Donnerstag, 30. November 2023

Wer nicht zu uns gehören will, muss ja nicht kommen.

kwerfeldein

Wenn er momentan keine bessere Wahl hatte, muss er sich irgendwann später entscheiden. Wenns ihm auf Dauer nicht gefällt, soll er wieder gehen. Oder er muss in den sauren Apfel beißen und keinem andern die Schuld geben.

 

 

 

Konformismus gilt heutzutage als links und progressiv.

sz        zu öffentliche Angelegenheiten
Universität der Künste, postkolonial  

Es war eins, im öffentlichen Raum Widerspruch zu bekunden zu den dort vorherrschenden Meinungen. Ein anderes ist es, in Klausur Identität erlebbar zu machen. Das war früher ein Privileg der Rechten.



 
 

Mittwoch, 29. November 2023

Woran erkennt man Pseudowissenschaft?

eine Hand hält eine Glaskugel, in der die umgebende Landschaft in goldenem Sonnenuntergang auf dem Kopf dargestellt wird 
aus derStandard.at, 19. November 2023                                                                                           zu Philosophierungen
Pseudowissenschaften 
"Kepler glaubte ganz fest an die Astrologie"
Der US-Wissenschafter Michael D. Gordin im Gespräch über Karl Poppers Abgrenzungs-kriterium, gefährliche Pseudolehren und darüber, was dagegen getan werden könnte
 

Was unterscheidet Wissenschaft von Pseudowissenschaft? Michael Gordin geht nicht davon aus, dass es einfache und allgemeingültige Abgrenzungskriterien gibt. Der renommierte Wissenschaftshistoriker von der Princeton University nimmt in seinem neuen Buch Am Rande. Wo Wissenschaft auf Pseudowissenschaft trifft (2022) viele verschiedene Grenzwis-senschaften unter die Lupe, systematisiert sie und rekonstruiert ihre jeweilige Geschichte. Der 49-jährige Professor an der Princeton University gilt als einer der weltweit führenden Vertreter seines Fachs und hat zahlreiche Bücher über Wissenschaft in Russland und in der Sowjetunion, über Wissenschaftssprachen, die Geschichte des Periodensystems oder Ein-stein in Prag verfasst. Zudem schrieb er eine Monografie über Immanuel Velikovsky, der eine grenzwissenschaftliche Katastrophentheorie vertrat.

STANDARD: Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren neben vielen anderen Dingen auch mit sogenannten Pseudowissenschaften. Woher kam dieses Interesse?

Gordin: Das geht ziemlich weit zurück und begann im Grunde schon in der Mittelschule. Ich ging damals regelmäßig in die Bibliothek unserer Kleinstadt und las wahllos alle Bücher, die in der Abteilung Naturwissenschaft in den Regalen standen und die ich mit zwölf Jahren einigermaßen verstehen konnte. Da fanden sich Bücher über DNA ebenso wie solche über Ufos oder Bigfoot. Mir war damals klar, dass es einen Unterschied zwischen diesen Themen gibt. Ich wusste aber nicht, woran ich diesen Unterschied genau festmachen kann.

STANDARD: Haben Sie fast 40 Jahre später solche Unterscheidungskriterien gefunden?

Gordin: Nein, im Gegenteil. Je mehr ich mich in späteren Jahren mit dem Problem beschäftigte, desto schwieriger wurde es. Diese Frage, wie man zwischen zuverlässigen und unzuverlässigen Wissensansprüchen unterscheiden kann, ist ja im Grunde schon tausende Jahre alt – so alt wie der Versuch, die Natur zu verstehen. Natürlich wäre es sehr hilfreich, wenn wir eine einfache und saubere Methode hätten, um das aus der Wissenschaft herauszufiltern, was es nicht wert ist, beachtet zu werden.

STANDARD: Ein einflussreicher Vorschlag des Abgrenzungsproblems, der nach wie vor gern zitiert wird, stammt vom Philosophen Karl Popper.

Gordin: Richtig. Seine auf den ersten Blick kontraintuitive Unterscheidung zwischen einer wissenschaftlichen und einer nichtwissenschaftlichen Theorie besteht darin, dass erstere falsifizierbar ist – wie Einsteins Relativitätstheorie und die kühne Behauptung, dass eine große Masse wie jene der Sonne den Raum um sie krümmen würde. Das wurde 1919 anlässlich der Sonnenfinsternis bestätigt, was den damals 17-jährigen Popper nachhaltig beeindruckt hat. Für die Psychoanalyse oder den Marxismus würde diese Widerlegbarkeit hingegen nicht gelten. In den letzten Jahrzehnten haben Wissenschaftsphilosophen Poppers Falsifikationismus aber selbst quasi falsifiziert.


 

STANDARD: Was sind die wichtigsten Kritikpunkte?

Gordin: Aus meiner Sicht gibt es vor allem zwei Einwände: Erstens ist es im Detail schwer zu sagen, ob die Widerlegung einer Theorie tatsächlich gelungen ist. Nehmen wir an, Anton Zeilinger macht ein Experiment; sie wollen es wiederholen und erhalten ein anderes Ergebnis. Das kann aber ganz viele verschiedene Gründe haben. Grundsätzlich ist eine Theorie zudem oft nicht durch Einzelbeobachtungen zu widerlegen, was in der Wissenschaftsphilosophie als sogenannte Duhem-Quine-These bekannt ist. Zweitens behaupten mittlerweile auch die Kreationisten oder die Parapsychologen, dass ihre Theorien falsifizierbare Behauptungen aufstellen – weil auch die Kreationisten inzwischen Popper gelesen haben. Umgekehrt sind die Evolutionstheorie oder die kosmologische Theorie des Big Bang schwer in falsifizierbare Behauptungen zu bringen.

STANDARD: Warum wird Popper dennoch bis heute gerne als Autorität im Abgrenzungsproblem bemüht?

