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Mittwoch, 24. April 2024

Wiederkehr der Phänomenologie?

                                           zu Philosophierungen

Noch in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es ein lebendiges phä-nomenologisches Schrifttum. Dass eines Tages Philosophie auf die komplementär sterilen Lager von 'kontinentalen' Historikern und transatlantisch-'systematischen' Begriffsatomisten reduziert sein würde, hat man sich nicht träumen lassen. Bevor die Verheerung des postmodernen Anything goes hereinbrachen, meinte man un-befangen, dass es der Philosophie um Wahrheit zu tun sei. Seither begnügen sich die einen mit definitorischen, die andern mit philologischen Mikrologien, und wer etwas verstehen will, bleibt mit seinem Durst allein. Da sollte eine Wiederbelebung phänomenologischen Denkens heilsam sein.

Das Hauptverdienst der phänomenogischen Schule war, Wissen als einen intentio-nalen Akt und nicht als räsonnierende Empfängnis aufzufassen. Das macht ihre Nachbarschaft zur Transzendentalphilosophie aus. Der Unterschied liegt in der Enge ihres Horizonts und der Arglosigkeit ihrer Verfahren - eins folgt aus dem jeweils anderen. 

Transzendentalphilosophie beginnt als Kritik - nicht als Herumdoktern an den Elementen vorliegenden Wissens, sondern als Erwägung der Vernunft selbst. Die Phänomenologie - die so heißt, weil sie die Erscheinungsweisen des Bewusstseins zu ihrem Gegenstand macht - zieht von den uns gegebenen Begriffen all das ab, was an ihnen zufällig sein und also in je besonderen Erfahrungen gegründet sein könnte, um Schritt für Schritt in eidetischer Reduktion den originären Wesenskern freizulegen. Je mehr Einzelbestimmungen vom Begriffsphänomen abgezogen wer-den, umso mehr verblasst die Begrifflichkeit selbst und umsomehr Bild muss an ihre Stelle treten. Am Ende steht die Wesens-Schau, deren großer Mangel darin liegt, dass sie nicht mitgeteilt werden kann, weil sie keine Worte mehr hat.

Dieser Mangel ist irreparabel. Wenn restlos alle Begriffe der reduktionellen Kur unterzogen wären, könnte man sich doch immer noch nicht auf sie verständigen und keiner hätte etwas gewonnen. 

Das immerhin ist der Anspruch der 'systematischen' Sprachanalytiker: dass am Ende alle erdenklichen Begriffe unmissverständlich definiert, und etwelche Mei-nungverschiedenheiten eo ipso unmöglich geworden wären.

An der Stelle spätestens stößt die dogmatische Prämisse auf, die die Phänomeno-logen mit den Sprachanalytikern teilen: die Annahme atomarer Sinn-Kerne als letzt-endlichem Ursprung der in den "Sprachspielen" tatsächlich verwendeten Begriffe.

Als Edmund Husserl vor ziemlich genau hundert Jahren die platonischen Konse-quenzen seines Systems unter die Nase gerieben wurden, brach er seine diesbezüg-lichen Spekulationen ab. Das eigentliche Problem hätte an diesem Punkt aber erst begonnen: Wie hätten es diese an-sich-seienden eidoi wohl angestellt, in die Intenti-onalität wirklicher historischer Subjekte einzusickern? (Wittgenstein dagegen haben systematische Fragen nie gekratzt.)

Der Pferdefuß war, dass die Phänomenologie bei den Begriffen als Erscheinungs-weisen des Bewussstseins angefangen hat. Erscheinungsweise des Bewusstseins ist die ganze Vernunft selber. Sie ist das Phänomen, das es zu analysieren gilt, nicht ihre verstreuten Moleküle. 

Kant hat damit begonnen, aber weiter als bis zum "Apriori", den zwölf Kategorien und den beiden Anschauungsformen, ist er nicht gekommen. Fichte wollte mit der Wissenschaftslehre den Rest besorgen, doch fertig ist auch er nicht geworden und ist kurz vor Schluss sogar vom Wege abgekommen

Vorgedrungen war er bis zum Ursprung: dem Ich, 'das sich selbst setzt, indem es sich ein/em Nicht-Ich entgegensetzt'. Eine andere Bestimmung kann ihm nach vollständiger analytischer Reduktion nicht mehr zugerechnet werden, als die, zu wollen - denn ohne dies hätte es nie anfangen können.

Aus dieser einen und einzigen Prämisse muss der ganze Entwicklungsgang der Ver-nunft rekonstruiert werden können, und wenn dies gelingt, ist sie wohl nicht bewie-sen, aber immerhin so weit gerechtfertigt, dass sie dem Ganzen als Postulat zu Grun-de gelegt werden kann. Diese Rekonstruktion ist der Wissenschaftslehre, unerachtet einiger weniger Lücken und einzelner Abwege, gelungen

Und seien Sie versichert: Psychologie war dabei an keiner Stelle vonnöten.

So konnte Reinhard Lauth, der Herausgeber der Fichte-Gesamtausgabe, denn sa-gen: die Phänomenologie habe zur Erkenntnis 'nichts beigetragen, was nicht die Transzendentalphilosophie früher und besser ausgesprochen hat'.

