Freitag, 12. Juli 2024

Relativistisch ist das Gegenteil von kritisch.

Das Christentum hat die Idee einer rechtlichen Gleichheit der Geschlechter in die Welt gebracht. Ausschnitt des Bildes «Anhänger» von Lucas Cranach dem Älteren, 16. Jahrhundert. Cranach d. Ä. (Ausschnitt)                    zu öffentliche Angelegenheiten
aus nzz.ch, 11. 7. 2024  Das Christentum hat die Idee einer rechtlichen Gleichheit der Geschlechter in die Welt gebracht.
 
Viele Gedanken, die den Westen tragen, wurden vor langer Zeit gedacht. Veraltet sind sie nicht.
Einmal Gedachtes geht nicht verloren, auch wenn es temporär unter dem Schutt von Bräuchen und Gewohnheiten begraben liegt.
 
von Martin Grichting

Sind Gleichheit, Freiheit, Demokratie und die unveräusserliche Würde jedes Men-schen universal gültig? Oder stellen sie nur westlich-abendländisches Sondergut dar? Können sie Geltung beanspruchen ungeachtet der geschichtlichen, kulturellen oder religiösen Prägung einer Gesellschaft und eines Staates? Die Euphorie, die sich seit dem 19. Jahrhundert der technologischen und wirtschaftlichen Überlegenheit des westlichen «Systems» verdankte, ist in den letzten Jahrzehnten einem Werte- und Kulturrelativismus gewichen. Dabei verneint auch der Westen, dass seine ehernen Prinzipien universal seien.

Freilich kann man dann folgende Fragen stellen und sie damit gleich beantworten: Werden in China für immer die Interessen der Partei über die Grundrechte des Individuums gestellt werden? Bleibt in islamisch geprägten Staaten die Frau ein Mensch mit eingeschränkten Grund- und Bürgerrechten? Legitimiert Chauvinismus in Russland auch in Zukunft, andere Länder zu überfallen?

Die menschliche Dummheit und Gier

Blickt man heute pragmatisch auf das Weltgeschehen, kann man sich des kulturrela-tivistischen Eindrucks schwer erwehren, die westliche Sichtweise sei bloss eine von mehreren. Es sei deshalb Ausdruck von Kolonialismus, anderen Weltregionen über-stülpen zu wollen, was im Westen gilt. Eine solche Sichtweise übergeht jedoch einen wesentlichen Punkt: Es gibt einerseits die Geschichte der Ideen und andererseits den real existierenden Verlauf der Geschichte.

Ideengeschichte und Historie wandeln nicht im Gleichschritt. Die Welt der Philoso-phen kollidiert immer wieder mit dem Egoismus, der Dummheit und der Gier der Menschen. Das erweckt den Eindruck, dass die Ideen einer Retardierung unterlie-gen, ja sich kaum durchzusetzen vermögen. Ein Blick auf die Geschichte des Chri-stentums und der Aufklärung bewahrt davor, in kulturrelativistischen Fatalismus zu verfallen.

Das Christentum hat zum ersten Mal in der Geschichte das Pochen auf die Grund-rechte des Individuums hervorgebracht. Es waren Christen, die aus religiösen Gründen den Kaiserkult verweigerten und sich gegen die Staatsmacht auf die Freiheit des Gewissens beriefen. Ihr Blut ist nicht nur, wie der Denker Tertullian (gestorben um 220) bemerkte, zum «Samen der Christenheit» geworden, sondern zum Samen der Religionsfreiheit.

Man begegnet hier zudem der ersten, allen verfassungsrechtlichen Gewaltentei-lungen vorausliegenden Gewaltenteilung, wie der Staatsrechtler Josef Isensee be-merkt hat. Aber das Christentum wurde in der Folge selbst zu mächtig. «Christli-che» Herrscher haben anderen angetan, was die Christen einst selbst zu erleiden hatten: Intoleranz und Verfolgung. Voltaire hat hierzu den Christen den Spiegel vorgehalten: «Wollt ihr Christus gleichen, so werdet Märtyrer, aber nicht Henker.»

Gleichberechtigung in der Bibel

Das Christentum hat auch die Idee einer rechtlichen Gleichheit der Geschlechter in die Welt gebracht. Denn ein Scheidungsverbot galt bisher stets nur für die Frau. Da Jesus Christus es auch dem Mann auferlegte, erhielten Mann und Frau fortan nicht nur diffus eine gleiche «Würde», sondern wurden rechtlich auf die gleiche Stufe ge-stellt, auch wenn man das heute nicht mehr gerne hören will. Auch das Ende der Sklaverei ist in der Bibel zugrunde gelegt. Paulus sendet zwar, wie man dem Phile-monbrief entnehmen kann, den entlaufenen Sklaven Onesimus seinem Herrn zu-rück, aber «nicht mehr als Sklave, sondern als weit mehr: als geliebten Bruder».

Sei es die christliche Haltung zur Sklaverei, zur Religionsfreiheit oder zur Gleichheit der Menschen: Diese «Ideen» wurden in der Folge unterdrückt. Denn zusammen mit der Konkursmasse des Römischen Reichs wurde das Christentum für die Dauer von Jahrhunderten durch Völker übernommen, die selbst die Leibeigenschaft kann-ten, die Ungleichheit und einen intoleranten religiösen Staatskult. Daraus erwuchs die «Christenheit» des Mittelalters mit ihren feudalistischen Strukturen.

