aus derStandard.at, 8. 7. 2023 zuJochen Ebmeiers Realien zu Philosophierungen
von Reinhard Kleindl
Was ist Wissenschaft? Wie lassen sich Fakten und Unwahrheiten auseinanderhalten? Der Streit darüber reicht bis in die Antike zurück. Er eskalierte vor fast genau vierzig Jahren, als der Wissenschaftstheoretiker Larry Laudan in einer denkwürdigen Arbeit konstatierte, dass es kein funktionierendes Kriterium gebe, um Wissenschaft von Pseudowissenschaft zu unterscheiden. Man tue gut daran, den Begriff der Pseudowissenschaft einfach nicht mehr zu verwenden. Und tatsächlich gibt es bis heute kein allgemein etabliertes Wissenschaftlichkeitskriterium. Doch die Frage, was Wissenschaft ist und was nicht, ist durch die Zunahme von Falschnachrichten im Internet so brisant wie nie zuvor.
Der Auslöser der Diskussion war ein Rechtsstreit. Im Jahr 1982 lag es an dem US-Richter William R. Overton, über die Frage zu entscheiden, ob die Lehre des Kreationismus eine Wissenschaft sei und laut US-Verfassung an Schulen im Osten des US-Bundesstaats Arkansas unterrichtet werden dürfe. Der Kreationismus behauptet, dass die Bibel ein Bericht über reale Ereignisse und die Welt vor wenigen tausend Jahren von Gott im Laufe einer Woche erschaffen worden sei. Der Philosoph Michael Ruse wurde als Sachverständiger hinzugezogen und argumentierte, Kreationismus sei keine echte Wissenschaft. Er präsentierte eine Reihe von Kriterien, um Wissenschaft von Pseudowissenschaft zu unterscheiden. Dabei berief er sich im Wesentlichen auf den österreichisch-britischen Philosophen Karl Popper, der sich intensiv mit diesem Problem auseinandergesetzt hatte.
Antwort auf Psychoanalyse
Der Philosoph und Forschungsmanager Harald Stelzer von der Universität Graz, der zu Karl Popper forschte, berichtet, wie es dazu kam. "Ausgangspunkt für Popper waren neben seiner Auseinandersetzung mit dem Wiener Kreis seine Erfahrungen, die er mit Lehren wie dem Sozialismus oder der Psychoanalyse gemacht hat", sagt Stelzer. Er habe gesehen, dass dort viele Theorien aufgestellt wurden, die er nicht für wissenschaftlich hielt. Popper wollte wissen, ob es bestimmte Eigenschaften gab, an denen man ihre Unwissenschaftlichkeit erkennen konnte.
Die Philosophengruppe des Wiener Kreises, mit der Popper im Austausch stand, hatte zuvor versucht, Wissenschaft dadurch zu kennzeichnen, dass ihr Wissen beweisbar, "verifizierbar" sei. "Popper hat gemeint, dieses Kriterium kann so nicht funktionieren, weil es dazu führt, nach Bestätigungen für Theorien Ausschau zu halten, anstatt sie einer möglichst umfassenden Kritik zu unterziehen", sagt Stelzer. Popper brachte die Frage, die ihn beschäftigte, mit einem Zitat seines Kollegen Bertrand Russell auf den Punkt: Ist der Verrückte, der sich für ein Rührei hält, nur abzulehnen, weil er sich in der Minderheit befindet? Oder gibt es andere Kriterien? Sein Vorschlag: Eine wissenschaftliche Theorie müsse prüfbar und widerlegbar sein. Sozialismus und Psychoanalyse seien das nicht.
Popper ging es letztlich um das Problem der Erkenntnis selbst. Stelzer betont, dass er die Hauptaufgabe der Wissenschaft darin sah, wahre Aussagen zu tätigen. Im Hintergrund schwinge auch ein Ethos mit: "Bei Popper läuft es darauf hinaus, dass man versuchen muss, auch eigene Theorien zu falsifizieren oder zumindest anzugeben, wie sie falsifiziert werden könnten. Und eine Theorie kann nie als gewiss angenommen werden, sondern sich nur bewähren", sagt Stelzer.
Poppers Kriterium erschien einfach und praktikabel, erntete aber schon bald Kritik. "Durch Thomas Kuhn und Paul Feyerabend ist Poppers Auffassung sehr stark unter Druck geraten", erzählt Stelzer. Am bekanntesten ist der Ausspruch des österreichischen Philosophen Feyerabend, Wissenschaft habe sich nie an Regeln gehalten: "anything goes".