Kommentar zu Phänomenologie des Bewusstseins oder Psychologie? JE, 12. 2. 22

 

 

Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Freitag, 22. September 2023

'Von Kant zu Hegel'?

                                                                  zu Philosophierungen

Dass zu Hegels [heutigem Jubiläum] die Lobgesänge niederprasseln würden, war zu erwar-ten. Was dazu sachlich zu sagen war, finden Sie in meinem gestrigen Eintrag. Heute geht es um das Historische; um die folgenreichste Mystifikation der Philosophiegeschichte, ohne die noch der gegenwärtige Zwist zwischen 'systematischer' und 'kontinentaler' Philosophie gar nicht denkbar wäre. Nämlich um die Legende vom pp. Deutschen Idealismus unterm Titel "Von Kant zu Hegel".*

Um es vorab zu sagen: Das war keine böswillige Machination von Leuten, die es besser wussten. Der eine oder andere hätte sich ein wenig zusammenreißen können, doch summa summarum handelte es sich um das "notwendig falsche Bewusstein" von Leuten, die tiefer in ihre Zeit verstrickt waren, als sie ahnten.

Nicht zuletzt, sondern zuerst bei dem, der die Sache zugespitzt hatte und bei dem sie um-gekippt war. Korrekt müsste die historische Beschreibung lauten: Der Aufstieg der Trans-zendentalphilosophie und ihre Verkehrung ins GegenteilSebastian Ostritsch streift es gradmal am Rande.

Die Legende sagt: Kant habe die Objektivität des dogmatischen Rationalismus zu Fall ge-bracht. Fichte habe an dessen Stelle den Subjektiven Idealismus gesetzt. Schelling habe dessen Einseitigkeit zum Objektiven Idealimus ergänzt. Hegel habe schließlich Alles im Absoluten Idealismus vereinigt.

Was aber danach kam, sagt keiner mehr; es war das Ende der Philosophie für Jahrzehnte. Hegel hatte, seinem eigenen Anspruch entsprechend, das Philosophieren erschöpft.

Ich schlage daher eine andere Phrasierung vor. Kant fragte nicht nach diesem oder jenem, sondern nach der Vernunft selbst. Vernünftig oder unvernünftig ist nichts, was gewusst werden könnte, sondern das Wissen selbst. Das macht die Kopernikanische Wende aus. Wohl ist Wissen nur durch Erfahrung möglich; doch Erfahrung beruht auf einem Apriori, das vom Wissenden an das Erfahrbare herangetragen wird. Da bleibt Kant stehen. Woher das Apriori stammt, lässt er ganz offen. 

Fichte ging den zweiten Schritt. Das Apriori erwächst seinerseits aus der produktiven Ein-bildungkraft dessen, der Erfahrungen macht. Wird von der tatsächlichen Bestimmungen der Vernunft als vom Bedingten zurückgegangen auf das Bedingende, so kann sich am Schluss, das heißt eigentlich: am Anfang kein Faktum finden, sondern ein ursprünglicher Akt  - der Entschluss der Intelligenz, zu bestimmen. Wenn er selber nicht bedingt sein soll, muss er aus Freiheit geschehen sein, ohne sie keine Bestimmung des Unbestimmten. Ein Unbe-stimmtes ist aber gegeben und vorgefunden: Es ist das sinnliche Gefühl vom Widerstand der Sa-chen. Es zu bestimmen ist die Tätigkeit der Vernunft, und also nichts anderes als die Tätig-keit eines Vernünftigen.

Da er aus Freiheit gehandelt haben muss und ohne fremde Veranlassung, ist er noch ebenso unbestimmt wie die Widerstände, auf die er trifft und muss, indem er sie bestimmt, sich selbst bestimmen. Dies alles ist nichts Vorfindliches, das erfahren werden könnte. Es kann darauf lediglich geschlossen werden als auf ein Vorauszusetzendes. Da Vernunft in der Welt wirklich entstanden ist, muss ihr ein Anfang zugedacht werden, eine ursprüngliche prädika-tive Qualität, wie Fichte sie nennt; und ihr gegenüber die Widerstände der Dinge, die die Vernunft zu einer Welt bestimmt. Gedacht werden muss es als ein Absolutum, es ist nicht, wie der Stoff der Welt, vorfindlich, und ist bestimmbar nur durch sich.

Bei Fichte heißt es das absolute Ich. Man kann ihm in Raum und Zeit nicht begegnen und kann von ihm keine Erfahrung haben. Man kann es nur denken.

In Raum und Zeit begegnen kann man lebenden Personen, und weiß Gott Erfahrungen machen. Aber die sind Dieser und Einer und sind nicht aus Teilen zusammengesetzt. Man kann Merkmale an ihnen unterscheiden und sie unter diesem oder jenem Gesichtspunkt betrachten. Aber das sind alles keine Realien, sondern gedankliche Abstraktionen. Man kann auf sie reflektieren, doch dadurch werden sie nicht sachlich bedingt.

Eine solche Abstraktion ist das absolute Ich. Es ist dasjenige an den wirklichen Menschen, das vernünftige Zwecke setzt und nach ihnen handelt. Es ist nichts Reales, es 'kommt vor' allein in der Vorstellung; und anders wäre es ja nicht absolut. Man kann darauf reflektieren, aber dadurch würde es nicht in seinem etwaigen Sein, sondern lediglich in meiner Vorstel-lung 'bestimmt'.