Gordin: Das hat damit zu tun, dass seine Theorie zumindest im englischsprachigen Raum Eingang in Schulbücher und Einführungsbücher in Biologie gefunden hat. Das geht wiederum darauf zurück, dass seine Theorie Anfang der 1980er-Jahre vom Obersten Gerichtshof der USA bei dessen Entscheidung, warum Kreationismus in den Schulbüchern nichts verloren hat, zitiert wurde. Während Poppers Abgrenzungskriterium also in den 1980er- und 1990er-Jahren unter Naturwissenschaftern und durch Schulbücher populär wurde, verlor es in der Wissenschaftsphilosophie etwa zur gleichen Zeit an Bedeutung.

STANDARD: Sie machen sich in Ihrem Buch für eine Historisierung der Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft stark und bringen dafür Beispiele von der Astrologie über die Parapsychologie bis zur Kryptozoologie …

Gordin: … wobei ich den Begriff Pseudowissenschaften nicht so gerne verwende, weil er von Vertretern der Wissenschaft oft als Kampfbegriff eingesetzt wird, um andere Leute schlecht dastehen zu lassen. Zudem waren bestimmte Wissensgebiete, die heute als Pseudowissenschaft bezeichnet werden, für lange Zeit mehr oder weniger legitime Teilbereiche der Wissenschaft.

STANDARD: Was zum Beispiel?

Gordin: Etwa die Astrologie oder die Alchemie. Die Astrologie war in der Renaissance definitiv noch eine Wissenschaft. Die meisten Astronomen waren damals auch Astrologen. Auch Galileo und Kepler beschäftigten sich damit, und Kepler glaubte fest an die Astrologie. Er war sogar Stadtastrologe von Graz.

STANDARD: Wann und wodurch wurde die Astrologie aus der Wissenschaft ausgegrenzt?

Gordin: Das war eine sehr langsame Entwicklung. Die Bedeutung der Astrologie begann sich mit der allmählichen Durchsetzung des kopernikanischen Weltbilds zu ändern. Damit stand nicht mehr die Erde im Zentrum, sondern die Sonne, was ein Problem für einen Gutteil der astrologischen Metaphysik wurde. Denn diese geht davon aus, dass wir im Zentrum des Universums stehen. So kam es, dass etliche Astronomen die Fragen der Astrologen und deren Annahmen über die Beeinflussung der Welt durch die Sterne für überholt hielten. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde die Astrologie zumindest in der westlichen Welt nicht mehr als seriös angesehen. Danach wurde von der Wissenschaft auch ganz bewusst eine Ausgrenzung der Astrologie betrieben.

STANDARD: Dennoch lebt die Astrologie weiter.

Gordin: Ja, vor allem in Südasien ist die Astrologie als kulturelle Praxis nach wie vor weit verbreitet. Es gibt ja auch einen tatsächlichen Einfluss der Himmelskörper auf die Erde: Die Sonne versorgt uns mit Licht und Energie, der Mond sorgt für die Gezeiten, und in gewisser Weise stellt die Astrologie eine aus heutiger Sicht illegitime Erweiterung dieser Beeinflussungen dar. Bei anderen Grenzwissenschaften ist das anders: Der Anti-Atomismus beispielsweise, dem rund um 1900 auch noch Ernst Mach anhing, ist im Laufe des frühen 20. Jahrhunderts völlig verschwunden.

STANDARD: Wie gefährlich können Pseudowissenschaften für die Gesellschaft werden – angesichts der geschürten Angst vor Covid-19-Impfungen oder des Zweifels an der von Menschen verursachten Erderwärmung?

Gordin: Ich würde da sehr zwischen verschiedenen pseudowissenschaftlichen Behauptungen unterscheiden. Die Vorstellung, dass es in Loch Ness ein Ungeheuer geben könnte oder Bigfoot in den Rocky Mountains, halte ich für ziemlich harmlos. Aber es gibt auch Ideen, die für die Gesellschaft sehr gefährlich sind – etwa dass die Verbrennung fossiler Brennstoffe nichts mit dem Klima zu tun hat. Auf solche Ideen sollten wir in der Wissenschaft unsere Aufmerksamkeit richten und uns fragen, warum sich solche Ideen verfangen. Im Fall der Impfungen war es lange vor Covid-19 die unbegründete Sorge, dass Impfungen zu Autismus führen könnten. Solche Sorgen sollte man ganz konkret ansprechen.

STANDARD: Würde es helfen, die naturwissenschaftliche Bildung ganz allgemein zu stärken, um solchen Ideen das Wasser abzugraben?

Gordin: Ich bin diesbezüglich skeptisch. Dieser Ansatz ist erstens sehr ressourcenintensiv – und zweitens trägt er nicht unbedingt dazu bei, diese gefährlichen Ideen weniger wirkmäch-tig zu machen, wie Studien zeigten. Wichtiger wäre es, ein realistisches Bild der wissenschaftlichen Praxis und ihrer menschlichen Akteure zu vermitteln. Das Erstaunliche an der Forschung besteht für jemanden wie mich ja gerade darin, dass sie verlässliche Erkenntnisse produziert, obwohl sie von Menschen mit all ihren menschlichen Schwächen betrieben wird.

Bücher von Michael D. Gordin zum Thema Pseudowissenschaften:

"Am Rande. Wo Wissenschaft auf Pseudowissenschaft trifft". € 24,80 / 156 S., Konstanz University Press, Göttingen 2022

"The Pseudoscience Wars. Immanuel Velikovsky and the Birth of the Modern Fringe". € 16,40 (TB) / 291 S., The University of Chicago Press, Chicago 2012/13

 

Nota. - Gibt es Wissenschaft, oder gibt es nur Wissenschaften? Gibt es Wahrheit oder nur Wahrheiten? Ist Wissenschaft nicht das geregelte und systematischen Suchen nach Wahr-heit? 

