Donnerstag, 31. Oktober 2024

Das Schema der Schemata.

Bunte Linien und flächige Muster vor Formeln
aus spektrum.de, 30. 10. 2024   Formeln, die unsere Welt beschreiben, weisen ein unerwartetes Muster auf  .  zu ... Realien

Zipfsches Gesetz
Unerwartete Muster in physikalischen Gleichungen entdeckt
Das Zipfsche Gesetz beschreibt eigentlich, wie Worte in Texten verteilt sind. Überraschenderweise folgen auch mathematische Symbole in physikalischen Formeln diesen Regeln.


In den 1930er Jahren stolperte der Linguist George Kingsley Zipf über einen unerwarteten Zusammenhang. Er untersuchte, wie häufig welche Wörter in verschiedenen Texten vorkommen – und fand dabei stets das gleiche Muster vor. Einfache, kurze Wörter wie »die«, »der« oder »und« tauchen doppelt so häufig auf wie etwas längere Begriffe wie »aber«, »doch« und »kann«. Dieses Potenzgesetz ist inzwischen als Zipfsches Gesetz bekannt und lässt sich in allerlei verschiedenen Sprachen beobachten. So macht im Englischen der Artikel »the« etwa sieben Prozent eines langen Textes aus, während das zweithäufigste Wort »of« ungefähr halb so oft vorkommt. Nun haben Forscher um Andrei Constantin von der University of Oxford das Zipfsche Gesetz auch bei mathematischen Symbolen in physikalischen Formeln gefunden. Ihre Ergebnisse haben sie im August 2024 in einer noch nicht begutachteten Arbeit veröffentlicht.

Constantin und sein Team haben dafür Formeln aus drei verschiedenen Quellen untersucht: »The Feynman Lectures on Physics«, einer Lehrbuchreihe des US-amerkanischen Physikers Richard Feynman aus den 1960er Jahren; der Wikipedia-Seite »List of scientific equations named after people« und der »Encyclopaedia Inflationaris«, einem Übersichtsartikel über das Gebiet der Inflation in der Kosmologie. Diese drei Quellen unterscheiden sich stark voneinander. Die Vorlesungen von Feynman decken ein breites Feld der Physik ab – von klassischer Mechanik und Elektrodynamik bis hin zu Quantenphysik – und enthält mehr als 100 Gleichungen, während die Wikipedia-Sammlung teilweise sehr spezifische und nicht allzu verbreitete Formeln beschreibt. Die »Encyclopaedia Inflationaris« stellt wiederum 71 verschiedene Potenziale vor, die unser Universum kurz nach dem Urknall auseinandergetrieben haben könnten.

Indem sie jedes mathematische Symbol und jede physikalische Größe einer Formel wie einzelne Wörter innerhalb eines Textes behandelten, haben die Forscher eine Form des Zipfschen Gesetzes vorgefunden. Dabei haben sie jedoch nur Formeln berücksichtigt, die keine Ableitungsoperatoren oder Integrale enthalten. Ihrer Analyse zufolge ist die Häufigkeit N der einzelnen Symbole in den ersten beiden Datensätzen proportional zu e-r/3 ≈ 0,72r, wobei r die dazugehörige Rangfolge beschreibt. Das heißt, das häufigste Symbol taucht etwa 1,4-mal öfter auf als das zweithäufigste und knapp doppelt so häufig wie das dritthäufigste. Die »Encyclopaedia Inflationaris« weist eine leicht unterschiedliche Gesetzmäßigkeit vor: Dort skaliert die Häufigkeit N mit e-r/4 ≈ 0,79r.

Die verbreitetsten Symbole in Formeln

Die am häufigsten verwendeten Symbole in allen Datensätzen sind Variablen wie Ort, Zeit oder Geschwindigkeiten, die 26 bis 31 Prozent der untersuchten Formeln ausmachen. Das zweithäufigste Symbol ist die Multiplikation, meist durch einen Punkt · ausgedrückt, gefolgt von Zahlenwerten wie 2, 3 oder π sowie der Division beziehungsweise einem Bruchstrich. Dass diese Symbole die häufigsten Vertreter sind, hat die Fachleute nicht überrascht. Doch dass sie in jedem der Datensätze dem Zipfschen Gesetz folgen, hatten sie nicht erwartet. »Selbst Operatoren, die nicht so häufig vorkommen – die Exponential- und die Logarithmusfunktion sowie die hyperbolischen und trigonometrischen Funktionen – folgen alle demselben Gesetz. Das ist überraschend«, sagte Constantin zu »New Scientist«.

»Wie beim Zipfschen Gesetz in der Linguistik sind die zu Grunde liegenden Mechanismen, die zu den beobachteten Mustern führen, unklar«, schreiben die Fachleute in ihrer Veröffentlichung. Einerseits könnten kulturelle Faktoren dazu führen, dass Menschen sowohl bei gesprochenen Sprachen als auch bei wissenschaftlichen Formulierungen denselben Mustern folgen. »Andererseits ist es verlockend zu glauben, dass die beobachtete Beziehung einen tieferen Aspekt der physikalischen Gesetze widerspiegelt – ein Gesetz über die physikalischen Gesetze selbst«, schreiben die Forscher. 

 

Nota. - Wie Sie's drehen und wenden: All die Formeln und Schemata sind ja wohl von heute lebenden Menschen erarbeitet worden, deren Wahrnehmungs- und Denk-apparate sich über Jahrmillionen Jahre unter denselben Bedingungen "unserer Welt" ausgebildet haben. Überraschend wäre nur, wenn ihnen strukturell nichts gemein-sam wäre.  

Mancher ist verlockt, darüberhinaus noch manch anderes zu glauben, einen intelli-genten Designer zum Beispiel; und manche sind nicht einmal Wissenschaftler.
JE 

 

 

Die Landkarte in meinem Kopf.

Illustrative Darstellung eines Labyrinths in Gehirnform 
aus spektrum.de, 30.10.2024         Das Gehirn erstellt Karten der Umgebung, anhand derer wir uns orientieren. So findet man auch dann den Weg, wenn man die genaue Abfolge der Abbiegungen nicht kennt.             zu Philosophierungen, zu ... Realien;

Wie das Gehirn Gedanken und Erinnerungen codiert
Orientierung: »Der innere Kompass dient als Blaupause für höhere Kognition«
Wie codiert unser Gehirn Gedanken und Erinnerungen? Neurowissenschaftler Christian Doeller weiß: Es nutzt dafür ein an anderer Stelle bewährtes System. Jenes zur räumlichen Orientierung.