Es wird lediglich gedacht; aber gedacht als eines, das sich selber bestimmt. Als ein Subjekt, das sein eignes Objekt, und als ein Objekt, das nichts als sein Subjekt selber ist.

Fichte nennt es darum das Subjekt-Objekt. Wir werden noch von ihm hören.

Von diesem Ausgangspunkt her entwickelt er die 'pragmatische Geschichte' des menschli-chen Geistes. Pragmatisch nämlich 'so, als ob' sie von Anbeginn auf ein Ziel hin gerichtet wesen wäre: die Vernunft. Sie lässt alles beiseite, was nicht dazugehört oder womöglich da-von abgelenkt hat, sie behält nur, was zur Vernunft führt.

Die ursprüngliche prädikative Qualität, alias produktive Einbildungskraft, ist nichts als ein fortwährender Trieb, zu bestimmen: sich selbst, indem es die Dinge, die Dinge, indem es sich selbst bestimmt. Man könnte meinen, der Trieb fände irgendwo, irgendwann sein Ziel. Aber das Ich, nämlich die prädikative Qualität, aus der es hervorging, war ohne Bestim-mung. Sein sich-selbst-Bestimmen ist seinerseits durch nichts bestimmt und ohne Ende. Das Ziel seines die-Welt-und-sich-selbst-Bestimmens ist schlechterdings durch nichts be-dingt. Es ist daher - ein Absolutes.

Vor oder hinter dem absoluten Ich also ein zweites Absolutes? Genaugenommen nicht. Denn eigentlich handelt es sich lediglich um zwei Ansichten des Absoluten, doch was man von hinten und vorn ansehen kann, ist bedingt und nicht absolut. Es handelt sich aber um eine und dieselbe Tätigkeit. Und nur, wenn wir Tätigkeit als eine Perlenkette von Taten auf-fassen und nicht als lebendig tun, nehmen wir eine Reihe von Mannigfaltigen wahr; andern-falls nur ein beständig fortschreitendes Agieren, das eo ipso eine Richtung hat, die ich mir nur als vorwärts und rückwärts veranschaulichen kann. Man mag es anders ausdrücken, und so tut es Fichte gelegentlichAbsolut und wirklich ist nur tun. Sein ist nur ein Reflexions-produkt.

*

Das war der Höhe- und Schlusspunkt der Transzendentalphilosophie. Jedenfalls idealiter. Fichte selbst ist davor zurückgeschreckt. Nicht die Anschuldigung des Atheismus hatte ihn wirklich wanken gemacht. Es war Jacobis Vorwurf des Nihilismus, die seine stets vorhan-dene, aber vom Aktivismus übertönte Sympathie für ein real Absolutes hervor- und in den Vordergrund rief: mehr Motiv als Grund.

Doch nun zu Hegel. Die Substanz, heißt es in der Einleitung zur Phänomenologie, müsse man "auch als Subjekt" auffassen. Das ist eine von den vielen unausgewiesenen Anleihen, aus denen Hegel sein System gebraut hat. Schelling, Hegels Zimmergenosse im Tübinger Stift, der zuerst als ein Popularisierer Fichtes galt, war auf die Idee gekommen, man bräuch-te das Subjekt - das transzendentale Ich - nur 'als Substanz aufzufassen', nämlich als Spino-zas deus sive natura, um die ganze sinnliche Welt von Raum und Zeit doch noch in der Transzendentalphilosophie unterzubringen, für die sich dort vorher kein Platz gefunden hatte. Schelling hat für den Rest seines Lebens darüber geschimpft, dass ihm Hegel seinen Einfall gestohlen und zum Grundstein seines Lehrgebäudes gemacht hätte.

Doch das war noch gar nichts. Nachdem Fichte an jenem Punkt den Rückzug angetreten hatte, konnte er ungeniert ein Realabsolutes zum Ausgangs- und Zielpunkt nicht einfach der Denk-, sondern der reellen Weltgeschichte machen! Plotins Dichtung vom Sein, das aus Laune oder Leidenschaft, jedenfalls ohne erkennbaren Grund "aus sich herausgeht", um sich in der Mannigfaltigkeit des Sinnlichen zu zerstreuen, und sich dann, wieder ohne Grund, neu zusammenrafft und in sich selbst, nun aber in praller Fülle und erfahrungssatt, zurückkehrt, wird zu einer rationellen Metaphysik mystifizert, in der das Große Ganze als... Subjekt-Objekt an die Stelle des biblischen Schöpfergottes tritt.

Danach war erstmal Schluss mit dem Philosophieren. Der kritische Aufbruch der Transzen-dentalphilosophie hatte im Verlauf der französischen Revolution für Furore gesorgt, doch wirklich Wurzeln geschlagen hatte er nirgends, und wo er immerhin Keime getrieben hatte, wurden sie nach dem Wiener Kongress ausgejätet. Das Bett war gemacht für das eklektische Räuchermännchen des ABSOLUTEN. Und es hat die Geister für wenigstens eine Genera-tion benebelt.