Oder Warheiten? 

Jedenfalls gibt es mehr oder weniger genau umgrenzte Bereiche des Wissens, 'innerhalb derer wissenschaftliche Standards gelten'. Wenn also nicht Wissenschaft höchstselbst, so immerhin Wissenschaftlichkeit - das ist ja auch schon was. 

Was ist Wissenschaftlichkeit? Ein Verfahren, das nichts anderes gelten lässt, als was auf überprüften Gründen beruht

Wenn in jedem Einzelfall aller Gründe geprüft werden müsste, gäbe es... so viele  Gewiss-heiten, wie Begründungsketten geflochten wären; aber Wissenschaft gäbe es keine, man müsste in jedem Einzelfall wieder ganz neu anfangen.

Aus historisch-faktischen Gründen 'gibt es' indessen Beringe von als verwandt aufgefassten Gegenständen, deren Begründungsketten wie Bündel zusammengefasst erscheinen und ihren Geltungsbereich wie eine Plattform tragen. Die Praxis dieser jeweiligen Wissenschaf-ten bestünde in einer ununterbrochenen Vermittlungsbewegung zwischen dem Geltungs-rahmen der Begründungsreihen und dem Umfang der als begründet anzuerkennenden Gegenstände. Es wird nach beiden Seiten immer wieder zu Ausscheidungen kommen müssen, denn der Maßstab der je einzelnen Prüfung kann immer wieder nur Erfahrung sein.

Das ist, da sie keine Unterbrechung duldet, eine Fleißarbeit. Wissenslogisch problematisch ist sie aber unahängig von solcher Mühsal. Denn eine Begründungsreihe muss ja doch irgendwo auf ihren Grund stoßen, wo sie Halt findet. Dieser rückwärts allerletzte wäre zugleich, vorwärts betrachtet, der allererste Grund, und so betrachtet müssten müssten sich die jeweiligen Begründungsstränge aller einzelnen Wissenschaftsplattformen zu einem einzigen verwirken und vereinigen: so dass es vorwärts betrachtet so aussehen müsste, als hätten sie sich aus einem gemeinsamen Ursprung spezifiziert. 

Der wäre der gemeinsame Grund nicht nur aller Wissenschaft en, sondern des Wissens selbst. Gibt es einen solchen, so gibt es Wissen, und nur so auch Wissenschaft.

Und da muss man suchen. Die Suche nach dem Grund unseres Wissens ist historisch bekannt unter der Rubrum Vernunftkritik. Kant hat sie begründet, ist aber auf halbem Weg stehengeblieben. Wirkliches Wissen käme zustande nur durch Erfahrung. Die wiederum wäre aber nur möglich durch ein, wie er es nennt, apriorisches Wissen - ein kategorisches Vermögen, die Daten, die uns unsere Sinnesorgane liefern, zusammenzuschauen und zu ordnen nach unseren Zwecksetzungen. Es könne selber nicht aus der Erfahrung stammen, weil es ihr vorausgesetzt ist.  

An der Stelle hat er Halt gemacht. Danach käme nur Glaube.

Oder rationelle Spekulation! Kants Halbheit auf ihren Grund zurückzuführen, hat sich Fichte vorgenommen, der seine Lösung des Problems darum Wissenschafts-Lehre genannt hat. Seine Ausführung mag im Einzelnen mangelhaft sein, und vor allem ist er kurz vor Ende der Lösung sich selber von der Fahne gegangen. 

Die ausstehenden Mängel sind nicht unüberwindlich, und wer ernstlich Wissenschaft von Spökenkiekerei unterscheiden will, muss wohl doch bis an die Stelle vorrücken, die vor ihm schon erreicht war.
JE


Charles Webster Hawthorne.

Town view, Provincetown


Titel?


Horta, Azoren


 Lynmouth Cliffs


The Goldfish pond


A Poplar Grove


Towards evening.


The White Church


Plein-air Painting

Charles Webster Hawthorne, 1872-1930.

Obwohl er als der gilt, der in Amerika die Plein-air-Malerei eingeführt hat, hat er die Landschaftsmalerei selber nur am Rande betrieben.

6. 5. 17 

 

 

 

Dienstag, 28. November 2023

Gil Ofarim und der klare Strich.

                                                     zu öffentliche Angelegenheiten

Vielleicht hat man Gil Ofarim persönlich ja Unrecht getan und er hat sich wirklich beleidigt gefühlt. Zu nah lag der Verdacht, da habe sich einer nicht genügend beachtet gefühlt...

Er hätte sichs genauer überlegen sollen, und das ist der springende Punkt: Nach Jahrzehn-ten gebetsmühlenartiger Betroffenheit und pflichtschuldiger Entrüstung sind Vorwürfe wie Nazi und Antisemit dermaßen entwertet und verflacht worden, dass sie über Gerechte wie Ungerechte hinweggingen wie Regenschauer im April. Schließlich haben sich nur noch ein paar von uns Älteren - sagen wir mal: ein paar übriggebliebene Achtundsechziger - darüber geärgert; die Jüngeren und gar die mit Migrationshintergrund schon überhaupt nicht mehr.

In Sack und Asche gegangen sind wir ja gerade nicht, wir haben damals einen klaren Strich gezogen. In Sack und Asche gehen muss auch kein Nachgeborener. Aber den klaren Strich lassen wir uns von keinem von Euch in Frage stellen.

Schon gar nicht von einem Dazugezogenen, der zu uns gehören will. Und wer nicht will, der muss ja nicht.

Montag, 27. November 2023

Auf Nummer sicher.

                               zu öffentliche Angelegenheiten

Ich verstehe die Aufregung nicht. Alles ist besser, als wenn Kaczynski sagen könnte, man habe ihm den Sieg gestohlen. Kaczynski sei kein Trump? Ganz genau will das keiner wis-sen.

 

 

Charles Webster Hawthorne.