Christian DoellerChristian Doeller | Der Psychologe und Neurowissenschaftler promovierte über die neurowissenschaftlichen Grundlagen des Lernens und forschte anschließend am University College London mit John O'Keefe am Ortszellsystem von Nagetieren. 2010 wurde er zum Associate Professor am Donders Institute for Brain, Cognition and Behaviour im niederländischen Nimwegen berufen. Seit 2016 ist er Professor für Neurowissenschaften am Kalvi Institute for Systems Neuroscience in Trondheim, das von den Nobelpreisträgern May-Britt und Edvard Moser gegründet wurde. 2018 wurde Doeller zudem Direktor der Abteilung für Psychologie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und seit 2019 ist er Professor für Psychologie an der Universität Leipzig. 2023 wurde er zum Vizepräsidenten der Max-Planck-Gesellschaft ernannt.

Welchen Zweck erfüllt dieses Gitter?

Als Ergänzung zu den Ortszellen, die ganz spezielle Stellen im Raum codieren, repräsentieren die Gitterzellen eine Art Metrik der Umgebung. Da verschiedene Gitterzellen, versetzt zueinander, unterschiedliche, sich teils überlappende hexagonale Muster erzeugen, kann das Gehirn mit Hilfe von zehntausenden Neuronen dieser Art Distanzen messen und die eigene Orientierung im Raum feststellen.

Für die Entdeckung der beiden Zelltypen gab es vor zehn Jahren, 2014, den Nobelpreis. Das norwegische Ehepaar May-Britt und Edvard Moser, das 2005 die Gitterzellen fand, erhielt ihn gemeinsam mit John O'Keefe vom University College London. Sie haben mit allen dreien zusammengearbeitet.

Ja. Ab 2004 habe ich meinen Postdoc am University College in London gemacht. 2016 bin ich dann zum Kalvi Institute for Systems Neuroscience im norwegischen Trondheim gekommen und dort zum Professor berufen worden. Die Mosers hatten das Institut 20 Jahre zuvor gegründet.

Genügt die Arbeit der Orts- und Gitterzellen, um sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden?

Es gibt noch eine ganze Menge anderer räumlich sensitiver Zellen im Gehirn, die uns beim Navigieren unterstützen. Die Kompasszellen, auf Englisch »head direction cells«, etwa zeigen die Richtung an, in die der Kopf gedreht ist – und damit die Laufrichtung. Die Geschwindigkeitszellen codieren die Laufgeschwindigkeit und die Grenzzellen die Distanz zu einer Wand. Die »object vector cells« wiederum geben an, in welcher räumlichen Position wir uns relativ zu Objekten in unserer Umgebung befinden. Alle zusammen bilden das Navigationssystem des Gehirns, das eine interne kognitive Karte erzeugt.

Die Zelltypen hat man allesamt bei Ratten oder Mäusen, also Nagetieren, entdeckt. Gibt es sie auch beim Menschen? Schließlich kann man hier in der Regel nicht so genau nachsehen.

Das stimmt. Bei Mäusen und Ratten kann man mit Elektroden die Aktivität einzelner Zellen erfassen. Und bei anderen Säugetieren wie Fledermäusen und Rhesusaffen wurden mit diesem Verfahren ebenfalls Zellen des Navigationssystems gefunden. Solche Einzelzellableitungen sind bei Menschen aber in der Regel nicht möglich, außer in seltenen Ausnahmefällen: wenn man etwa bei Epilepsiepatienten versucht, mit implantierten Elektroden den Herd der Krampfanfälle zu lokalisieren. Auf diese Weise haben Fachleute tatsächlich Ortszellen im menschlichen Hippocampus entdeckt. Wir arbeiten dagegen nicht invasiv, das heißt mit funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) oder Magnetoenzephalografie (MEG). Und auch damit haben wir Hinweise auf ein vergleichbares Navigationssystem beim Menschen gefunden.

TV-Tipp

»SCOBEL – Wie wir uns orientieren«

Christian Doeller im Gespräch mit Gert Scobel und weiteren Experten. Die Sendung entstand in redaktioneller Zusammenarbeit mit »Gehirn&Geist« und dem NeuroForum Frankfurt 2024 der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung.

Auf 3sat am 14.11.2024 um 21 Uhr.

Solche nicht invasiven Messmethoden haben ja meist eine sehr geringe räumliche Auflösung. Wie können sie dennoch Erkenntnisse zur Arbeit einzelner Neurone liefern?

Die fMRT erfasst die neuronale Aktivität tatsächlich nur indirekt über die Veränderung des Sauerstoffgehalts des Bluts. Man nennt das »hämodynamisches Signal«. Die heute gängigen Tomografen bilden Volumenelemente mit einer Kantenlänge zwischen einem und drei Millimetern ab. Selbst bei der höchstmöglichen Auflösung betrachtet man daher immer die mittlere Aktivität von zehntausenden Zellen. Möchte man nun neuronale Codes messen, was in der kognitiven Neurowissenschaft gang und gäbe ist, muss man mit Modellen arbeiten. Wir überlegen uns, wie die Aktivität einer ganzen Population von Nervenzellen aussehen könnte und wie sich das im hämodynamischen Signal widerspiegelt: Was zeigt der Kernspintomograf an, wenn 10 000 Zellen gleichzeitig feuern?

»Die funktionelle Magnetresonanztomografie ist die Methode der Wahl für unsere Forschung«

Wahrscheinlich passiert das eher selten, dass alle 10 000 Zellen in einem Kubikmillimeter Hirngewebe gleichzeitig feuern, oder?

Genau das ist die Schwierigkeit: wenn die eine Zelle etwas anderes macht als die benachbarte. Dann sehen wir womöglich gar keinen Effekt. Die Gitterzellen bieten aber den Vorteil, dass sie ein regelmäßiges Feuerverhalten aufweisen, also an vorhersehbaren Stellen im Raum aktiv werden. Über alle Neurone hinweg ist die Orientierung des Gittermusters konstant, und das können wir für die Analyse nutzen. Trotz aller Herausforderungen ist die funktionelle Magnetresonanztomografie die Methode der Wahl für unsere Forschung, sozusagen unser Arbeitspferd.

Es gibt zunehmend Hinweise darauf, dass das Navigationssystem im Gehirn noch ganz andere Aufgaben hat, als uns von A nach B zu führen. Welche?

Meine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissen-schaften in Leipzig und andere Teams gehen davon aus, dass die Hippocampus-formation das Orts- und Gitterzellsystem auch für völlig andere kognitive Bereiche einsetzt.* Ein Beispiel ist das Konzeptlernen. Wenn wir Dinge anhand gemeinsa-mer Eigenschaften gedanklich in Klassen oder Konzepte zusammenfassen, nutzt das Gehirn dafür eine räumliche Codierung. Wir sprechen auch von »kognitiven Räumen«. So stellt jede Eigenschaft eine Dimension dar, entlang derer sich ein kog-nitiver Raum aufspannt. Objekte von ähnlicher Beschaffenheit liegen in dieser men-talen Karte nah beieinander und solche, die sich stark unterscheiden, weit voneinan-der entfernt.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen wir mal Autos. Unser Wissen darüber ist multidimensional, das heißt, man kann Fahrzeuge entlang ganz verschiedener Dimensionen anordnen: Gewicht, Motorstärke, Anzahl an Sitzen, Preis und so weiter. Ein Familienvater achtet beim Kauf vielleicht besonders auf den Preis und die Anzahl der Plätze. Im kognitiven Raum ist jede Merkmalskombination an einem bestimmten Ort positioniert. Ein günstiges Auto mit wenigen Sitzen ist in diesem Raum weit entfernt von einem teuren Van. Das Konzeptlernen ist aber nur eines von vielen Beispielen dafür, was die Orts- und Gitterzellen alles leisten. Wir nehmen an, dass mit ihrer Hilfe jegliche Informationen im Gehirn repräsentiert werden, die man entlang von Dimensionen darstellen kann. Der innere Kompass dient quasi als Blaupause für höhere kognitive Funktionen.

