Freitag, 22. September 2023

'Von Kant zu Hegel'?

                                                                  zu Philosophierungen

Dass zu Hegels [heutigem Jubiläum] die Lobgesänge niederprasseln würden, war zu erwar-ten. Was dazu sachlich zu sagen war, finden Sie in meinem gestrigen Eintrag. Heute geht es um das Historische; um die folgenreichste Mystifikation der Philosophiegeschichte, ohne die noch der gegenwärtige Zwist zwischen 'systematischer' und 'kontinentaler' Philosophie gar nicht denkbar wäre. Nämlich um die Legende vom pp. Deutschen Idealismus unterm Titel "Von Kant zu Hegel".*

Um es vorab zu sagen: Das war keine böswillige Machination von Leuten, die es besser wussten. Der eine oder andere hätte sich ein wenig zusammenreißen können, doch summa summarum handelte es sich um das "notwendig falsche Bewusstein" von Leuten, die tiefer in ihre Zeit verstrickt waren, als sie ahnten.

Nicht zuletzt, sondern zuerst bei dem, der die Sache zugespitzt hatte und bei dem sie um-gekippt war. Korrekt müsste die historische Beschreibung lauten: Der Aufstieg der Trans-zendentalphilosophie und ihre Verkehrung ins GegenteilSebastian Ostritsch streift es gradmal am Rande.

Die Legende sagt: Kant habe die Objektivität des dogmatischen Rationalismus zu Fall ge-bracht. Fichte habe an dessen Stelle den Subjektiven Idealismus gesetzt. Schelling habe dessen Einseitigkeit zum Objektiven Idealimus ergänzt. Hegel habe schließlich Alles im Absoluten Idealismus vereinigt.

Was aber danach kam, sagt keiner mehr; es war das Ende der Philosophie für Jahrzehnte. Hegel hatte, seinem eigenen Anspruch entsprechend, das Philosophieren erschöpft.

Ich schlage daher eine andere Phrasierung vor. Kant fragte nicht nach diesem oder jenem, sondern nach der Vernunft selbst. Vernünftig oder unvernünftig ist nichts, was gewusst werden könnte, sondern das Wissen selbst. Das macht die Kopernikanische Wende aus. Wohl ist Wissen nur durch Erfahrung möglich; doch Erfahrung beruht auf einem Apriori, das vom Wissenden an das Erfahrbare herangetragen wird. Da bleibt Kant stehen. Woher das Apriori stammt, lässt er ganz offen. 

Fichte ging den zweiten Schritt. Das Apriori erwächst seinerseits aus der produktiven Ein-bildungkraft dessen, der Erfahrungen macht. Wird von der tatsächlichen Bestimmungen der Vernunft als vom Bedingten zurückgegangen auf das Bedingende, so kann sich am Schluss, das heißt eigentlich: am Anfang kein Faktum finden, sondern ein ursprünglicher Akt  - der Entschluss der Intelligenz, zu bestimmen. Wenn er selber nicht bedingt sein soll, muss er aus Freiheit geschehen sein, ohne sie keine Bestimmung des Unbestimmten. Ein Unbe-stimmtes ist aber gegeben und vorgefunden: Es ist das sinnliche Gefühl vom Widerstand der Sa-chen. Es zu bestimmen ist die Tätigkeit der Vernunft, und also nichts anderes als die Tätig-keit eines Vernünftigen.

Da er aus Freiheit gehandelt haben muss und ohne fremde Veranlassung, ist er noch ebenso unbestimmt wie die Widerstände, auf die er trifft und muss, indem er sie bestimmt, sich selbst bestimmen. Dies alles ist nichts Vorfindliches, das erfahren werden könnte. Es kann darauf lediglich geschlossen werden als auf ein Vorauszusetzendes. Da Vernunft in der Welt wirklich entstanden ist, muss ihr ein Anfang zugedacht werden, eine ursprüngliche prädika-tive Qualität, wie Fichte sie nennt; und ihr gegenüber die Widerstände der Dinge, die die Vernunft zu einer Welt bestimmt. Gedacht werden muss es als ein Absolutum, es ist nicht, wie der Stoff der Welt, vorfindlich, und ist bestimmbar nur durch sich.

Bei Fichte heißt es das absolute Ich. Man kann ihm in Raum und Zeit nicht begegnen und kann von ihm keine Erfahrung haben. Man kann es nur denken.

In Raum und Zeit begegnen kann man lebenden Personen, und weiß Gott Erfahrungen machen. Aber die sind Dieser und Einer und sind nicht aus Teilen zusammengesetzt. Man kann Merkmale an ihnen unterscheiden und sie unter diesem oder jenem Gesichtspunkt betrachten. Aber das sind alles keine Realien, sondern gedankliche Abstraktionen. Man kann auf sie reflektieren, doch dadurch werden sie nicht sachlich bedingt.

Eine solche Abstraktion ist das absolute Ich. Es ist dasjenige an den wirklichen Menschen, das vernünftige Zwecke setzt und nach ihnen handelt. Es ist nichts Reales, es 'kommt vor' allein in der Vorstellung; und anders wäre es ja nicht absolut. Man kann darauf reflektieren, aber dadurch würde es nicht in seinem etwaigen Sein, sondern lediglich in meiner Vorstel-lung 'bestimmt'.