Green Sky Landscape, c. 1898

Town view, Provincetown


Titel?


Horta, Azoren


 Lynmouth Cliffs


The Goldfish pond


A Poplar Grove


Towards evening.


The White Church


Plein-air Painting

Charles Webster Hawthorne, 1872-1930.

Obwohl er als der gilt, der in Amerika die Plein-air-Malerei eingeführt hat, hat er die Landschaftsmalerei selber nur am Rande betrieben.
6. 5. 17

Über amerikanische Impressionisten.

 
John Singer Sargent, Corner of a Garden, c. 1870                                                                   aus Geschmackssachen

In meinen Einträgen zu den amerikanische Impressionisten hatte ich eine Beobachtung vergessen, die ich seither nachtragen wollte und dazu keine passende Gelegenheit fand. Dies hier ist sie.

Der Impressionismus hat die amerikanischen Malerei womöglich nachhaltiger geprägt als die europäische. Mit einer erheblichen Einschränkung: Es ist der Malstil, der sie geprägt hat, die Faktur, die Art und Weise, den Pinsel zu führen, das Flirren und Flackern der Farben. Das, was aber der ursprüngliche ästhetische Antrieb des Impressionismus war: den unmit-telbaren flüchtigen sinnlichen Moment 'einzufangen' und festzuhalten - die Beleuchtung! -, ist bei den Amerikanern nicht mehr sichtbar. Es ist vielmehr die Landschaft selbst, und zwar die amerikanische, die das Sujet der Bilder ausmacht, als die 'Impression'; oder genauer gesagt: Es ist weniger die Flüchtigkeit des Ästhetischen als vielmehr das Ästhetische als Gestalt.

Der 'Tonalismus' war eine spezifisch amerikanische Sonderform des Impressionismus. Aber was war das Spezifische daran? Das habe ich mich gefragt, und eben fiel mir in Singer Sar-gents obigen Gartenbild auf: Das wars. Es ist alles mehr auf Dauer gemeint als bei den Franzosen. In Frankreich mussten die Fauvisten mit dem Impressionismus gewissermaßen brechen; der Kanadier Tom Thomson konnte  an seine Impressionisten
bruchlos anknüp-fen. Er hat damit allerdings auch keinen Stil begründet, er blieb ohne Nachahmer.

7. 5. 15

Van Goghs letzte Wochen.


aus Musée d'Orsay             van Gogh Champ de blé sous un ciel orageux, Auvers-sur-Oise, juillet 1890            zu Geschmackssachen

Van Gogh in Auvers-sur-Oise
The Final Months
From October 03rd, 2023 to February 04th, 2024
Set to be presented at the Musée d’Orsay in fall 2023, this exhibition is the first to be devoted to the works produced by Vincent Van Gogh (1853-1890) during the last two months of his life, in Auvers-sur-Oise near Paris. The exhibition is the result of years of research on this crucial phase in the artist’s life, and will finally enable the public to appreciate its true importance.
 

 

Vincent Van Gogh arrived in Auvers-sur-Oise on May 20th 1890 and died there on July 29th following a suicide attempt. Although the painter only spent a little over two months in Auvers, the period was one of artistic renewal with its own style and development, marked by the psychic tension resulting from his new situation as well as by some of his greatest masterpieces.

Sorely tried by the various crises suffered in Arles and then at the asylum in Saint-Rémy, Van Gogh decided to settle near Paris and his brother Theo in an attempt to find fresh creative energy. The choice of Auvers had much to do with the presence there of Dr Gachet, a physician specializing in the treatment of melancholia who was also a friend of the impressionists, a collector and an amateur painter. Van Gogh moved to the Ragout Inn in the village centre and explored every aspect of the new world in front of him, while struggling with the many anxieties connected with his health, his relationship with his brother, and his place in the art world.


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 No exhibition has previously been exclusively devoted to this final yet crucial stage in his career. In just two months, the artist produced 74 paintings and 33 drawings, including some iconic works: Portrait of Dr Paul Gachet, The Church at Auvers, and Wheatfield with Crows. Comprising some forty paintings and around twenty drawings, the exhibition will highlight this period thematically: first landscapes featuring the village, portraits, still lifes, and landscapes depicting the surrounding countryside. It will also present a series of paintings in elongated double-square format, unique in Van Gogh’s body of work.

The exhibition is organized by the Public Establishment of the Orsay and Orangerie Museums in Paris, and the Van Gogh Museum in Amsterdam, which will present it from May 12th to September 3rd 2023 to mark its 50th birthday.

Taugt die russische Diaspora zur Speerspitze gegen Putin?


aus Tagesspiegel.de, 27. 11. 2023                                                                                 zu öffentliche Angelegenheiten

von Michail Chodorkowski,

... Der Sturz Putins ist die Voraussetzung für eine russische Demokratie. Aber wir brauchen auch eine Vorstellung davon, was danach kommt.

Ein Zerfall Russlands wäre ein schwerer Fehler. Es darf nicht in Kleinstaaten zerfallen, die über Atomwaffen verfügen und von lokalen Kriminellen wie Ramsan Kadyrow in Tschetschenien beherrscht werden.

In einem solchen Fall könnte ein neuer Autokrat an die Macht kommen, der das russische Imperium wiederherstellen will, und der entstehende militaristische und expansionistische Staat würde sich erneut gegen die Ukraine und den Westen wenden.

Russland muss eine parlamentarische Bundesrepublik werden

Putin darf aber auch nicht durch einen „guten Zaren“ ersetzt werden. Ein neuer starker Mann mit zentralisierter Macht würde bedeuten, dass Russland seinen Weg der Korruption, Stagnation und Unterdrückung im Innern und des Expansionsstrebens nach außen fortsetzt.