»Studien haben gezeigt, dass das Gehirn soziale Beziehungen ebenfalls in kognitiven Karten codiert«

Studien zufolge sollen sogar soziale Beziehungen im Gehirn räumlich codiert sein. Wie muss man sich das vorstellen?

Genau wie Fahrzeuge kann man auch seine Mitmenschen je nach Eigenschaft und sozialem Verhältnis entlang von Dimensionen anordnen. Bei Kollegen sind es beispielsweise die hierarchische Position im Unternehmen und die Nähe zum eigenen Tätigkeitsbereich. Bei Freunden achten wir vielleicht mehr darauf, wie eng das Verhältnis ist und wie sehr sich die Interessen ähneln. Studien haben gezeigt, dass das Gehirn solche sozialen Beziehungen ebenfalls in kognitiven Karten codiert.

Was ist so vorteilhaft an diesem Organisationsprinzip, dass es sich im Lauf der Evolution durchgesetzt hat?

Das Orts- und Gitterzellsystem hat den entscheidenden Vorteil, dass es komplexe, multidimensionale Informationen – also solche mit ganz vielen verschiedenen Eigenschaften – in Räumen mit wenigen Dimensionen repräsentiert. So kann das Gehirn sehr viele Elemente und deren Verhältnis zueinander abspeichern. Zugleich ist das System sehr dynamisch. Ursprünglich diente es dazu, dass sich Tiere in ihrer Umgebung zurechtfinden. Und hierbei ist Flexibilität natürlich entscheidend. Die Ortszellen etwa repräsentieren einen ganz spezifischen Ort in einer bestimmten Umgebung. Zelle A feuert beispielsweise an der Tür eines Raums und Zelle B am Fenster. Gehen wir nun aber in einen anderen Raum, bildet sich im Gehirn sofort eine neue Karte. Jetzt ist Zelle A plötzlich in der Zimmermitte aktiv und Zelle B womöglich gar nicht mehr. Dafür schaltet sich hier eine Zelle C hinzu, die wiederum einen anderen Ort in dem Raum codiert. Eine derartige Anpassungsfähigkeit ist auch nützlich für höhere kognitive Aufgaben, die mit räumlicher Navigation nichts zu tun haben, etwa das Konzeptlernen. Außerdem ermöglicht es dieses Organisationsprinzip, Gelerntes zu generalisieren, also auf neue Situationen zu übertragen, was ebenfalls entscheidend fürs Überleben ist.

Wahrnehmung – Zusammenspiel von Sinnen und Gehirn

Wie funktioniert das?

Für die Generalisierung von Wissen sind die Ortszellen bestens geeignet, weil sie strukturelle, ja beinahe semantische Informationen codieren. Ich gehe hier in Leipzig fast immer in denselben Supermarkt. Wenn ich aber mal in einem anderen bin, weiß ich trotzdem, wo ich welche Produkte finde. Warum? Weil fast alle Supermärkte nach dem gleichen Prinzip aufgebaut sind: Das Obst befindet sich in der Regel kurz hinter dem Eingang, der Käse im Kühlregal im hinteren Bereich des Ladens und die Kaugummis an der Kasse. Diese strukturellen Informationen sind in meinem Gitterzellsystem gespeichert. Und das gilt auch für nicht räumliches Wissen: Wenn ich mich beispielsweise mit Verwandtschaftsverhältnissen auskenne, brauche ich nicht viele Informationen über einen Menschen, um zu folgern, dass seine Mutter gleichzeitig die Großmutter seiner Nichte ist.

Was bedeutet das für die Art und Weise, wie wir lernen? Viele sind davon überzeugt, dass wir uns Lernstoff am besten anhand von Bildern und Fotos einprägen können. Sind Diagramme und Zeitleisten womöglich besser geeignet, weil sie Beziehungen in Raum und Zeit veranschaulichen, ähnlich wie unser Gehirn?

Ich denke tatsächlich, dass eine räumliche Anordnung von Lerninhalten für dieses interne Kartensystem besonders gut geeignet ist. Manchmal macht man das ja sogar intuitiv: Wir arrangieren Vokabeln räumlich nach ihrer Bedeutung oder zeichnen komplexe Zusammenhänge grafisch auf, um Beziehungen zu erkennen.

»Das Gehirn bietet meist mehrere parallele Verarbeitungswege, um das Gleiche zu erreichen«

Manche Menschen können sich besser im Raum orientieren, andere schlechter. Wenn wir das innere Navigationssystem auch für höhere kognitive Aufgaben nutzen, drängt sich die Frage auf, ob Personen mit gutem Orientierungssinn entsprechend leichter neue Konzepte lernen oder soziale Gefüge durchschauen.

Leider ist die Studienlage dazu noch nicht so klar. Aber ich nehme an, dass Sie Recht haben: Je effizienter das Gitterzellsystem allgemein strukturelle Informationen repräsentiert, desto besser sollte ich auch in der Lage sein, dieses Wissen zu übertragen – ob beim Navigieren durch eine neue Umgebung oder beim Erschließen von Verwandtschaftsverhältnissen. Wie alles in der Neurowissenschaft ist das natürlich sehr kompliziert. Denn es ist selten nur ein einzelnes System für eine bestimmte Funktion zuständig; das Gehirn bietet meist mehrere parallele Verarbeitungswege, um das Gleiche zu erreichen. Im Fall der Navigation gibt es zum Beispiel noch weitere neuronale Strukturen jenseits des Hippocampus, die uns von A nach B kommen lassen.

Ganz ohne kognitive Karte?

Ja. Man kann einerseits den Weg vom Parkplatz zum Museum finden, indem man eine kognitive Karte der Stadt aufbaut. Man kann sich aber auch einfach merken: zweimal rechts, dreimal links, dann bin ich am Ziel. Dafür braucht man keine Orts- und Gitterzellen. Sobald aber plötzlich eine Baustelle den Weg versperrt und ich eine Umleitung finden muss, bin ich mit der Strategie, mir die Abbiegungen zu merken, aufgeschmissen. Dann brauche ich wieder eine mentale Karte.