"Es kam zur Entwicklung eines Konstruktivismus, der heute vor allem in den Sozialwissenschaften weit verbreitet ist", berichtet Stelzer. Was als Wissenschaft gilt, wird nach dieser Sichtweise überwiegend von Traditionen bestimmt und ist in ständigem Wandel. 1982 war Poppers Position also bereits unter Druck. Der Wissenschaftstheoretiker Laudan stieß sich an der Nutzung von Poppers Wissenschaftlichkeitskriterien vor Gericht und nahm das Ereignis zum Anlass, ein Jahr später das Ende aller Wissenschaftlichkeitskriterien auszurufen. Es gebe verlässliches und unverlässliches Wissen, aber der Begriff der Wissenschaftlichkeit sei sinnlos.
Die Unterscheidung zwischen seriöser Wissenschaft und hanebüchenem Unsinn scheint also unerwartet schwierig zu sein. Wie stellt sich das Problem in der Praxis dar? Prozesse wie jener in Arkansas sind selten, doch im Internet stellt sich die Frage nach Wissenschaftlichkeit in neuer Form. Das Geschäftsmodell von Onlinemedien sieht ein automatisiertes Verarbeiten von Information vor. Soziale Medien wie Facebook sollten eine von Algorithmen organisierte Plattform von User-Inhalten sein. Wissenschaftlichkeit ist keine Anforderung, es herrscht Meinungsfreiheit.
Der Anspruch ließ sich einige Jahre aufrechterhalten. Doch Meinungsfreiheit hört dort auf, wo durch Falschinformationen Schaden entsteht. Soziale Medien sahen sich gezwungen, Methoden einzuführen, um zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu unterscheiden. Facebook tut das nicht selbst, diese Aufgabe übernimmt etwa das International Fact Checking Network, ein Projekt des Poynter Institute, einer Journalismusschule in den USA. Doch wie gehen Faktenchecker vor?
Auch in Österreich gibt Factchecking-Plattformen wie den Verein Mimikama. Mimikama klärt auf seiner Website darüber auf, wie sich Falschnachrichten erkennen lassen. Wichtig seien eine Überprüfung der Seriosität der Quellen und das Einholen von Fachmeinungen. Doch wie lässt sich beurteilen, ob eine Quelle seriös ist, wenn es keine Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft gibt? Wer bestimmt, wer Expertenstatus erhält? Für das Rechtssystem ist die letzte Frage wesentlich. Gerichtlich beeidete Sachverständige müssen in Österreich Kriterien wie Mindestalter und Berufserfahrung erfüllen. Danach bestimmen zwei andere Sachverständige und ein Richter über die Aufnahme. Fachleute beurteilen also Fachleute. Mehr Schutz gegen Pseudowissenschaft gibt es nicht.
Eine bessere Lösung ist bislang nicht in Sicht. Poppers Suche nach einem allgemein akzeptierten Wissenschaftlichkeitskriterium gilt als gescheitert. Erst vor etwa zehn Jahren begannen, angesichts der zunehmenden Probleme der Gesellschaft mit Wahrheit und Wissenschaftlichkeit, neue Versuche, die Diskussion über allgemein akzeptierte Wissenschaftlichkeitskriterien wieder aufzunehmen. Ein Buch mit dem Titel "The Philosophy of Pseudoscience" aus dem Jahr 2013 brachte Leben in die Debatte. In Graz beschäftigt sich ein neuer Exzellenzcluster namens "Wissen in der Krise" mit aktuellen Themen im Zusammenhang mit der Wahrheit.
Stelzer betont, dass der Grundsatz der Falsifizierbarkeit in den Naturwissenschaften weiterhin einen guten Ruf hat. Und er erlaube bei Verschwörungstheorien oft, sie aufgrund ihrer Zusatzhypothesen auszuschließen. "Für Popper war das Herzstück der Wissenschaft als auch der Philosophie die Kritik und die Wahrheitssuche, verbunden mit der Tugend der intellektuellen Bescheidenheit", sagt Stelzer. Gewissheit könne man nie erlangen, aber aus Fehlern und Irrtümern lernen. "Was Popper für die gegenwärtige Debatte immer noch interessant macht, ist eben auch die Verbindung zwischen seiner Wissenschafts- und Erkenntnistheorie und seinen Überlegungen im Rahmen der politischen Philosophie."