Deshalb unterstütze ich die Idee, eine demokratische parlamentarische Bundesrepublik zu schaffen. Wir brauchen eine von den Regionen Russlands getragene Bündnisstruktur und kein System, in dem ein starker Zar mit seiner Zentralmacht kleine Zaren in der Peripherie ermächtigt.

Einer der größten Verluste Putins ist der Exodus vieler der besten und klügsten Köpfe Russlands. Aber unsere Exilanten sind ein Schatz an potenziellen Revolutionären, die – befreit von der Unterdrückung eines Polizeistaates – die Kraft haben, Russland in eine Demokratie zu verwandeln.

Die Opposition im Ausland muss daher als politische Vertretung der Teile der russischen Gesellschaft anerkannt werden, die gegen Putin und gegen den Krieg sind. Dies würde dazu beitragen, dass oppositionell denkende Bürgerinnen und Bürger Russlands eine Stimme erhalten und auf das Bestehen eines alternativen Machtzentrums hinweisen.

Deutschland sollte die Entstehung einer Koalition der russischen Opposition konsequent unterstützen, statt dafür zu sorgen, dass verschiedene Kräfte durch den Konkurrenzkampf um finanzielle Unterstützung zersplittert bleiben.

Um die demokratische Opposition in Russland zu stärken, muss der Westen seine Sanktionen intelligenter gestalten. Eine selektive Aufhebung der Sanktionen, zum Beispiel durch die Vergabe von Visa, könnte den Kampf gegen das Regime in Moskau fördern. Zugleich darf es keinerlei Toleranz gegenüber Russen geben, die in Europa leben wollen, sich aber nicht von Putins Regime distanzieren.

Ich bin der Meinung, dass ein Ende der Diskriminierung russischer Bürgerinnen und Bürger, die sich vom Putin-Regime distanziert haben, der Kreml-Propaganda den Wind aus den Segeln nehmen würde und dazu beitragen könnte, dass weitere Teile der russischen Gesellschaft dem Regime ihre Unterstützung entziehen.

Deutschland sollte seine engen Beziehungen zur russischen Gesellschaft nutzen und darauf hinwirken, dass sich auch die US-Politik bewegt. Das bedeutet, Beziehungen zu regionalen Eliten, Vertreterinnen und Vertretern des Militärs und der Verwaltung aufzubauen.

Deutschland muss erkennen, dass Russland ein untrennbarer Teil Europas ist und durch keine Mauer der Welt zu isolieren ist. Russland bleibt für immer ein großes Problem Europas oder wird Teil der Lösung der Probleme Europas.

Im April 2023 haben viele Mitglieder der russischen Opposition die Erklärung der Demokratischen Kräfte Russlands unterzeichnet und den Westen zur Zusammenarbeit aufgerufen.

Es ist wichtig, das Putin-Regime zu bekämpfen, aber ebenso wichtig ist es, die Kräfte in der russischen Gesellschaft zu unterstützen, die den Imperialismus dieses Regimes ablehnen und es durch eine Demokratie ersetzen wollen.

Ein demokratisches und rechtsstaatliches Russland ist möglich, aber wir dürfen uns vor den Schritten, die es möglich machen, nicht fürchten.

Michail Chodorkowski, Unternehmer und Gründer des russischen Antikriegskomitees

 

Nota. - Chodorkowski sieht den Moment gekommen, wo er sich selbst ins Spiel bringen kann. Anders als zu Sowjetzeiten stellen die unter Putin emigrierten Russen eine beachtliche Meinungsmacht dar - nicht anders nämlich als unter der Herrschaft der Zaren. Auch damals war die größte Bastion der Regimegegner die Diaspora. 

Eine russische Bundesrepublik? Chodorkowski verkennt den bonapartistischen Charakter der Putinherrschaft. Gäbe es auf nationaler Ebene strukturierte politische und gesellschaft-liche Kräfte, die mit einander um die Vorherrschaft ringen, wäre Putin nie zu der Stellung gelangt, die er heute einnimmt; und hätte es womöglich nicht einmal gewollt. Doch das Er-be der Sowjetunion ist nunmal ein vertikal und horizontal zerstreuter Flickenteppich von tausenden größeren und kleineren Machtzentren, die miteinander ebenso versippt wie ver-feindet sind: Es ist der Bodensatz, der vom feudalbürokratisch-mafiösen Korruptionssys-tem der Nachstalinära übriggeblieben ist. Ein anderes als ein bonapartistisch lavierendes opportunistische Willkürregime bot sich gar nicht an.

Sollen nun die Politiker des Westens aus der russischen Emigration diejenigen Kräfte her-auspicken, die ihnen 'am repräsentativsten' vorkommen? Um Gottes Willen, damit haben sich die Amerikaner im Irak bis aus die Knochen blamiert! Die Unterstützung, die der Westen der russischen Opposition bieten kann, sind keine Geldkoffer in Hinterzimmern, sondern das, was der Sache nach seine Stärke ist: Öffentlichkeit. Kräfteverhältnisse wird ma dort nicht arrangieren können; wohl aber Ideen konfrontieren.

Die naheliegende Drehscheibe wäre Deutschland, da hat Chodorkowski Recht. Schon weil Deutschland in der Verteidigungsfront für die Ukraine auf Dauer das Scharnier bleiben dürfte; oder doch werden sollte.
JE



Sonntag, 26. November 2023

Logik ist eine praktische Wissenschaft.

                              zu Geschmackssachen, zu Philosophierungen

Die Grundlage aller ästhetischen Wissenschaften ist die Anthropologie und die allgemeine praktische Grundwissenschaft.

Anthropologie ist aus Psychologie und Physiologie zusammengesetzt. Die Bildungslehre ist ein Teil derselben. Es gibt eine reine und [eine] angewandte Anthropologie. Ihr erster Begriff ist - Menschheit. Durch sie werden aus der allgemeinen praktischen Grundwissenschaft die besonderen Teile abgeleitet - Ästhetik, Moral, Politik, Logik.

