderen Bereichen abzugleichen: Energieressourcen,
Wirtschaftsentwicklung, Armutsbe-kämpfung, Gesundheitsversorgung.
Verloren
geht die Diskursfähigkeit, und es blüht der Narzissmus. Argumente
wer-den durch Gefühle ersetzt. Was sich gut anfühlt, ist wahr, wer es
anders sieht, wird beschimpft und ausgegrenzt. Während man für sich
selber grösstes Verständnis einfordert, versagt man dem anderen die
Empathie. Die Fähigkeit, seine Gefühls-welt von innen her, durch das
Einnehmen von Gegenperspektiven, zu modulieren, geht verloren.
Entsprechend laut wird der Ruf nach Schutz durch Regulierung und Gesetz.
Kognitive Dissonanz
In
den unterkomplexen Innenwelten werden offenkundige Selbstwidersprüche
entweder nicht mehr wahrgenommen oder nicht als störend empfunden: Im
Na-men von Antidiskriminierung werden gezielt neue Gruppen diskriminiert;
Queere stellen sich an die Seite von Terrororganisationen, die sie
steinigen würden; fremde Kulturen werden vergöttert, die eigene Kultur
wird verachtet; Antisemitismus kann es nur rechts geben, und
Frauenrechte gelten überall, nur nicht in Iran und Afghani-stan;
demokratisch gewählte Parteien werden im Namen der Demokratie aus dem
politischen Prozess verbannt. Gar nicht zu reden von dem, was in den
dunklen bis abgründig bösen Tiefen des Internets abläuft.
Die
Kultur des Westens erodiert auf vielen Ebenen, und das verbindende
Element ist die Selbstzerstörung des modernen Geistes, der die
Bedingungen seines Gedei-hens nicht ausreichend zu begreifen und
abzusichern versteht. In der Weltpolitik erleben wir schleichend den
Zusammenbruch der regelbasierten Weltordnung. Vor-moderne Kräfte wittern
Morgenluft: vom fundamentalistischen Islam über den chi-nesischen
Ultranationalismus bis zum revanchistischen russischen Imperialismus.
Sie alle riechen die Schwäche des Westens und haben längst einen
hybriden Krieg gestartet, dessen Wahrnehmung sich viele im Westen aus
Bequemlichkeit und Schwäche lieber verweigern.
Von
einem «Ende der Geschichte» kann keine Rede sein. Die aufgeklärte
westliche Welt muss vielmehr aufpassen, nicht selbst Geschichte zu
werden. Um dem vorzu-beugen, muss der Westen sich auf seine Herkunft
besinnen. Nur wenn wir verstehen, warum wir so erfolgreich geworden
sind, besteht die Chance auf eine geistige Renaissance und eine Rückkehr
in die Zukunft.
Dietmar Hansch
ist Arzt, Psychotherapeut und Publizist. Bis 2023 leitete er den
Schwerpunkt Angsterkrankungen an der Privatklinik Hohenegg in Meilen.
Nota. - Das geht ganz nüchtern an und man erwartet einen Beitrag des gesunden Menschenverstands. Doch nach und nach beginnts zu schwindeln, man denkt, man geräte in eine Parodie, und wer schon etwas betagter ist, fühlt sich vielleicht an den gottlob kurzlebigen Hoax von Lloyd de Mause's Psychohistory erinnert.
Es beginnt mit einer ganz plausiblen Phänomenologie des souveränen bürgerlichen Subjekts, doch schon, wer sich zum Lesen ein klein' bisschen Zeit nimmt, fragt sich: Wie und warum? Springt das Subjekt wie ein Virus nach und nach von einem Indi-viduum auf das andere über, war das Zeitalter der Vernunft sozusagen ein epidemi-ologisches Ereignis? Es wird zwar an einer Stelle ein überindividueller Akteur bei-läufig erwähnt - die katholische Kirche -, aber als gesellschaftliche Instanz wird auch sie nicht identifziert. Es ist wie bei Max Weber: Die bürgerliche Mentalität erschafft eine bürgerliche Gesellschaft.
Und die war gut, wissen Sie noch? Überall gesunder Menschenverstand, da war die Welt noch in Ordnung. Die Zeit des Kalten Kriegs, nehm ich an, denn mit dem En-de des Realexistierenden fing das Elend an: Mit dem Siegeszug der Massen- und Kon-sumkultur, vor allem aber mit dem Aufkommen des Internets ging alles den Bach runter: Wohlstandsverwöhnung
schlägt Anstrengungsbereitschaft, die
Kultur des Westens erodiert auf vielen Ebenen, und das verbindende
Element ist die Selbstzer-störung des modernen Geistes, der die
Bedingungen seines Gedeihens nicht ausrei-chend zu begreifen und
abzusichern versteht...
Ich reibe mir die Augen: Hatte sich der "moderne Geist" zwischendurch zu einem über individuellen autonomen Subjekt gemausert? Was ist aus ihm geworden, dass er nun sich selbst zerstört? Hat er sich seiner Schäfchen nicht genügend angenom-men, haben sie selber gar nicht Schuld?
*
Ach, er ist ja Psychologe... Dass die bürgerliche Gesellschaft das bürgerliche Subjekt hervorgebracht hat und dass es nunmal nicht über deren Schatten springen kann, darf er einkommensbedingt gar nicht in Erwägung ziehen.
Fehlt nur noch, dass er uns allen seine therapeutische Unterstützung andient.
JE