Es war die Aufklärung, die an den Ideen des Christentums anknüpfte und in die Tat umzusetzen vermochte, was Stückwerk geblieben war oder noch brachlag. Aller-dings ist es naiv, zu denken, die aufklärerischen Ideen seien nun ihrerseits schnell umgesetzt worden. Das Beispiel der Rechte der Frau verdeutlicht es.

Was dabei seit dem 17. Jahrhundert gedanklich geleistet worden war, geriet in der Französischen Revolution unter die Räder. Diese hat zwar eine Menschenrechtser-klärung hervorgebracht. Aber gemeint waren mit den «droits de l’homme» faktisch doch nur die Rechte der Männer. Dies brachte die quirlige Olympe de Gouges dazu, im Jahr 1791 eine «Erklärung der Frauen- und Bürgerinnenrechte» zu proklamieren. Sie wurde daraufhin nicht nur als Parteigängerin der Girondisten guillotiniert.

Im offiziösen Publikationsorgan der Revolutionsregierung hiess es im November 1793: «Ein Staatsmann wollte sie sein, und das Gesetz hat die Verschwörerin dafür bestraft, dass sie die Tugenden vergass, die ihrem Geschlecht geziemen.» Manon Roland, die über ihren Ehemann und Innenminister Jean-Marie Roland de La Pla-tière kräftig politischen Einfluss nahm, erging es in der testosteronschwangeren Revolutionszeit nicht besser. Zu ihr konnte man gleichenorts lesen: «Ihr Verlangen, weise zu sein, hat sie die Tugenden ihres Geschlechts vergessen lassen, und dieses gefährliche Vergessen hat sie auf dem Schafott zugrunde gehen lassen.» Bereits im Oktober 1793 hatte die Nationalversammlung den Frauen die politische Mitbestim-mung verboten, denn sie seien nicht fähig, abstrakt und tiefgründig zu denken.

Das 19. Jahrhundert war denn auch im Wiegenland der Aufklärung politisch eine frauenfreie Zone. Erst im 20. Jahrhundert begann sich die christlich-aufklärerische «Idee» in der geschichtlichen Wirklichkeit Bahn zu brechen, hin zu dem, was wir heute als selbstverständlich betrachten.

Vernunft unter dem Schutt von Bräuchen und Gewohnheiten

Sich der These des Kulturrelativismus zu beugen, der die Universalität der west-lichen Grundüberzeugungen opfert, erscheint vor diesem Hintergrund als voreilig. Es fehlen solchem Denken die Geduld und das Bewusstsein, dass Ideen bisweilen Jahrhunderte benötigen, bis sie eingefleischte Traditionen und kulturell oder religiös geprägte Denkweisen zu durchdringen und von innen her zu wandeln vermögen.

Natürlich kann man auch diese Sichtweise wiederum als typisch jüdisch-christlich ablehnen. Denn diese Religionen glauben an einen Gott, der selbst vernünftig ist und der den Menschen als sein Ebenbild an seiner Vernunft partizipieren lässt. Aber es ist nicht zu leugnen, dass inzwischen ein beachtlicher Teil der Menschheit in Gesellschaften der Freien sowie Gleichen lebt und viele andere Menschen eben-falls so leben möchten.

Worum es angesichts der theoretischen oder faktischen Ablehnung der westlich-abendländischen Grundsätze in Teilen der Welt gehen müsste, hat Theodor W. Adorno prägnant formuliert: «Was einmal gedacht ward, kann unterdrückt, vergessen werden, verwehen. Aber es lässt sich nicht ausreden, dass etwas davon überlebt. Denn Denken hat das Moment des Allgemeinen. Was triftig gedacht wurde, muss woanders, von anderen gedacht werden: dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken.»

In der Tat: Viele Gedanken oder Ideen, die den Westen tragen, wurden zum Teil in ferner Vorzeit geboren. Es gehört heute zum Vertrauen in das doch auch vernünf-tige Wesen des Menschen, dass das einmal Gedachte der Menschheit nicht verlo-rengeht, auch wenn es temporär unter dem Schutt von Bräuchen und Gewohnhei-ten begraben liegt. Angesagt ist deshalb aus westlicher Warte das von Adorno ange-mahnte «Vertrauen».

Es ist die Zuversicht, dass die Ideen der Freiheit, der Gleichheit und Menschen-würde unwandelbar Wahres über den Menschen aussagen und sich immer werden Bahn brechen wollen. Das Vertrauen darin ist die Mutter der Geduld, dem mit Überzeugung und Beharrlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen, was einmal triftig gedacht wurde.

Martin Grichting war Generalvikar des Bistums Chur und beschäftigt sich publizistisch mit philosophischen sowie theologischen Fragen. Zuletzt von ihm erschienen: «Religion des Bürgers statt Zivilreligion. Zur Vereinbarkeit von Pluralismus und Glaube im Anschluss an Tocqueville», Schwabe-Verlag, Basel 2024. 107 S., Fr. 23.–.

 

Nota. -  Wie denn, was denn? Verstecke ich mich neuerdings hinter einem Kirchen-mann?!

Ich verstecke mich doch nicht, ich hebe es extra hervor, dass das ein Kirchenmann ist. Ein katholischer oder ein reformierter? Das ist egal. Ein christlicher; und das ist nicht egal. Dass ich zeitlebens atheistisch reden und schreiben konnte, verdanke ich dem Umstand, dass ich im christlich geprägten Abendland aufgewachsen bin. Eine Religion ist eben nicht so gut wie eine andere. Am besten ist immer noch die, die den Keim zu ihrer eigenen Überwindung bei sich führt.
JE

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