Die Logik ist auch eine praktische Wissenshaft. Das ist unleugbar.

_______________________________________________________________________Friedrich Schegel, Aufzeichnungen aus dem Nachlass, "Von der Schönheit der Dichtkunst III" [1795/96]; in Kulenkampff Hg., Materialien zu Kants 'Kritik der Urteilskraft'; Ffm.
1974, S. 195

 

 

Nota. - Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.  JE

Samstag, 25. November 2023

Wie das Gehirn unsern Geist erschafft.


aus heise.de, 10. 11. 2021: MIT Technology Review                                   zu Philosophierungen, zuJochen Ebmeiers Realien

Wie das Gehirn unseren Geist erschafft
Hirnforscher wissen: Das menschliche Wesen ist ein ständig neu entstehendes Konstrukt. Gehirn, Körper und Umwelt fließen zusammen.

Von Lisa Feldman Barrett

Was genau ist eigentlich unser Geist? Das scheint vielleicht eine etwas seltsame Frage zu sein, aber wenn man sie stellt, kommt man schnell zu der Antwort, dass es das ist, was uns zu uns macht – unser Bewusstsein, unsere Träume, unsere Gefühle und unsere Erinnerung. Lange Zeit glaubten Forscher sogar, dass diese Aspekte des Verstandes an bestimmten Stellen des Gehirns angesiedelt sind, z. B. eine Art Schaltkreis für Angst, in einer anderen Region das Gedächtnis und so weiter.

In den letzten Jahren hat die Wissenschaft jedoch gelernt, dass das menschliche Gehirn in Wirklichkeit ein Meister der Täuschung ist und dass unsere Erfahrungen und Handlungen seine innere Funktionsweise nicht offenbaren. Unser Geist ist in Wirklichkeit eine fortlau-fende Konstruktion aus Gehirn, Körper und der uns umgebenden Welt.

In jedem Moment, in dem wir die Welt um uns herum sehen, denken, fühlen und durch das Leben navigieren, setzt sich unsere Wahrnehmung aus drei Komponenten zusammen. Eine davon sind die Signale, die wir von der Außenwelt empfangen, die so genannten Sinnesda-ten. Lichtwellen dringen in unsere Netzhaut ein und werden beispielsweise als blühende Gärten oder einen Sternenhimmel wahrgenommen. Luftschwingungen erreichen unsere Cochlea und unsere Haut und werden zu Stimmen und Umarmungen von geliebten Men-schen. Chemikalien gelangen in unsere Nase und unseren Mund und verwandeln sich in Süße und den Geschmack von Gewürzen.

Ein zweiter Bestandteil unserer Erfahrung sind Sinnesdaten von Ereignissen in unserem Körper, wie das Rauschen des Blutes in Venen und Arterien, das Ausdehnen und Zusam-menziehen der Lunge oder das Grummeln des Magens. Viele dieser Symphonie sind still und liegen außerhalb des Bewusstseins – Gott sei Dank. Wenn wir jedes innere Ziehen und Grummeln direkt spüren könnten, würden wir nie auf etwas außerhalb unserer eigenen Haut achten.

Eine dritte Zutat schließlich ist die Erfahrung der Vergangenheit. Ohne diese wären die Sinnesdaten um uns herum und in unserem Inneren ein bedeutungsloses Rauschen. Es wäre, als würden Sie mit den Klängen einer Sprache bombardiert, die Sie nicht sprechen, so dass Sie nicht einmal wissen, wo ein Wort endet und das nächste beginnt. Unser Gehirn nutzt das, was wir in der Vergangenheit gesehen, getan und gelernt haben, um Sinnesdaten in der Gegenwart zu erklären, die nächste Handlung zu planen und vorherzusagen, was als Nächstes kommt. Das alles geschieht automatisch und unsichtbar, schneller als wir mit den Fingern schnippen können.

Diese drei Zutaten sind vielleicht nicht die ganze Geschichte, und es gibt vielleicht weitere Wege, um andere Arten von Verstand zu schaffen – zum Beispiel über futuristische Maschi-nen, Augmented Reality oder Virtual Reality. Aber ein menschlicher Geist wird von einem Gehirn konstruiert, das in einer ständigen Unterhaltung mit einem Körper und der Außen-welt steht, in jedem Moment.

Wenn sich unser Gehirn erinnert, stellt es Teile der Vergangenheit wieder her und fügt sie nahtlos zusammen. Wir nennen diesen Vorgang "Erinnern", aber in Wirklichkeit ist es ein Zusammensetzen von Teilen. Tatsächlich wird das Gehirn dieselbe Erinnerung (oder, ge-nauer gesagt, das, was wir als dieselbe Erinnerung erleben) jedes Mal auf unterschiedliche Weise konstruieren. Es ist hier nicht die Rede von der bewussten Erfahrung, sich an etwas zu erinnern, etwa an das Gesicht des besten Freundes oder an das gestrige Abendessen. Wir sprechen von dem automatischen, unbewussten Prozess, einen Gegenstand oder ein Wort zu betrachten und sofort zu wissen, was es ist.

Jeder Akt des Erkennens ist Konstruktion. Wir sehen nicht mit den Augen, sondern mit dem Gehirn. Das Gleiche gilt für alle anderen Sinne. Das Gehirn vergleicht die jetzt eintref-fenden Sinnesdaten mit Dingen, die wir zuvor in einer ähnlichen Situation mit einem ähnli-chen Ziel wahrgenommen haben. Diese Vergleiche beziehen alle Sinne auf einmal ein, denn das Gehirn konstruiert alle Sinneseindrücke auf einmal und stellt sie als große Muster neu-ronaler Aktivität dar, die es uns ermöglicht, die Welt um uns herum zu erleben und zu ver-stehen.