Die Transzendentalphilosphie ist seither, trotz manchen partikularen Rückgriffs auf Kant, nicht wieder aufgegriffen worden._____________________________________

*) Das epochemachende Werk von Richard Kroner hieß noch bescheiden: "Von Kant bis Hegel". Doch zum geflügelten Wort eignete sich die kräftigere Variante besser.

Kommentar zu 'Von Kant zu Hegel'?  JE 27. 8. 20

Dienstag, 15. Oktober 2024

Wo bleiben heute die großen Denker?

Fragonard, Le philosophe
aus Die Presse, Wien, 14. 10. 2024               Wo bleiben heute die großen Denker?                         zu Philosophierungen

„Die öffentlichen Intellektuellen haben sich überlebt“
Geert Keil erklärt, wie Philosophen heute arbeiten. Über Willensfreiheit, den Fluch des Englischen, unverständliche Mystiker, den Rassisten Kant, den Antisemiten Heidegger – und das Problem mit den Faktencheckern. 

von Karl Gaulhofer

Die Presse: „Uns gehen die mitreißenden Denker aus“, wurde jüngst in der „NZZ“ geklagt. „Wo bleiben die Nachfolger von Foucault und Habermas?“, also Philoso-phen, die unsere Weltbilder mitbestimmen und in gesellschaftliche Debatten hinein-wirken. Ist die Zeit der epochemachenden Meisterdenker vorbei?

Geert Keil: Sie ist aus guten Gründen vorbei. Um zu den großen politischen Themen der Gegenwart Stellung zu nehmen, vom Nahostkonflikt bis zur Klimaforschung, braucht man ein riesiges Maß an sachlicher Expertise. Wir haben auch einen Strukturwandel in der öffentlichen Kommunikation, wo heute sehr viele Sprecher ihr Wissen oder auch Nichtwissen einspeisen können. Dass es dann noch Leute gibt, die das alles zusammenführen und sich als öffentliche Intellektuelle mit Durchblick und überlegener Urteilskraft aufspielen – nein, solche Figuren haben sich überlebt.

Die Philosophie wirkt heute wie alle Disziplinen: Man schreibt kurze Artikel in Fachjournalen zu sehr speziellen Problemen. Wo bleiben die großen Fragen, der Blick aufs große Ganze?

Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Nehmen wir ein Beispiel: Ich selbst habe viel zu Willensfreiheit gearbeitet – das ist ja nun zweifellos eine große, alte und öffentlichkeitswirksame Frage. Dazu passt der schöne Spruch: Es gibt kein noch so kompliziertes Problem, das nicht, wenn man es richtig angeht, noch komplizierter würde. Es gehört zu den Hauptbeschäftigungen der Philosophie, Antworten auf trügerisch einfache Fragen zu verweigern. Hat der Mensch einen freien Willen oder hat die Hirnforschung diese Annahme widerlegt? Das ist eine schlecht gestellte Entweder-oder-Frage, darauf antworten wir nicht. Stattdessen stellen wir Vorfragen, oft begrifflicher Art: Was sollen wir unter Willensfreiheit sinnvollerweise verstehen? An welchem Verständnis hat sich die Hirnforschung abgearbeitet? Wir zerlegen also eine große Frage. Das wird dann kleinteilig, und das ist auch gut so, obwohl es weniger spannend klingt. Unser Job ist ja, etwas Neues herauszukriegen, und das heißt in der Regel: etwas Kleines herauskriegen. Zusätzlich sollte es Leute geben, die diese zerlegten Teile wieder zusammensetzen und ab und zu ein Sachbuch schreiben, für eine größere Öffentlichkeit. Auch das geschieht bereits.

Aber große Würfe sind selten geworden.

Große neue Ideen klingen oft aufregend. Aber ob sie tatsächlich eine Einsicht enthalten, ist eine andere Frage. Man kann die grobe Regel aufstellen: Je vollmundiger eine These auf den Markt geworfen wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie falsch ist. Denken Sie an Slogans wie „Tatsachen sind konstruiert“ oder „Alle Wahrheiten sind von Menschen gemacht“ – das kommt von Debattenteilnehmern, die noch nie einen Grundkurs in Erkenntnistheorie besucht haben.

Ist die Philosophie eine Wissenschaft?

Wir sollten Wissenschaft als Erkenntnissuche sehen, die methodisch kontrolliert, fehlbar und ergebnisoffen ist. Dazu trägt die akademische Philosophie sicherlich bei. Die besten zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Methoden können auch philosophische sein. Bei manchen Forschungsfragen, die sich naturwissenschaftlich nicht beantworten lassen, sind sie sogar die einzigen.

Auch in der Philosophie dominieren heute Texte auf Englisch. Geraten da nicht alle, die sich in dieser Sprache nicht so elaboriert ausdrücken können, ins Hintertreffen?

Ja, das tun sie, zwangsläufig. Wer kein Native Speaker ist, hat einen echten Nachteil. Ich verliere sicherlich 15 Prozent an Qualität, wenn ich auf Englisch schreibe – und wer kann sich das schon leisten? Aber die Entwicklung liegt nicht in unserer Hand. Irgendeine Lingua franca braucht es, früher war es Latein. Um 1910 mussten Sie als Physiker oder Chemiker Deutsch können – die wichtigen Journale waren alle in deutscher Sprache. Sicher ist es durch die Nazizeit etwas schneller gegangen, dass Deutsch seine Rolle als globale Wissenschaftssprache verloren hat. Aber es war unvermeidlich. Und die Philosophen leiden darunter stärker als etwa die Mediziner. Die Fähigkeit, eine stilistisch gewandte Prosa zu schreiben, ist bei uns wichtiger. Dazu gibt es auch linguistische Untersuchungen: Die Fachsprache der Medizin kommt mit wenigen Dutzend Verben aus. Das wäre für mich furchtbar.