Aktuell wird sehr viel Aufwand in die Entwicklung künstlicher Intelligenz gesteckt. Man orientiert sich dabei gerne an der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns. Kann das Wissen, dass es Informationen in kognitiven Räumen abspeichert, hier helfen?

Vielfach haben sich KI-Entwickler vom menschlichen Gehirn inspirieren lassen. Dennoch gibt es einige Bereiche der Kognition, die nicht so einfach zu simulieren sind. Vor allem jene neuronalen Prozesse, die den höchsten kognitiven Funktionen zu Grunde liegen, können der KI-Forschung aber als Vorbild dienen – etwa das Gitterzellsystem, wenn es darum geht, Gelerntes zu generalisieren und auf neue Situationen zu übertragen. Man darf allerdings nicht vergessen, dass es sich hier um technische Wissenschaften handelt. Wenn die beste künstliche Intelligenz biologisch unplausibel operiert, dann werden die großen Unternehmen diesen Weg sicherlich trotzdem weiterverfolgen.

Der Sitz der Ortszellen ist auch jener, der von der Alzheimerdemenz als Erstes betroffen ist. Könnte man die Erkenntnisse zum inneren Navigationssystem nutzen, um die Krankheit früher zu diagnostizieren?

Tatsächlich versuchen wir das. Es gibt Hinweise aus dem Tiermodell, dass die Orts- und Gitterzellen bei Mäusen mit Morbus Alzheimer weniger effizient arbeiten. Ortszellen codieren den Raum sehr präzise, das heißt, ein Neuron feuert nur innerhalb eines Zehn-Zentimeter-Bereichs. Bei den Alzheimermäusen ist diese Grenze unschärfer. Das ist ein bisschen so, wie wenn eine kurzsichtige Person die Brille abnimmt. Das Gleiche gilt für die Gitterzellen. Unsere Arbeitsgruppe hat zudem menschliche Probanden untersucht, die laut Genanalysen ein erhöhtes Risiko für Alzheimer aufweisen. Bei ihnen fiel das Signal der Gitterzellen allgemein schwächer aus – zumindest deuteten indirekte MRT-Messungen darauf hin. Andere Teams untersuchen gerade das Gitterzellsystem von Patienten, die bereits an Alzheimer erkrankt sind. Vielleicht handelt es sich hier um einen frühen Biomarker, mit dem man die Krankheit zeitig erkennen kann. Die Forschung dazu ist in vollem Gange, wir wissen also noch nicht, ob das funktioniert.

Wird das Orts- und Gitterzellsystem mit dem Alter generell weniger leistungsfähig?

Das scheint in gewissem Maße so zu sein. Allgemein wird man mit dem Alter etwas vergesslicher und findet weniger gut den Weg von A nach B. Zumindest gibt es eine leichte Verlagerung im Gehirn: Man nutzt offenbar für die Orientierung zunehmend weniger das Hippocampussystem, dafür aber vermehrt Strategien, für die andere Hirnbereiche zuständig sind. Ob das auch für die höhere Kognition gilt, ist aber noch unklar. 

 

*Nota. - Der hermeneutisch orientierte Philosoph Paul Gf. Yorck von Wartenburg hat den Begriff der Bewusstseinsstellung zur Unterscheidung der Kulturepochen eingeführt. Er stellt namentlich die "okulare" Bewusstseins-stellung der Inder und Griechen der "Verräumlichung" des Bewusstseins in der europäischen Neuzeit gegenüber, für die er Descartes verantwortlich macht; dazwischen läge das "christlich-antike Amalgam" des katholische Mittelalters. Wie weit seine Epochen-Einteilung trägt, ist ein Thema für sich. Seine Phänomenologie der modernen Räumlichkeit ist dagegen ganz plau-sibel. 

Die Frage wäre nun: Würden Christian Doellers Untersuchungen zu kog-nitiven Räumen dieselben Ergebnisse zeitigen, wenn er sie in außereuropä-ischen und vormodernen Kulturen durchführte? Nach Gf. Yorck sollten sie das eigentlich nicht.
JE

 

Mittwoch, 30. Oktober 2024

Frauen machen mehr Frieden.

Eine kriegerische Frau sei keine richtige Frau: Solche Vorurteile halten Frauen klein. Eine verwundete Amazone in der griechischen Mythologie.
aus nzz.ch, 30. 10. 2024                                                                              zMännlichzu öffentliche Angelegenheiten

Die Frau als Friedensbringerin ist ein Mythos
eine bessere, sind viele überzeugt. Dieser Glaube passt zum modischen Diskurs von der Frau als moralisch überlegenem Wesen. Aber er ist nicht nur falsch – er schadet den Frauen.

von Birgit Schmid

Es ist verführerisch, zu denken, dass am 5. November die Weichen gestellt werden, damit alles besser wird. Für Amerika und für den Rest der Welt. Zum ersten Mal könnte eine Frau Präsidentin der USA werden und damit das höchste Amt der Welt ausüben. Vor allem die Medien setzen grosse Hoffnung in Kamala Harris, nicht nur, weil sie die einzige Alternative zu Donald Trump ist. Sondern: Sie ist eine Frau. «Rettet sie die Welt?», fragt die «Zeit» in ihrer jüngsten Ausgabe.

Mit einer Frau am Schalthebel der Macht sind viele Hoffnungen verbunden. Man hat es gemerkt, als Joe Biden sich aus dem Rennen nahm und Harris ihre Kandidatur bekanntgab. In der allgemeinen Erleichterung projiziert man Wunschvorstellungen auf sie. Mit dieser Frau zögen Freude und Herzlichkeit ins Weisse Haus ein, so der Glaube. Die egoistische, aggressive und machtbesessene Politik der Männer wäre zu Ende.

Denn ist der Zustand der Welt nicht der Beweis, dass die Welt an die Wand gefahren wird, solange Männer die Machtpositionen besetzen, sowohl in der Politik wie in der Wirtschaft? Der Ukraine-Krieg geht bald in sein drittes Jahr, der Nahostkonflikt wird zum Flächenbrand. Klimakrise, wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Massenmigration, politischer Extremismus, geforderte Demokratien.

Da fällt es leicht, in Frauen Heilsbringerinnen zu sehen. Oder zumindest Friedensstifterinnen. Was sonst verpönt ist, nämlich Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu betonen, dient nun als Argumentationsstütze. Frauen seien friedliebender als Männer. Sie seien fürsorglicher und mitfühlender in Bezug auf das Leiden anderer. Das wird einmal mit der Sozialisation, dann wieder evolutionsbiologisch begründet. Frauen regierten deshalb umsichtiger, mit einem Wort: besser.

Annalena Baerbock: «Ohne Frauen kein Frieden»

«Die Welt muss auf Mütter und Frauen blicken, um Frieden zu finden», sagte Papst Franziskus in seiner diesjährigen Ansprache zum neuen Jahr. Nur so könne es gelingen, «aus der Spirale von Gewalt und Hass herauszukommen und die Dinge wieder mit wahrhaft menschlichen Augen und Herzen zu sehen».