Es wird lediglich gedacht; aber gedacht als eines, das sich selber bestimmt. Als ein Subjekt, das sein eignes Objekt, und als ein Objekt, das nichts als sein Subjekt selber ist.

Fichte nennt es darum das Subjekt-Objekt. Wir werden noch von ihm hören.

Von diesem Ausgangspunkt her entwickelt er die 'pragmatische Geschichte' des menschli-chen Geistes. Pragmatisch nämlich 'so, als ob' sie von Anbeginn auf ein Ziel hin gerichtet wesen wäre: die Vernunft. Sie lässt alles beiseite, was nicht dazugehört oder womöglich da-von abgelenkt hat, sie behält nur, was zur Vernunft führt.

Die ursprüngliche prädikative Qualität, alias produktive Einbildungskraft, ist nichts als ein fortwährender Trieb, zu bestimmen: sich selbst, indem es die Dinge, die Dinge, indem es sich selbst bestimmt. Man könnte meinen, der Trieb fände irgendwo, irgendwann sein Ziel. Aber das Ich, nämlich die prädikative Qualität, aus der es hervorging, war ohne Bestim-mung. Sein sich-selbst-Bestimmen ist seinerseits durch nichts bestimmt und ohne Ende. Das Ziel seines die-Welt-und-sich-selbst-Bestimmens ist schlechterdings durch nichts be-dingt. Es ist daher - ein Absolutes.

Vor oder hinter dem absoluten Ich also ein zweites Absolutes? Genaugenommen nicht. Denn eigentlich handelt es sich lediglich um zwei Ansichten des Absoluten, doch was man von hinten und vorn ansehen kann, ist bedingt und nicht absolut. Es handelt sich aber um eine und dieselbe Tätigkeit. Und nur, wenn wir Tätigkeit als eine Perlenkette von Taten auf-fassen und nicht als lebendig tun, nehmen wir eine Reihe von Mannigfaltigen wahr; andern-falls nur ein beständig fortschreitendes Agieren, das eo ipso eine Richtung hat, die ich mir nur als vorwärts und rückwärts veranschaulichen kann. Man mag es anders ausdrücken, und so tut es Fichte gelegentlichAbsolut und wirklich ist nur tun. Sein ist nur ein Reflexions-produkt.

*

Das war der Höhe- und Schlusspunkt der Transzendentalphilosophie. Jedenfalls idealiter. Fichte selbst ist davor zurückgeschreckt. Nicht die Anschuldigung des Atheismus hatte ihn wirklich wanken gemacht. Es war Jacobis Vorwurf des Nihilismus, die seine stets vorhan-dene, aber vom Aktivismus übertönte Sympathie für ein real Absolutes hervor- und in den Vordergrund rief: mehr Motiv als Grund.

Doch nun zu Hegel. Die Substanz, heißt es in der Einleitung zur Phänomenologie, müsse man "auch als Subjekt" auffassen. Das ist eine von den vielen unausgewiesenen Anleihen, aus denen Hegel sein System gebraut hat. Schelling, Hegels Zimmergenosse im Tübinger Stift, der zuerst als ein Popularisierer Fichtes galt, war auf die Idee gekommen, man bräuch-te das Subjekt - das transzendentale Ich - nur 'als Substanz aufzufassen', nämlich als Spino-zas deus sive natura, um die ganze sinnliche Welt von Raum und Zeit doch noch in der Transzendentalphilosophie unterzubringen, für die sich dort vorher kein Platz gefunden hatte. Schelling hat für den Rest seines Lebens darüber geschimpft, dass ihm Hegel seinen Einfall gestohlen und zum Grundstein seines Lehrgebäudes gemacht hätte.

Doch das war noch gar nichts. Nachdem Fichte an jenem Punkt den Rückzug angetreten hatte, konnte er ungeniert ein Realabsolutes zum Ausgangs- und Zielpunkt nicht einfach der Denk-, sondern der reellen Weltgeschichte machen! Plotins Dichtung vom Sein, das aus Laune oder Leidenschaft, jedenfalls ohne erkennbaren Grund "aus sich herausgeht", um sich in der Mannigfaltigkeit des Sinnlichen zu zerstreuen, und sich dann, wieder ohne Grund, neu zusammenrafft und in sich selbst, nun aber in praller Fülle und erfahrungssatt, zurückkehrt, wird zu einer rationellen Metaphysik mystifizert, in der das Große Ganze als... Subjekt-Objekt an die Stelle des biblischen Schöpfergottes tritt.

Danach war erstmal Schluss mit dem Philosophieren. Der kritische Aufbruch der Transzen-dentalphilosophie hatte im Verlauf der französischen Revolution für Furore gesorgt, doch wirklich Wurzeln geschlagen hatte er nirgends, und wo er immerhin Keime getrieben hatte, wurden sie nach dem Wiener Kongress ausgejätet. Das Bett war gemacht für das eklektische Räuchermännchen des ABSOLUTEN. Und es hat die Geister für wenigstens eine Genera-tion benebelt.

Die Transzendentalphilosphie ist seither, trotz manchen partikularen Rückgriffs auf Kant, nicht wieder aufgegriffen worden._____________________________________

*) Das epochemachende Werk von Richard Kroner hieß noch bescheiden: "Von Kant bis Hegel". Doch zum geflügelten Wort eignete sich die kräftigere Variante besser.

Kommentar zu 'Von Kant zu Hegel'?  JE 27. 8. 20

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