Sie waren Präsident der deutschen Gesellschaft für Analytische Philosophie, der heute weltweit dominierenden Richtung. Was zeichnet sie aus?

Analytische Philosophen möchten nicht durch Assoziationen philosophieren, sondern mit Argumenten. Sie versuchen, sich klar auszudrücken. Dazu gehört auch die Analyse von Begriffen. In der analytischen Philosophie wird das auf Frege, Russell, Wittgenstein zurückgeführt. Aber natürlich sind das Tugenden, um die sich auch schon Aristoteles, Hume oder Kant bemüht haben. Insofern fehlt mir der Gegenbegriff. Man spricht von der „kontinentalen Philosophie“, also vom europäischen Festland – aber die wird sich doch nicht dadurch auszeichnen, dass sie sich nicht um Argumente schert? Die Unterscheidung hat stark an Bedeutung verloren.

Gibt es nicht mehrere gleich gute Wege des Philosophierens?

Es gibt zum Beispiel auch Mystiker. Aber man kann nicht alles zugleich haben. Mir gefällt die Sottise von Lichtenberg über den Mystiker Jakob Böhme: Seine „unsterblichen Werke“ seien „wie ein Picknick, wo der eine die Worte mitbringt und der andere den Sinn“. Diese Spitze mache ich mir zu eigen: Wenn die Gegenstände schon sehr schwierig sind – und das sind sie in der Philosophie durchgängig – dann sollten wir uns bemühen, sie in möglichst klarer, einfacher Sprache darzulegen.

In „Ihrer“ analytischen Philosophie herrscht oft Geschichtsvergessenheit: Man stellt sich eine systematische Frage und ignoriert, dass sie schon viele vor uns umgetrieben hat. Man erfindet das Rad neu, und es wird dann oft eckig …

Da ist einiges dran. Ich selbst sehe Aristoteles, Descartes oder Kant als Gesprächspartner für die Klärung von Fragen, die mich interessieren. Das ist immer lohnend, weil die wahnsinnig schlau waren, die meisten auch schlauer als wir. Wäre ja sehr unwahrscheinlich, dass die Mehrzahl der klugen Gedanken von den Leuten stammen, die jetzt gerade leben. Ein Kollege, der sehr seriös historisch arbeitet, hat einmal gesagt: „Der durchschnittliche Philosophieprofessor bewegt sich in der Geschichte wie ein Fallschirmjäger: Er springt über unbekanntem Gelände ab, ballert ein bisschen rum und verschwindet wieder, mit einem Zitat von Duns Scotus im Gepäck.“ Das finde ich sehr treffend, viele von uns haben diese Mentalität. Wir projizieren: Wir stülpen früheren Denkern unsere Fragen über. Dabei hatten sie andere Fragen, die nur oberflächlich gleich klingen.

Es heißt, Kant sei ein Rassist gewesen. Sollen wir ihn trotzdem noch lesen?

Kant war nach heutigen Standards ein Rassist, die entsprechenden Passagen sind schlimm. Wir haben aber keinen Grund zur Selbstgerechtigkeit: Kant hat sich durch Selberdenken aus mehr Vorurteilen herausgearbeitet als so gut wie alle von uns. Nur: Selberdenken schützt nicht vor groben moralischen Fehlurteilen, auch uns nicht. Seine blinden Flecken sehen wir jetzt, unsere eigenen noch nicht.

Und den Antisemiten Heidegger?

Heideggers Urteilsschwäche ist von einem ganz anderen Kaliber als die von Kant. Was da in den „Schwarzen Heften“ über das „Weltjudentum“ steht – die schiere Anzahl der infamen Verdrehungen, die Heidegger in einem einzigen Satz unterbringt, das kann einem die Sprache verschlagen. Und sein Antisemitismus spielt indirekt, aber wesentlich in seine Philosophie hinein. Er hat die Moderne in allen ihren Erscheinungsformen verachtet: die Technik, das Finanzwesen, das kalkulierende Denken, den Kosmopolitismus, die Demokratie. Eine toxische Mischung, nicht nur in Bezug auf antisemitische Stereotype. Lassen Sie mich etwas übertreiben: Heideggers Werk besteht wesentlich aus philosophisch verbrämten Ressentiments. Dass die Zeitlichkeit unserer Existenz bedeutsam ist, kann man auch ohne seine Lektüre herausbekommen. Und dass es mir Sorge bereiten sollte, dass ich sterben muss, wusste ich auch schon vorher. ...

 

Nota. -  Dies schrieb ich bei einer ähnlichen Gelegenheit:

Nicht die mitreißenden Denker fehlen, sondern mitreißende Gedanken. Das ist nicht trivial. Gedanken müssen in der Luft liegen, um Erfolg zu haben - dann werden sich schon welche finden, die sie publikumswirksam vorzutragen wissen. Wenn aber die Ideen sich als Mehltau niederschlagen, geraten auch die Vorträger in Vergessenheit. Wenn Foucault unlängst wieder Aufmerksamkeit fand, lag das nicht an seinen Ideen.