Der frühere amerikanische Präsident Barack Obama behauptete 2019, dass viele der Probleme der Welt daher rührten, dass «alte Menschen, in der Regel alte Männer, den Weg nicht freimachen». Wenn in den nächsten zwei Jahren in jedem Land Frauen die Verantwortung übernähmen, gäbe es weniger Kriege, Kinder lebten sicherer, und der allgemeine Lebensstandard verbesserte sich, sagte Obama.

Sheryl Sandberg, die ehemalige Managerin des Meta-Konzerns, hat kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine gesagt: «Zwei Länder, die von Frauen regiert werden, würden niemals gegeneinander Krieg führen.»

Annalena Baerbock bekräftigt ihre feministische Aussenpolitik mit dem Spruch: «Ohne Frauen kein Frieden.» Das sagte sie 2023 auf einer Lateinamerika-Reise.

Davon ist auch die Uno überzeugt, die einmal im Jahr die Konferenz «Frauen, Frieden und Sicherheit» veranstaltet. Weil die Schweiz dieses Jahr den Vorsitz hat, reiste Bundespräsidentin Viola Amherd vergangene Woche nach New York. Es wurde darüber debattiert, wie man Frauen in Friedensprozesse einbeziehe, da Frauen helfen würden, Konflikte zu bewältigen und zu verhüten. Friedensabkommen würden durch die Teilhabe von Frauen länger halten, bewarb Amherd das Anliegen.

Die sogenannte Resolution 1325 der Uno gibt es seit 25 Jahren. Seither hatten und haben zahlreiche Frauen in Politik und Wirtschaft eine Führungsrolle eingenommen. Was gut und wichtig ist. Friedlicher ist die Welt aber nicht geworden. Die These, dass Frauen Frieden bringen, passt zwar zum modischen Diskurs von der Frau als moralisch überlegenem Menschen. Doch sie ist falsch

Von den Amazonen bis Margaret Thatcher

Man könnte mit der griechischen Mythologie beginnen und mit den Amazonen, diesen kühnen Kriegerinnen, die sich, je nach Überlieferung, eine Brust abschnitten, um besser den Pfeil spannen zu können. Noch aufschlussreicher ist ein Blick in die Geschichte. Maria Stuart, die Königin von Schottland, stritt sich im 16. Jahrhundert mit Königin Elizabeth I. um den englischen Thron. Am Ende liess Elizabeth Maria wegen Hochverrats hinrichten. Die beiden Frauen waren verwandt.

Da sind die «eisernen Ladys» der neueren Zeit, allen voran Margaret Thatcher. Die britische Premierministerin eroberte 1982 in einem kurzen Krieg die Falklandinseln vor der Küste Argentiniens für Grossbritannien zurück. Golda Meir, die Israel von 1969 bis 1974 regierte, antwortete mit militärischer Härte auf die Angriffe der Nachbarstaaten.



Die britische Premierministerin Margaret Thatcher und Israels Ministerpräsidentin Golda Meir gingen nicht als besonders sanftmütige Leaderinnen in die Geschichte ein.

Auch Indira Gandhi führte Indien kompromisslos. Sie zog in den Krieg gegen Pakistan und machte ihr Land zur Nuklearmacht. Dabei soll sie keine anderen starken Politikerinnen neben sich geduldet haben.

Aung San Suu Kyi erhielt den Friedensnobelpreis, liess das Militär in Myanmar aber bei der Verfolgung des Volkes der Rohingya, einer muslimischen Minderheit, gewähren.

In den USA gab es in den vergangenen Jahren einige weibliche Aussenministerinnen: Hillary Clinton, Madeleine Albright, Condoleezza Rice. Diese haben sich für eine vergleichbar aggressive Aussenpolitik eingesetzt wie ihre männlichen Kollegen. Das zeigen Untersuchungen wie jene der Politologin Sylvia Bashevkin von der Universität Toronto. Sollten Frauen tendenziell eine pazifistische Einstellung haben – für Entscheidungsträgerinnen in internationalen Angelegenheiten gilt dies nicht.



Condoleezza Rice, Aussenministerin unter George W. Bush, und Hillary Clinton, Aussenministerin unter Barack Obama, waren beide für eine vergleichsweise harte Aussenpolitik bekannt.

Natürlich gibt es auch dafür eine Erklärung, die der These, dass Frauen das friedliebendere Geschlecht sind, nicht wirklich widerspricht. Sie geht so: Frauen an der Macht passen sich den Männern an. Aus Angst, schwach zu wirken, entscheiden sie in Fragen der Sicherheit und Verteidigung härter, als es ihrem Wesen entsprechen würde. Denn sie müssen ihren Führungsanspruch rechtfertigen. Frauen an der Macht eifern also den Männern nach und verleugnen ihre angeblich weibliche Seite. Natürlich werden sie dabei auch von lauter Männern beraten.

Doch auch in diesem Fall werden weibliche Eigenschaften stereotypisiert. Man spricht Frauen die Fähigkeit ab, sich unabhängig von ihrem Geschlecht zu verhalten. Doch auch dies zeigen Studien: Die persönlichen Ansichten zu Gewalt und Krieg werden weniger wichtig für denjenigen, der ein Land führt. Ein Staatsführer überlegt sich eher, was für sein Land richtig ist, nicht für ihn. Eine Staatsführerin fällt Entscheidungen aus strategischen Gründen und nicht, weil sie als Studentin gegen den Golfkrieg demonstrierte.

Das Bild der friedlichen Frau ist also nicht nur falsch, sondern auch eine Hypothek. Es weckt falsche Erwartungen und schadet den Frauen. Spricht sich eine Präsidentin für eine starke Armee aus oder befürwortet während ihrer Amtszeit einen Krieg, reagiert die Öffentlichkeit enttäuscht oder entrüstet. Eine solche Frau sei keine richtige Frau, heisst es dann vielleicht. Ihr fehle die Sensibilität, eine Mitmenschlichkeit.

Soeben hat dies die deutsche FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann erfahren. Die Frauenzeitschrift «Emma» kürte sie zum «Sexist Man Alive» – angelehnt an den «Sexiest Man Alive» des amerikanischen Magazins «People». Es sollte wohl lustig sein: Strack-Zimmermann erhielt den Schmähpreis als erste Frau. Die Wahl fiel auf sie wegen ihres Einsatzes für Waffenlieferungen an die Ukraine. Damit wird ihr Verhalten als typisch männlich oder eben unweiblich verhöhnt.

Die Annahme, Frauen sorgten für einen weltumspannenden Frieden, ist sexistisch. «Rettet sie die Welt?», fragt die «Zeit» zu Kamala Harris. Sollte Harris die Wahlen gewinnen, kann sie an der Erwartungshaltung nur scheitern.