Das Gehirn hat auch die erstaunliche Fähigkeit, Teile der Vergangenheit auf neuartige Art und Weise zu kombinieren. Sie geben nicht nur alte Inhalte wieder, sondern erzeugen neue. Wir können zum Beispiel Dinge erkennen, denen wir noch nie begegnet sind, wie ein Bild von einem Pferd mit Flügeln. Wahrscheinlich haben Sie Pegasus noch nie im wirklichen Leben gesehen, aber wie die alten Griechen können Sie ein Bild von Pegasus zum ersten Mal betrachten und sofort verstehen, was es ist, weil Ihr Gehirn auf wundersame Weise bekannte Begriffe wie "Pferd", "Vogel" und "Flug" zu einem kohärenten geistigen Bild zusammenfügen kann.

Das Gehirn kann einem vertrauten Objekt sogar neue Funktionen zuweisen, die nicht Teil der physischen Natur des Objekts sind. Computer können heute mit Hilfe des maschinellen Lernens ein Objekt problemlos beispielsweise als Feder klassifizieren. Aber das ist nicht das, was menschliche Gehirne tun. Wenn wir dieses Objekt im Wald auf dem Boden finden, dann ist es sicher eine Feder, die hübsch aussieht, aber für uns nutzlos ist. Aber für einen Autor des 18. Jahrhunderts ist es vielleicht ein Schreibgerät und für einen Krieger des Chey-enne-Stammes wiederum ein Symbol der Ehre. Und für ein Kind, das Geheimagent spielt, hingegen ein praktischer falscher Schnurrbart.

Zusammengefasst: Das Gehirn klassifiziert Objekte nicht nur auf der Grundlage ihrer phy-sischen Eigenschaften, sondern auch nach ihrer Funktion, danach, wie das Objekt verwen-det wird. Diesen Prozess durchläuft es jedes Mal, wenn man einen Zettel mit dem Gesicht eines toten Königs oder Präsidenen betrachtet und daraus dann sofort schließt, dass es sich um Geld handelt, das man gegen materielle Güter eintauschen kann.

Diese unglaubliche Fähigkeit wird Ad-hoc-Kategorienbildung genannt. Das Gehirn nutzt blitzschnell frühere Erfahrungen, um eine Kategorisierung zu bilden. Die Zugehörigkeit zu einer Kategorie basiert nicht auf physischen Ähnlichkeiten, sondern auf funktionalen, d. h. darauf, wie wir das Objekt in einer bestimmten Situation verwenden würden. Solche Kate-gorien werden als abstrakt bezeichnet. Ein Computer kann eine Feder nicht als Belohnung für indianische Tapferkeit "erkennen", weil diese Information nicht in der Feder enthalten ist. Es handelt sich um eine abstrakte Kategorie, die im Gehirn des Wahrnehmenden kon-struiert wird.

Sinne als eine Konstruktion verstehen

Computer können das nicht. Jedenfalls noch nicht. Sie können Objekte auf der Grundlage früherer Beispiele bereits bestehenden Kategorien zuordnen (ein Prozess, der als überwach-tes maschinelles Lernen bezeichnet wird), und sie können Objekte auf der Grundlage vor-definierter Merkmale, in der Regel physikalischer Art, in neue Kategorien einordnen (unü-berwachtes maschinelles Lernen).

Aber Maschinen erstellen keine abstrakten Kategorien wie "Gesichtsbehaarung für angeb-liche Spione" im Handumdrehen. Und schon gar nicht tun sie dies viele Male pro Sekunde, um alles in einer äußerst komplexen sozialen Welt zu verstehen und dann zu handeln.

Genauso wie das Gedächtnis eine Konstruktion ist, sind es auch die Sinne. Alles, was wir sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen, ist das Ergebnis einer Kombination von Din-gen außerhalb und innerhalb unseres Kopfes. Wenn wir zum Beispiel einen Löwenzahn se-hen, hat er Merkmale wie einen langen Stiel, gelbe Blütenblätter und eine weiche, etwas matschige Textur. Diese Merkmale spiegeln sich in den einströmenden Sinnesdaten wider. Andere Merkmale sind abstrakter, z. B. ob der Löwenzahn eine Blume ist, die man in einen Blumenstrauß steckt, oder ein Unkraut, das man aus dem Boden reißt. Es ist alles im Geist.

Das Gehirn muss auch entscheiden, welche Sinnesdaten relevant sind und welche nicht, in-dem es das Signal vom Rauschen trennt. Wirtschaftswissenschaftler und andere Forschende nennen diese Entscheidung das Problem des "Wertes".

Der Wert selbst ist ein weiteres abstraktes, konstruiertes Merkmal. Er ist den Sinnesdaten, die von der Welt ausgehen, nicht inhärent und kann daher in der Welt nicht erkannt werden. Der Wert ist eine Eigenschaft dieser Informationen in Bezug auf den Zustand des Organis-mus, der sie wahrnimmt – Sie selbst. Die Bedeutung des Wertes lässt sich am besten in einem ökologischen Kontext erkennen. Nehmen wir an, Sie sind ein Tier, das durch den Wald streift, und Sie sehen in der Ferne eine verschwommene Gestalt. Hat sie für Sie einen Wert als Nahrung, oder können Sie sie ignorieren? Lohnt es sich, Energie darauf zu verwen-den, es zu verfolgen?

Die Antwort hängt zum Teil vom Zustand Ihres Körpers ab: Wenn Sie nicht hungrig sind, hat die verschwommene Form weniger Wert. Sie hängt auch davon ab, ob Ihr Gehirn vor-hersagt, dass die Gestalt Sie fressen will.

Viele Menschen jagen nicht regelmäßig nach Nahrung, abgesehen vom Stöbern auf Märk-ten. Aber der gleiche Prozess der Werteinschätzung gilt für alles, was Sie im Leben tun. Ist die Person, die sich Ihnen nähert, Freund oder Feind? Ist der neue Film sehenswert? Sollten Sie eine Stunde länger arbeiten oder mit Ihren Freunden in eine Bar gehen oder vielleicht einfach nur ein wenig schlafen? Jede Alternative ist ein Handlungsplan, und jeder Plan ist selbst eine Einschätzung des Wertes.