Mitreißende Denker werden durch mitreißende Gedanken generiert, nach denen muss man schauen, nicht nach den eigenen Chancen auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Und mitreißende Gedanken werden nicht generiert, indem man aufs Mitreißen schaut, sondern auf die Gedan-ken, und eben nicht auf das, was in der Luft liegt.

Hier könnte ich aufhören. Aber das ist nicht bloß ein Zirkel, sondern eine Spirale. Denn was in der Luft liegt, kann auch der Smog von ein paar Jahrzehnten sein - oder Jahrhunderten. Man muss wohl schon auf die Luft achten, und sei es nur, um sie auf-zu-klären. Womit sonst aber als  - Ideen?

Und nicht muss man darauf schauen, ob sie denn neu sind, neuer als das jüngst Verschimmelte. Manchmal wirkt ein Zurück zu den Quellen Wunder.

Unsere Quelle ist das Scheitern der kopernikanischen Revolution vor schon gut zweihundert Jahren, das Versickern und Versanden der Vernunftkritik. Danach ist viel passiert, aber die Wunde schwärt immer noch. Als hätte es die Kant'sche Kritik nie gegeben, brach nach dem Hegel'schen Desaster wieder treuherzige Positivität aus, jeder durfte mal sein Glück versuchen. Lebensphilosophie, Technizismus und Organik, Spiritismus und Naturmystik. Die Neukanti-aner schufen der Deutschen Hochschulphilosophie ihren Raum, aber die blieb summa sum-marum hölzernes Bücherwissen. 
 
Metaphysik fand derweil in Makro- und Mikrophysik ihre heimlichen Schlupflöcher. Der origi-nelle, aber improvisierte Versuch Husserls, mit der Phänomenologie eine neue Kritizität zu be-gründen, wurde umgehend von Heidegger verballhornt, und die Vernunft kam in Verruf. 
 
So nahm das zwanzigste Jahrhundert seinen bekannten Lauf. Nach dem großen Krieg fiel der Philosophie eine restaurative Rolle zu. Geisteswissenschaft und Hermeneutik brachten den ge-sunden Menschenverstand zu neuen Ehren, und die Frankfurter Schule goss darüber ihren be-schwipsenden Jargon. 
 
Der Status quo ante war wiederhergestellt. Es folgten Dekonstruktivismus und Postmoderne und Anything goes. Philosophie ward eine Sache des Feuilletons, doch kein Hahn krähte noch nach ihr. Sie blieb übrig als universitäres Orchideenfach, das sich so eben noch gegen den kw-Vermerk behauptet.
 
Da stehen wir nun. Gegenwartsphilosophie ist akademisch und zerfällt in zwei breite aber nicht reißende Ströme, die miteinander nur an den Rändern in Berührung kommen, im großen Gan-zen aber jede in bleiern ruhigem Fluß vor sich hin murmelt, bibliometrische Journale füllt und von der restlichen Welt nicht beachtet wird: hier das unerschütterliche Lager der kontinentalen historisch-philologieschen Spitzenklöpper, da die bewegten Meuten der systematisch-analyti-schen Flohknicker, die frohgemut nochmal ganz von vorne anfangen wollen.

Würde es etwas ändern, wenn auf einer der beiden Seiten ein Phönix aufstiege und überall Applaus fände? 
 
Ein frisches Gesicht, ein klingender Name werden erst was hermachen, wenn sie was Neues zur Sprache bringen. Wir leiden seit zweihundert Jahren an jener schwärenden Wunde, die nur darauf wartet, erfragt zu werden, um fast spontan zu ihrer Selbstheilung zu finden. Und nach so langer Verschleppung wäre das was Neues.
21. 8. 24


Mittwoch, 16. Oktober 2024

Krise des Westens - ein Problem der Psychostruktur...

Von einem «Ende der Geschichte» kann keine Rede sein. «Der runde Turm» von Giovanni Battista Piranesi.Piranesi, Der runde Turm
aus nzz.ch, 15. 10. 2024                                                                                              zu öffentliche Angelegenheiten

Die westliche Wert- und Weltordnung erodiert auf vielen Ebenen – die Zeit zum Gegensteuern läuft ab
Der Westen befindet sich in einer intellektuellen und geistigen Krise: Wissen wird nicht mehr verinnerlicht, Wahrheiten werden erfühlt, Selbstwiderspruch stört nicht mehr, Diskursverweigerung nimmt zu. Es sieht nicht gut aus für den Fortbestand von Freiheit und Demokratie.
 
von Dietmar Hansch
 
Der Fortschritt der Menschheitsgeschichte basiert auf dem allmählichen Erstarken der Rationalität. In der Moderne gewann der Geist der Vernunft die Oberhand über die archaischen Instinkte, die unser Verhalten im Dienste von Art- und Machterhal-tung seit Urzeiten prägten. Dank der Aufklärung und mit den Mitteln von Revolu-tion und Reform gelang es den europäischen Gesellschaften zunehmend, Eigen- und Gruppeninteressen den Prinzipien von Moral und Gesetz zu unterstellen.