Die einen trauen ihr das Amt als Frau nicht zu, die anderen haben überzogene Erwartungen. Allein deshalb müsste Kamala Harris eigentlich amerikanische Präsidentin werden.
Die einen trauen ihr das Amt als Frau nicht zu, die anderen haben überzogene Erwartungen. Allein deshalb müsste Kamala Harris eigentlich amerikanische Präsidentin werden

Politische Folgen der Empathie


Schliesslich muss noch etwas bedacht werden. Selbst wenn Frauen an der Macht durch Friedfertigkeit und Mitgefühl auffallen: Die Folgen einer solchen Politik sind oft erst nach ihrer Amtszeit spürbar. Und zwar nicht nur im Guten.

Angela Merkel führte Deutschland in die Energieabhängigkeit von Russland. Der Krieg kam später. Die Kanzlerin wurde für ihre Grossherzigkeit gelobt, als sie 2015 die Grenze für Hunderttausende von Flüchtlingen öffnete. Die Probleme, die ihre Willkommenskultur mit sich brachte, hat sie der Regierung nach ihr vererbt. Und der Gesellschaft.

Dasselbe während der Pandemie. Zu Beginn galten die von Frauen regierten Staaten als besonders umsichtig bei der Bekämpfung des Coronavirus. Allen voran ging Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern, die ihre Insel abriegelte und dafür gefeiert wurde. Den Landesmüttern liege mehr am Wohl ihrer Bürger als den männlichen Staatsoberhäuptern, lobten Soziologinnen wie Eva Illouz. Sie würden vorausschauender handeln und weniger Risiken eingehen. Die Langzeitrisiken der sozialen Isolation, unter der vor allem junge und alte Leute litten und bis heute leiden, bedachten die vorbildlichen Politikerinnen weniger.

Bei der Idealisierung wird einiges unterschlagen. Viele Länder mit Männern an der Spitze verfolgten die gleiche restriktive Corona-Politik. Genauso sind zahlreiche Staaten, die von Männern regiert werden, in keine Kriege involviert. Es ist ganz einfach: Frauen besetzen noch immer seltener Machtpositionen, deshalb fallen sie viel stärker auf.

Im Übrigen prahlt gerade Donald Trump damit, ein pazifistischer Präsident gewesen zu sein. In seiner vierjährigen Amtszeit sind die USA in kein anderes Land einmarschiert. Allerdings liess auch Trump Syrien bombardieren. Gegen die Deutung, er habe weiblich regiert, würde er sich wohl – zu Recht – wehren.

Viele Amerikaner und Amerikanerinnen, so ist zu befürchten, halten Frauen noch immer für zu emotional, um mit Staatsoberhäuptern umzugehen und das Militär zu führen. Andere wiederum sehen in Kamala Harris die Weltretterin. Auch deshalb wäre eine amerikanische Präsidentin interessant. Weil Harris beweisen könnte, dass sie genauso gut oder schlecht regiert wie die Männer vor ihr.

 

 

Dialektik ist Auflösung des transzendentalen Scheins.

Helga Noll                               zu Philosophierungen, oder Das Vernunftsystem

Der logische Schein, der in der bloßen Nachahmung der Vernunftform besteht (der Schein der Trug-schlüsse), entspringt lediglich aus einem Mangel der Achtsamkeit auf die logische Regel. So bald daher diese auf den vorliegenden Fall geschärft wird, so verschwindet er gänzlich. Der transzendentale Schein dagegen hört gleichwohl nicht auf, ob man ihn schon aufgedeckt und seine Nichtigkeit durch die transzen-dentale Kritik deutlich eingesehen hat. (Z.B. der Schein in dem Satze: die Welt muß der Zeit nach einen Anfang haben.) Die Ursache hievon ist diese: daß in unserer Vernunft (subjektiv als ein menschliches Er-kenntnisvermögen betrachtet) Grund-regeln und Maximen ihres Gebrauchs liegen, welche gänzlich das Ansehen objekti-ver Grundsätze haben, und wodurch es geschieht, daß die subjektive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe, zu Gunsten des Verstandes, für eine objektive Notwendigkeit, der Bestimmung der Dinge an sich selbst, gehalten wird. Eine Illusion, die gar nicht zu vermeiden ist, so wenig als wir es vermeiden können, daß uns das Meer in der Mitte nicht höher scheine, wie an dem Ufer, weil wir jene durch höhere Lichtstrahlen als diese sehen, oder, noch mehr, so wenig selbst der Astronom verhindern kann, daß ihm der Mond im Aufgange nicht größer scheine, ob er gleich durch diesen Schein nicht betrogen wird.

Die transzendentale Dialektik wird also sich damit begnügen, den Schein transzen-denter Urteile aufzudecken, und zugleich zu verhüten, daß er nicht betriege; daß er aber auch (wie der logische Schein) sogar verschwinde, und ein Schein zu sein auf-höre, das kann sie niemals bewerkstelligen. Denn wir haben es mit einer natürlichen und unvermeidlichen Illusion zu tun, die selbst auf subjektiven Grundsätzen beruht, und sie als objektive unterschiebt, anstatt daß die logische Dialektik in Auflösung der Trugschlüsse es nur mit einem Fehler, in Befolgung der Grundsätze, oder mit einem gekünstelten Scheine, in Nachahmung derselben, zu tun hat. Es gibt also eine natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft, nicht eine, in die sich etwa ein Stümper, durch Mangel an Kenntnissen, selbst verwickelt, oder die irgend ein Sophist, um vernünftige Leute zu verwirren, künstlich ersonnen hat, sondern die der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt, und selbst, nachdem wir ihr Blendwerk aufgedeckt haben, dennoch nicht aufhören wird, ihr vorzugaukeln, und sie unablässig in augenblickliche Verirrungen zu stoßen, die jederzeit gehoben zu werden bedürfen.
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Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 309f.


Nota. - Dialektik war zweitausend Jahre lang eines von vielen Kunstwörtern der Schulphilosophie, und kein besonders populäres: fast ein Schimpfwort. Im vergan-genen Jahrhundert wurde es zu einer bewaff-neten Macht, die das geistige Leben des halben Erdballs lähmte. Sie war das Herzstück von Stalins Dialektischem Ma-terialismus alias Wissenschaftliche Weltanschauung, und während man bei Materia-lismus immer noch ein paar sichere Anhaltspunkte fand, um zu verstehen, was ge-meint war, war man bei Dialektik vor keiner Überraschung sicher. "Das ist undia-lektisch" oder "Das musst du dialektisch sehen" war der arkanische Zauberspruch, der alles Gültige auf den Kopf stellen konnte und äußerstenfalls über Leben oder Tod entschied.

Der Höhenflug des Wortes begann recht bescheiden bei Kant. Dessen neuer Wort-gebrauch war unsicher, teils klang im dialektischen bzw. transzendentalen Schein die alte Abwertung nach, teils sollte aber transzendentale Dialektik künftig gerade zum Instrument der Zerstreuung des Scheins gemacht werden. 

Während in der Kritik der reinen Vernunft - siehe oben - der "Schein", nämlich dass sich aus bloßen Operationen mit Begriffen reale Erkenntnis konstruieren las-se, noch als ein unvermeidliches Naturrisiko des Verstandesgebrauchs dargestellt wird, hat zum Zeitpunkt, als die Vorlesungen über Logik im Druck erschienen, die Kritik ihre Wirkung schon getan, und der Schein wird als durch sie vermeidbar dar-gestellt: Dialektik wird zum Reinigungsmittel des Verstandes, doch nicht als abge-schlossene Lehre, sondern immer nur in processu.

Die Karriere eines Wortes vom Inbegriff der Kritik zur größten intellektuellen My-stifikation aller Zeiten war da noch nicht abzusehen.
JE, 7. 1. 16



Dienstag, 29. Oktober 2024

Weiblich vulnerabel.

Tückische Tränen: Vulnerable Narzisstinnen manipulieren ihre Mitmenschen durch schlechtes Gewissen.
aus nzz.ch, 24.10. 2024                                                                     zu öffentliche Angelegenheiten zu Männlich

Weiblicher Narzissmus
Schuld sind immer die anderen, im Zweifel sogar die eigenen Kinder
Narzissten fühlten sich allen überlegen? Nicht immer. Manche von ihnen fühlen sich minderwertig und begegnen ihren Mitmenschen mit Neid und Missgunst. Es sind meeistens Frauen.
 
von Nadine Zeller

Sie tummeln sich in Chefetagen oder hohen Ämtern, lieben den grossen Auftritt, schauen auf andere herab und fühlen sich durch jede Kritik gekränkt: Narzissten, jedenfalls die von dem Typus, der uns medial am häufigsten begegnet, dem grandiosen Narzissmus.

Doch das ist nur die eine Seite des Narzissmus, die zweite gerät meist aus dem Blick, weil sie unbekannter ist – der vulnerable Narzissmus.

Vulnerable Narzissten neigen etwa dazu, sich selbst als Opfer zu stilisieren und sich permanent enttäuscht zu zeigen. «Dir ist doch egal, wie ich mich fühle, alle anderen sind dir wichtiger», «Mich versteht sowieso niemand» – solche Aussagen zielen darauf ab, Mitmenschen durch ein schlechtes Gewissen zu manipulieren.

Diese Form des Narzissmus ist auch als weiblicher Narzissmus bekannt. Tatsächlich wird er häufiger bei Frauen beobachtet als bei Männern, er kann aber bei beiden Geschlechtern vorkommen.

In einer Metaanalyse aus dem Jahr 2015 konnten Emily Grijalva und ihr Team von der University at Buffalo School of Management zeigen, dass es tatsächlich geschlechtsspezifische Unterschiede gibt. Die Analyse von 355 Studien, an denen insgesamt 470 000 Probanden teilnahmen, ergab, dass Männer zwar tendenziell narzisstischer sind als Frauen. Die Forscher fanden aber auch heraus, dass vulnerabler Narzissmus öfter bei Frauen vorkommt und häufiger bei solchen, die ein geringes Selbstwertgefühl haben, emotional labil und introvertiert sind. 

Deckt die «grandiose» Seite den Aspekt der «Selbsterhöhung» ab, beschreibt «Vulnerabilität» stärker die Minderwertigkeitsgefühle, die ja ebenfalls mit narzisstischen Zügen einhergehen. Das hat auch eine Studie von Aidan Wright von der University of Pittsburgh und Aaron L. Pincus von der Pennsylvania State University ergeben. Ihre Untersuchung zeigte, dass Frauen stärker zu Empfindlichkeit und Unsicherheit neigten, während Männer eher zu übertriebener Selbstdarstellung und Dominanz tendierten.

Selbsterhöhung und Selbstverachtung können einander abwechseln

Auch wenn diese beiden Eigenschaften «grandios» und «vulnerabel» auf den ersten Blick gegensätzlich wirken, betont die klinische Psychologin Diana Diamond von der City University in New York, das Oszillieren zwischen Selbsterhöhung und Selbstverachtung sei typisch für Narzissmus. Auch Stefan Röpke, der als Psychiater an der Charité Universitätsmedizin in Berlin arbeitet, bestätigt, dass der vulnerable Typus in den grandiosen umschlagen kann und umgekehrt.

«Die Unterscheidung in grandiosen Narzissmus und vulnerablen ist wenig empirisch erforscht, und basiert doch auf Beobachtungen aus dem klinischen Alltag», sagt er. Menschen mit narzisstischen Zügen falle es sehr schwer, ihren Selbstwert zu regulieren. Auch wenn grandiose Narzissten oft den Anschein erwecken, ein hohes Selbstwertgefühl zu haben, handelt es sich dabei eher um einen Schutzmechanismus und eine sogenannte überkompensatorische Strategie.

Breche dieser Schutzmechanismus wegen beruflicher Misserfolge, einer Scheidung oder einem wie auch immer gearteten Statusverlust zusammen, tauchten eher vulnerable Züge auf. Die Betroffenen fühlten sich dann wertlos, inkompetent und unzulänglich.

Typische Anzeichen für vulnerablen Narzissmus

Vulnerable Narzissten begegnen ihren Mitmenschen oft mit Missgunst und Neid. Erfolge, Freuden oder schöne Erlebnisse ihres nahen Umfelds empfinden sie als unverdient und ungerecht. Vulnerabler Narzissmus kann sich auch in einer Art Hypermoral äussern. «Hast du gesehen, wie die herumläuft!», «Das steht ihr überhaupt nicht», sind Sätze, die dann fallen können. Auch die eingangs erwähnte Opfermentalität ist typisch.

Der Psychiater Stefan Röpke sagt dazu: «Wer die Opferrolle einnimmt, steuert das Verhalten wohlwollender Mitmenschen sehr effektiv.» Dies wissen Narzissten, und sie nutzen das Mitgefühl ihres Umfelds aus, um ihre Bedürfnisse durchzusetzen: «Wenn ich dir wirklich wichtig wäre, würdest du das nicht tun.»

Wer sich als Opfer seiner Umstände stilisiert, muss zudem keine Verantwortung für sein eigenes Verhalten übernehmen: «Ich hätte ja gearbeitet, aber euretwegen, Kinder, bin ich zu Hause geblieben und habe auf meinen Traumjob verzichtet.» Oder: «Warum sollte ich mich abrackern, wenn andere Menschen erben?»

Konfrontiert man vulnerable Narzissten mit ihrem Verhalten, leugnen sie, verletzende Aussagen gemacht zu haben, oder sie lenken ab, indem sie Schuldumkehr betreiben: «Du reagierst immer so empfindlich.» Zum Werkzeugkoffer vulnerabler Narzissten gehören emotionale Erpressung, Liebesentzug, Schuldumkehr und Hypersensibilität als Waffe.