Dieselben Schaltkreise im Gehirn, die an der Einschätzung von Werten beteiligt sind, sor-gen auch für unser grundlegendes Gefühl, das Sie als Ihre Stimmung kennen und das Wis-senschaftler als Affekt bezeichnen. Affektive Gefühle sind einfach: sich angenehm fühlen, sich unangenehm fühlen, sich aufregen, sich ruhig fühlen. Affektive Gefühle sind keine Emotionen. (Emotionen sind komplexere Kategorienkonstruktionen.) Der Affekt ist nur eine kurze Zusammenfassung der Einschätzungen Ihres Gehirns über den Stoffwechsel-zustand Ihres Körpers, eine Art Barometeranzeige. Die Menschen vertrauen darauf, dass ihr Affekt ihnen anzeigt, ob etwas für sie relevant ist oder nicht, d. h., ob die Sache einen Wert hat oder nicht. Wenn Sie z. B. das Gefühl haben, dass dieser Artikel absolut brillant ist, oder dass die Autorin verrückt ist, oder wenn Sie sich sogar die Mühe gemacht haben, bis hierher zu lesen, dann hat er einen Wert für Sie.

Gehirne haben sich entwickelt, um Körper zu steuern. Im Laufe der Evolution haben viele Tiere größere Körper mit komplexen internen Systemen entwickelt, die koordiniert und kontrolliert werden müssen. Das Gehirn ist so etwas wie eine Kommandozentrale, die diese Systeme integriert und koordiniert. Es sorgt dafür, dass notwendige Ressourcen wie Wasser, Salz, Glukose und Sauerstoff dorthin gelangen, wo und wann sie gebraucht werden. Diese Regulierung wird als Allostase bezeichnet; dabei werden die Bedürfnisse des Körpers vor-ausgesehen und es wird versucht, sie zu erfüllen, bevor sie entstehen. Wenn Ihr Gehirn seine Arbeit gut macht, erhalten die Systeme Ihres Körpers durch die Allostase die meiste Zeit über das, was sie brauchen.

Um diesen kritischen metabolischen Balanceakt zu vollbringen, unterhält Ihr Gehirn ein Modell Ihres Körpers in der Welt. Dieses Modell umfasst bewusste Dinge, wie das, was Sie sehen, denken und fühlen, Handlungen, die Sie ohne nachzudenken ausführen, wie z. B. das Gehen, und unbewusste Dinge, die sich Ihrem Bewusstsein entziehen. Ihr Gehirn modu-liert zum Beispiel Ihre Körpertemperatur. Dieses Modell steuert Ihre Wahrnehmung, ob Ihnen warm oder kalt ist, automatische Handlungen wie das Gehen in den Schatten und unbewusste Prozesse wie die Veränderung des Blutflusses und das Öffnen der Poren. In jedem Moment errät Ihr Gehirn (auf der Grundlage früherer Erfahrungen und Sinnesda-ten), was als Nächstes innerhalb und außerhalb Ihres Körpers geschehen könnte, bewegt Ressourcen, setzt Ihre Handlungen in Gang, erzeugt Ihre Empfindungen und aktualisiert sein Modell.

Dieses Modell ist Ihr Verstand, und die Allostase ist sein Kern. Ihr Gehirn hat sich nicht entwickelt, um zu denken, zu fühlen und zu sehen. Es hat sich entwickelt, um Ihren Körper zu regulieren. Ihre Gedanken, Gefühle, Sinne und anderen geistigen Fähigkeiten sind die Folgen dieser Regulierung.

Da die Allostase für alles, was Sie tun und empfinden, von grundlegender Bedeutung ist, überlegen Sie, was passieren würde, wenn Sie keinen Körper hätten. Ein Gehirn, das in einem Bottich geboren wird, hätte keine Körpersysteme zu regulieren. Es hätte keine Körperempfindungen, denen es einen Sinn geben könnte. Es könnte keinen Wert oder Affekt konstruieren. Ein körperloses Gehirn hätte also keinen Geist. Ich behaupte nicht, dass ein Geist einen Körper aus Fleisch und Blut braucht, aber ich behaupte, dass er so etwas wie einen Körper braucht, voll von Systemen, um sich in einer sich ständig verän-dernden Welt effizient zu koordinieren. Ihr Körper ist Teil Ihres Geistes - und zwar nicht auf eine hauchdünne, metaphorische Weise, sondern auf eine sehr reale Art und Weise, die das Gehirn verdrahtet.

Ihre Gedanken und Träume, Ihre Emotionen, ja sogar Ihre Erfahrung, die Sie jetzt, da Sie diese Zeilen lesen, machen, sind Folgen einer zentralen Aufgabe, die Sie am Leben erhält und Ihren Körper durch die Konstruktion von Ad-hoc-Kategorien reguliert. Höchstwahr-scheinlich nehmen Sie Ihren Verstand nicht auf diese Weise wahr, aber unter der Haube (im Inneren des Schädels) geschieht genau das. (bsc)

Lisa Feldman Barrett ist Professorin für Psychologie an der Northwestern University und Autorin der Bücher "Seven and a half lessons about the brain" und "How emotions are made: The secret life of the brain".

 

Nota. - Soweit ich das beurteilen kann, ist dies eine gültige Zusammenfassung des State Of The Art. Ich möchte sie dringend Ihrer Aufmerksanmkeit empfehlen.

Anzumerken bleibt lediglich der Umstand, dass in der Geschichte der Geist sich nicht damit begnügt hat, seinen (!) Körper zu "allostasieren". Er hat mehr nicht nur gekonnt, sondern anscheinend auch gewollt.
JE, 15. 11. 21 

 

 

 

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