Die Epochenwende von 1989 brachte mit dem Ende des real existierenden Sozia-lismus einen Triumph des Freiheits- und Gerechtigkeitsgedankens, was manche veranlasste, vom «Ende der Geschichte» zu sprechen. Danach schien das Prinzip der wissenschaftsbasierten, rechtsstaatlich verfassten liberalen Demokratie weltweit konkurrenzlos gesiegt zu haben.

Flexible Zusammenschlüsse

Während der vormoderne Mensch fest in die Netzwerke von Clans und Stämmen integriert war und sein Verhalten streng nach deren Erfordernissen ausrichtete, de-finiert sich der moderne Mensch als Individuum, das seine persönlichen Fähigkeiten zu entwickeln trachtet, einen analytischen Geist ausbildet und sein Verhalten ratio-nalen Prinzipien unterwirft. Diese modernen Individuen lösen sich in der Neuzeit aus den starren, auf genetischer Verwandtschaft basierenden Sozialstrukturen, wer-den mobil und bilden zunehmend Institutionen durch flexiblen und freiwilligen Zusammenschluss nach den Erfordernissen des Geistes, in Form von Städten, Zünften, Universitäten, Unternehmen, modernen Staaten.

Dieser Prozess wurde entscheidend gefördert durch die Ehe- und Familienpolitik der katholischen Kirche: Verbot von Viel- und Verwandtenehe, Förderung der mo-nogamen Kernfamilie mit entsprechenden Erbschafts- und flexiblen Wohnsitznor-men, Förderung einer geistig-religiös begründeten Identität. Ebenso bedeutsam war die Förderung von Alphabetisierung und allgemeiner Lesekultur durch den Prote-stantismus: Jeder Christ war angehalten, die Bibel selbst zu lesen.

All dies und der langsam in Gang kommende technologische Fortschritt traten in ein Verhältnis wechselseitiger Verstärkung – mit tiefgreifenden Konsequenzen für Gehirnfunktion und Psychologie. Selbstdisziplin und Arbeitsethik verbesserten sich. Die Regeln von Logik und Wissenschaftlichkeit wurden erkannt und gelernt.

Es gelang zunehmend, den Denkraum von ausserrationalen Einflüssen wie Instink-ten und Emotionen abzuschirmen. Durch Wissensaneignung entstanden umfassen-de innere Modelle, welche die äussere Lebenswelt in immer mehr Facetten abbil-deten und komplexe Abwägungsentscheidungen in Bezug auf das Gesellschafts-ganze ermöglichten. Theoretische und diskursive Kompetenz entwickelten sich: Dem entwuchs das Bewusstsein, dass der Einzelne perspektivisch beschränkt ist und die Welt immer nur in unvollständigen mentalen Modellen zu erfassen vermag, die niemals ein absolut wahres Abbild der gesamten Realität liefern.

So wurde es möglich, sich in den anderen hineinzuversetzen, um im gewaltfreien Diskurs kreativ mit Meinungen umzugehen und sachlichen Erkenntnisfortschritt zu erzielen.

In dieser Entwicklung kam immer mehr zum Tragen, was die Psychologie als Kohä-renzgefühl bezeichnet. Menschen geniessen kohärente Abläufe desto mehr, je kom-plexer und stimmiger sie geraten. Finden lässt sich das beispielsweise im Erleben einer Gruppe, die im Gleichtakt und unter pulsierendem Licht zu Musik tanzt. Das gilt auch im Geistigen: Philosophen geniessen die Eleganz ihrer Gedankenfiguren, Physiker erleben ihre Theorien als schön. Solch subjektive Kohärenzorientierung hat sich oft als guter intuitiver Wegweiser in Richtung objektiver Wahrheit erwiesen.

Im entwickelten Geist entsteht so eine intrinsische Motivation, die eigene Kohärenz immer weiter zu steigern, Unverbundenes zu verbinden und Widersprüche auszu-schalten. Kognitive Dissonanzen dagegen sind schwer auszuhalten. Von einem Sinnzusammenhang getragen zu sein, füllt den Menschen aus, macht ihn glücklich, ja sogar gesund.

Zeitalter der Unaufmerksamkeit

Die Pflege dieses Geistes hat nun zwei ganz zentrale psychostrukturelle Voraus-setzungen, die mit Mühe und Anstrengung verbunden sind. Es muss in grossem Umfang Wissen eingelernt und verinnerlicht werden. Weiter müssen die eingelern-ten Wissensteile im Inneren angepasst und kohärent integriert werden, was oft eigenkreative Ergänzungen erfordert.

Diese mühevolle und langwierige innere Arbeit kann nur gelingen unter der Bedin-gung existenzieller Abgesichertheit, der Verfügbarkeit von Zeit und der Pflege von Konzentration. Solches zu garantieren, ist die Aufgabe von Lehrkräften und Bil-dungseinrichtungen auf allen Stufen.

Allerdings ist es seit dem Siegeszug der Massen- und Konsumkultur, vor allem aber seit dem Aufkommen des Internets um diese Bedingungen nicht mehr zum Besten bestellt. Die Explosion digitaler Inhalte aller Art führt zu einer dramatischen Ver-knappung der Ressource Aufmerksamkeit. Klicks bedeuten im Cyberspace Geld, und diese werden durch Überreizung, Zuspitzung und Emotionalisierung generiert, was zu einem Tsunami von Ablenkung führt. Bewusst werden niedere biologische Instinkte angesprochen, was Kinder und Jugendliche in die Tiktok-Sucht treibt. Auf der Strecke bleiben die Seele und der Geist.