Wendet sich das Umfeld daraufhin ab, sanktionieren sie dieses Verhalten, indem sie gekränkt reagieren. Dabei scheuen sie auch nicht davor zurück, Schuldgefühle in ihrem Gegenüber auszulösen.

Vulnerable Narzissten sind schwierig zu diagnostizieren

Natürlich leiden nicht alle Menschen, die andere abwerten oder sich selbst als Opfer stilisieren, an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Einige weisen eventuell bloss narzisstische Züge auf oder haben andere psychische Störungen.

Sabine Herpertz arbeitet als Psychiaterin an der Uni Heidelberg und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Persönlichkeitsstörungen. Sie sagt: «Die Narzissmus-Diagnose droht zu einer diagnostischen Schublade zu werden.» Immer öfter erlebe sie, dass Familienmitglieder ihre Angehörigen mit der Verdachtsdiagnose «Narzissmus» in die Klinik schickten, ohne professionell geschult zu sein.

Und selbst Profis fällt es schwer, die Störung richtig einzugrenzen. Da Menschen mit narzisstischen Zügen Psychotherapien oft vorzeitig abbrechen, existieren wenige aussagekräftige Langzeitstudien. Einig sind sich die meisten klinischen Psychologen jedoch, dass im Mittelpunkt des Narzissmus eine Selbstwert-Problematik steht.

Erschwerend kommt hinzu, dass das amerikanische Klassifikationssystem für psychische Störungen (DSM 5) vor allem die grandiose Seite des Narzissmus aufführt, der vulnerable Teil wird kaum beleuchtet.

Auch wenn es keine konkreten Studien dazu gibt, kann man von einer Tendenz der Unterdiagnose des vulnerablen Narzissmus ausgehen. Er ist schwerer auszumachen, da Symptome wie starke Selbstverachtung und Scham, Unsicherheit und das Scheuen sozialer Interaktionen ähnlich sein können wie bei Depressionen, emotionaler Instabilität oder Angststörungen. Das birgt die Gefahr, dass Therapeuten den Kern der narzisstischen Selbstwert-Problematik nicht erkennen.

Die diagnostischen Herausforderungen beleuchtet auch eine Untersuchung von Aaron Pincus von der Pennsylvania State University aus dem Jahr 2011. Seine Studie weist darauf hin, dass vulnerabler Narzissmus häufig übersehen wird.

Was Stefan Röpke aber aus seiner klinischen Erfahrung sagen kann: In der Therapie träfen die meisten Menschen in ihrer vulnerablen Phase ein. Nach Jobverlust, Trennung, Zurückweisung oder anderen Misserfolgen breche die typische Selbsterhöhung oft zusammen und zeige Risse. Die Betroffenen berichteten dann von tiefer Traurigkeit und Leere. Diese Symptome seien jedoch auch typisch für andere Erkrankungen wie beispielsweise eine starke Depression. Es besteht also Verwechslungsgefahr.

Das sei auch der Grund, so Röpke, weshalb das amerikanische Klassifikationsmodell für psychische Störungen stärker auf die grandiose Dimension des Narzissmus abziele. «Das DSM 5 sucht Merkmale, die spezifisch sind und nicht mit einer anderen Störung verwechselt werden können», sagt er.

Der Mangel Empathie erschwert die Therapie

Kennzeichnend für Narzissten beider Typen ist ihr Mangel an Empathie. Narzissten fällt es schwer, sich offen mit den Gedanken und Gefühlen ihrer Mitmenschen auseinanderzusetzen. Ihnen fehlen die Fähigkeit und der Wille, sich auf zugewandte, freundliche Weise klarzumachen, was in anderen vorgeht.

Sie sind zwar durchaus fähig, die Bedürfnisse und Gefühle anderer Menschen zu erkennen, doch sie nutzen dieses Wissen nicht, um verständnisvoll zu reagieren, sondern um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Und da ihr Hauptziel ist, sich selbst als überlegen wahrzunehmen, weil nur das ihnen Kontrolle gibt, richtet sich das gesamte Bestreben ihrer Psyche darauf aus, eigene Gefühle der Scham und Minderwertigkeit nicht zu spüren. Diese Emotionen projizieren sie stattdessen auf Freunde, Partner, Kinder und Kollegen.

Dieser Mangel an Empathie macht auch die Therapie mit Narzissten herausfordernd. Sie gelten als schwer zu behandeln. Da sie sich selbst verachten, stellen nahe Beziehungen zu anderen Menschen für sie generell eine Bedrohung dar. Wie sie wirklich sind und fühlen, soll niemand wissen. Sich verletzlich zu zeigen, stürzt sie in abgrundtiefe Ängste.

Deswegen sprechen sie in Anwesenheit des Therapeuten entweder zu sich selbst oder versuchen den Therapeuten zu beeinflussen, zum Beispiel indem sie Situationen so schildern, dass sie selbst in einem besseren Licht dastehen. Manche Patienten stellen auch die professionelle Eignung der Therapeuten infrage, indem sie einen Rollenwechsel vollziehen und suggerieren, mehr über Psychologie zu wissen. Zudem meiden sie bestimmte Themen, um sich nicht mit eigenen unangenehmen Verhaltensweisen auseinanderzusetzen.

Da sie jede Kritik an ihrer Person als potenziell zerstörerisch für ihr Selbstwertgefühl wahrnehmen, wehren sie auch konstruktiv vorgetragenes Feedback mehrheitlich ab oder sehen feindliche Absichten, wo keine sind. Diese verzerrte Wahrnehmung zu korrigieren, ist eine von vielen Aufgaben der Therapie. Aber wie erwähnt, das gelingt längst nicht immer.

Das Leid der Angehörigen

Angehörige haben unterdessen das Gefühl, ständig aufpassen zu müssen, was sie tun und sagen, um den Narzissten nicht zu kränken oder Wutausbrüche heraufzubeschwören. Häufig fühlen sich Freunde, Partner und Familie sowohl von grandiosen als auch von vulnerablen Narzissten ausgelaugt und erschöpft. Und weil sich vulnerable Narzissten chronisch benachteiligt fühlen und jede Eigenverantwortung an der Gesamtsituation ablehnen, hat ihr Umfeld oft das permanente Gefühl, helfen zu müssen.

Immerhin gelten Narzissten in ihren vulnerablen Phasen als offener für eine Therapie. Aber auch hier ist laut dem Psychiater Stefan Röpke die Gefahr gross, dass sie die Therapie abbrechen. Denn sie fühlen sich schnell kritisiert oder nicht verstanden. Die Selbstwert-Problematik ist bei Narzissten so tief verankert, dass nicht nur die Angehörigen, sondern auch Therapeuten viel Geduld und eine sichere Vertrauensbasis mit diesen Patienten brauchen.

Stümperei mit Hintersinn.


Jeff Bezos und sein Blatt kann Trump ja nun wohl nicht mehr zu seinen Gegnern zählen. Wenn der allerdings heimlich Stimmen für Kamala Harris mobilisieren wollte, hätte ers nicht geschickter angehen können.

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