Die Verteidiger der kreationistischen Position im Prozess von 1982 griffen die Kritik an Popper damals übrigens auf. Sein Wissenschaftlichkeitskriterium sei widerlegt, argumentierten sie. Kreationismus sei nicht weniger berechtigt als die Lehre von der Evolution der Arten. Richter Overton überzeugten sie damit nicht. Er folgte der Argumentation der Kritiker des Kreationismus. Sein Urteil enthält eine Reihe von Kriterien, die eine wissenschaftliche Theorie erfüllen muss, darunter prominent Poppers Forderung nach Falsifizierbarkeit. Kreationismus sei keine Wissenschaft, sondern eine religiöse Lehre. Larry Laudan fand das Urteil übrigens richtig, kritisierte aber die Begründung.
In Indien ging die Sache anders aus. Die Lehre von der Evolution wurde dort im Mai im Zuge einer Rückbesinnung auf nationale Werte vom National Council of Educational Research and Training aus dem Lehrplan genommen.
Nota. - Es gibt ein historisch-kulturelles Faktum namens Wissenschaft. Alle modernen Zivilisationen beruhen darauf und seine Existenz steht nicht in Frage. In Frage steht aber jedesmal neu, ob diese oder jene neue Aussage dazu zu zählen ist oder nicht. Es geht nicht darum, ex nihilo Wissenschaft überhaupt erst zu begründen, sondern darum, eine histori-sche Gegebenheit zu rechtfertigen - oder schlicht zu verwerfen: ob sie gelten kann, soll, darf oder muss.
Statt freihändig in der Luft zu fuchteln, um ein größeres oder kleineres Stückchen Grund zu erhaschen, auf dem man zunächst versuchsweise aufbauen könnte, um sich ahnungsvoll vo-ranzutasten, kann man getrost einen gegebenen Fundus Stück für Stück auf deren Gründe hin prüfen. Das wird in der Durchführung en détail noch genügend Verwirrung anrichten, aber man kann ruhig, systematisch und planvoll an die Arbeit gehen.
Als Wissenschaft bewährt sich, was der Prüfung standhält: Wissenschaft ist kritisch in ihrem Wesen.
Anything goes? Na warum nicht - solange sich's bewährt!
Das geht aber schon im technisch-praktischen Alltag einer Industriegesellschaft nicht lange gut. Wenn in Genua eine Brücke einstürzt - dann war sie wohl nicht wissenschaftlich genug konstruiert...
Wie ist es aber bei den Wissenszweigen, die schon ihrer Natur nach nicht im Labor einer praktischen Prüfung unterzogen werden können? Die Philosophie, könnte man einwenden, braucht ja keiner wirklich, da darf man der Phantasie ruhig alle Freiheit lassen. Aber was ist mit der Mathematik? Die ist das Unterpfand, das uns in der natürlichen Welt Wissenschaft-lichkeit allein verbürgt! Die gibts nur auf dem Papier, genauer gesagt in der Vorstellung, und doch soll auf ihr die Möglichkeit jeglicher Erfahrung beruhen.
Die experimentellen Wissenschaften gehen zuversichtlich von den Nichtfalsifizierbarkeit mathematischen Wissens aus, und man mag sie dafür nicht rügen. Es ist ein Wissen, das sich "in der Praxis" seit tausenden von Jahren immer wieder bewährt, das mag man getrost für wahr nehmen.
Wie aber das Zusammenleben freier Subjekte zu regulieren ist, wie gar jeder sein eignes Leben führen soll, lässt sich nicht errechnen. Es lässt sich nicht herausfinden, weil man es vorab in die Operation eingeführt haben muss.
Wer da einen sicheren Standort will, wird ihn sich aus freiem Willen zugrundelegen müssen. Der springende Punkt: Es mag dieser oder jener sein; aber unstreitig ist: Es muss ihn jeder selber legen. Und ganz unerwartet kommt uns grad an dieser Stelle die... Mathematik zu Hilfe. Denn unerachtet, ob sie zuerst aus räumlicher Konstruktion oder aus zeitlicher Ver-messung des Himmelsgeschehens, ob sie aus Geometrie oder aus Arithmetik hervorgegan-gen ist: Allen ihren Operationen steht ein Operierender vor, der etwas wollen muss, um etwas einsehen zu können.
So ist es mit Politik und Lebenszweck, mit Geometrie und Arithmetik: Welche Operation man anfängt, hängt davon ab, worauf man es abgesehen hat. Welchen Zustand man vor-findet, wird sich bei nötigem Fleiß berechnen lassen, und ebenso, welche Operationen erforderlich wären, um den erwünschten Zustand X zu bewerkstelligen. Nur welcher Zustand das wäre, wird immer wieder strittig sein - weil man ihn nicht messen, sondern werten muss.
JE
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen