Mittwoch, 24. April 2024

Wiederkehr der Phänomenologie?

                                           zu Philosophierungen

Noch in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es ein lebendiges phä-nomenologisches Schrifttum. Dass eines Tages Philosophie auf die komplementär sterilen Lager von 'kontinentalen' Historikern und transatlantisch-'systematischen' Begriffsatomisten reduziert sein würde, hat man sich nicht träumen lassen. Bevor die Verheerung des postmodernen Anything goes hereinbrachen, meinte man un-befangen, dass es der Philosophie um Wahrheit zu tun sei. Seither begnügen sich die einen mit definitorischen, die andern mit philologischen Mikrologien, und wer etwas verstehen will, bleibt mit seinem Durst allein. Da sollte eine Wiederbelebung phänomenologischen Denkens heilsam sein.

Das Hauptverdienst der phänomenogischen Schule war, Wissen als einen intentio-nalen Akt und nicht als räsonnierende Empfängnis aufzufassen. Das macht ihre Nachbarschaft zur Transzendentalphilosophie aus. Der Unterschied liegt in der Enge ihres Horizonts und der Arglosigkeit ihrer Verfahren - eins folgt aus dem jeweils anderen. 

Transzendentalphilosophie beginnt als Kritik - nicht als Herumdoktern an den Elementen vorliegenden Wissens, sondern als Erwägung der Vernunft selbst. Die Phänomenologie - die so heißt, weil sie die Erscheinungsweisen des Bewusstseins zu ihrem Gegenstand macht - zieht von den uns gegebenen Begriffen all das ab, was an ihnen zufällig sein und also in je besonderen Erfahrungen gegründet sein könnte, um Schritt für Schritt in eidetischer Reduktion den originären Wesenskern freizulegen. Je mehr Einzelbestimmungen vom Begriffsphänomen abgezogen wer-den, umso mehr verblasst die Begrifflichkeit selbst und umsomehr Bild muss an ihre Stelle treten. Am Ende steht die Wesens-Schau, deren großer Mangel darin liegt, dass sie nicht mitgeteilt werden kann, weil sie keine Worte mehr hat.

Dieser Mangel ist irreparabel. Wenn restlos alle Begriffe der reduktionellen Kur unterzogen wären, könnte man sich doch immer noch nicht auf sie verständigen und keiner hätte etwas gewonnen. 

Das immerhin ist der Anspruch der 'systematischen' Sprachanalytiker: dass am Ende alle erdenklichen Begriffe unmissverständlich definiert, und etwelche Mei-nungverschiedenheiten eo ipso unmöglich geworden wären.

An der Stelle spätestens stößt die dogmatische Prämisse auf, die die Phänomeno-logen mit den Sprachanalytikern teilen: die Annahme atomarer Sinn-Kerne als letzt-endlichem Ursprung der in den "Sprachspielen" tatsächlich verwendeten Begriffe.

Als Edmund Husserl vor ziemlich genau hundert Jahren die platonischen Konse-quenzen seines Systems unter die Nase gerieben wurden, brach er seine diesbezüg-lichen Spekulationen ab. Das eigentliche Problem hätte an diesem Punkt aber erst begonnen: Wie hätten es diese an-sich-seienden eidoi wohl angestellt, in die Intenti-onalität wirklicher historischer Subjekte einzusickern? (Wittgenstein dagegen haben systematische Fragen nie gekratzt.)

Der Pferdefuß war, dass die Phänomenologie bei den Begriffen als Erscheinungs-weisen des Bewussstseins angefangen hat. Erscheinungsweise des Bewusstseins ist die ganze Vernunft selber. Sie ist das Phänomen, das es zu analysieren gilt, nicht ihre verstreuten Moleküle. 

Kant hat damit begonnen, aber weiter als bis zum "Apriori", den zwölf Kategorien und den beiden Anschauungsformen, ist er nicht gekommen. Fichte wollte mit der Wissenschaftslehre den Rest besorgen, doch fertig ist auch er nicht geworden und ist kurz vor Schluss sogar vom Wege abgekommen

Vorgedrungen war er bis zum Ursprung: dem Ich, 'das sich selbst setzt, indem es sich ein/em Nicht-Ich entgegensetzt'. Eine andere Bestimmung kann ihm nach vollständiger analytischer Reduktion nicht mehr zugerechnet werden, als die, zu wollen - denn ohne dies hätte es nie anfangen können.

Aus dieser einen und einzigen Prämisse muss der ganze Entwicklungsgang der Ver-nunft rekonstruiert werden können, und wenn dies gelingt, ist sie wohl nicht bewie-sen, aber immerhin so weit gerechtfertigt, dass sie dem Ganzen als Postulat zu Grun-de gelegt werden kann. Diese Rekonstruktion ist der Wissenschaftslehre, unerachtet einiger weniger Lücken und einzelner Abwege, gelungen

Und seien Sie versichert: Psychologie war dabei an keiner Stelle vonnöten.

So konnte Reinhard Lauth, der Herausgeber der Fichte-Gesamtausgabe, denn sa-gen: die Phänomenologie habe zur Erkenntnis 'nichts beigetragen, was nicht die Transzendentalphilosophie früher und besser ausgesprochen hat'.

Kommentar zu Phänomenologie des Bewusstseins oder Psychologie? JE, 12. 2. 22

 

 

Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

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