Doch auch wer sich bemüht, seriös mit dem Internet umzugehen, begibt sich in Gefahr: Die äussere Allverfügbarkeit des Wissens untergräbt die Lernmotivation, immer weniger Wissen wird eingelernt und verinnerlicht, Hektik und Ablenkung tun das ihre, um die innere Kohärenzbildungsarbeit zu behindern.

Wohlstandsverwöhnung schlägt Anstrengungsbereitschaft. Die zunehmend fehl-ende gesamthafte innere Repräsentation der Welt führt zu thematischen Veren-gungen und zur Unfähigkeit, komplexe Abwägungen in Graustufen zu treffen. Beides fördert die Neigung zum weltanschaulichen Extremismus.

Die Folgen haben sich schleichend in den letzten zwanzig Jahren entwickelt, sie sind mittlerweile dramatisch, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen: Auf-merksamkeitsspanne, Konzentrationsfähigkeit und Selbstbeherrschung nehmen ab. Das Verständnis komplexer Texte sinkt, Jüngeren geht sogar die Grundfähigkeit für Lesen, Rechnen und Schreiben ab. Psychische Störungen nehmen seit längerem stark zu.

In den Geisteswissenschaften siegt zusehends Ideologie über Wissenschaft, Schwarz-Weiss-Denken hält Einzug, was einen Rückfall in den vormodernen Geist darstellt. Die Verabsolutierung von Opfer- bzw. Tätergruppen etwa bedeutet eine Abkehr vom universalistischen Individualismus und die Hinwendung zu Tribalis-mus, Clan- und Stammesdenken. Einzelaspekte, so sie denn politisch genehm sind, werden aus dem Kontext gerissen und fanatisch überhöht – etwa Fragen der Ge-schlechtlichkeit oder der Sprache. Auch die Klimabewegung leidet unter einer ex-tremistischen Verengung auf das Thema CO2-Reduktion, das in den Kontext ganz-heitlicher Kosten-Nutzen-Rechnungen gehört, um es mit den Folgen in anderen Bereichen abzugleichen: Energieressourcen, Wirtschaftsentwicklung, Armutsbe-kämpfung, Gesundheitsversorgung.

Verloren geht die Diskursfähigkeit, und es blüht der Narzissmus. Argumente wer-den durch Gefühle ersetzt. Was sich gut anfühlt, ist wahr, wer es anders sieht, wird beschimpft und ausgegrenzt. Während man für sich selber grösstes Verständnis einfordert, versagt man dem anderen die Empathie. Die Fähigkeit, seine Gefühls-welt von innen her, durch das Einnehmen von Gegenperspektiven, zu modulieren, geht verloren. Entsprechend laut wird der Ruf nach Schutz durch Regulierung und Gesetz.

Kognitive Dissonanz

In den unterkomplexen Innenwelten werden offenkundige Selbstwidersprüche entweder nicht mehr wahrgenommen oder nicht als störend empfunden: Im Na-men von Antidiskriminierung werden gezielt neue Gruppen diskriminiert; Queere stellen sich an die Seite von Terrororganisationen, die sie steinigen würden; fremde Kulturen werden vergöttert, die eigene Kultur wird verachtet; Antisemitismus kann es nur rechts geben, und Frauenrechte gelten überall, nur nicht in Iran und Afghani-stan; demokratisch gewählte Parteien werden im Namen der Demokratie aus dem politischen Prozess verbannt. Gar nicht zu reden von dem, was in den dunklen bis abgründig bösen Tiefen des Internets abläuft.

Die Kultur des Westens erodiert auf vielen Ebenen, und das verbindende Element ist die Selbstzerstörung des modernen Geistes, der die Bedingungen seines Gedei-hens nicht ausreichend zu begreifen und abzusichern versteht. In der Weltpolitik erleben wir schleichend den Zusammenbruch der regelbasierten Weltordnung. Vor-moderne Kräfte wittern Morgenluft: vom fundamentalistischen Islam über den chi-nesischen Ultranationalismus bis zum revanchistischen russischen Imperialismus. Sie alle riechen die Schwäche des Westens und haben längst einen hybriden Krieg gestartet, dessen Wahrnehmung sich viele im Westen aus Bequemlichkeit und Schwäche lieber verweigern.

Von einem «Ende der Geschichte» kann keine Rede sein. Die aufgeklärte westliche Welt muss vielmehr aufpassen, nicht selbst Geschichte zu werden. Um dem vorzu-beugen, muss der Westen sich auf seine Herkunft besinnen. Nur wenn wir verstehen, warum wir so erfolgreich geworden sind, besteht die Chance auf eine geistige Renaissance und eine Rückkehr in die Zukunft.

Dietmar Hansch ist Arzt, Psychotherapeut und Publizist. Bis 2023 leitete er den Schwerpunkt Angsterkrankungen an der Privatklinik Hohenegg in Meilen.

 

Nota.Das geht ganz nüchtern an und man erwartet einen Beitrag des gesunden Menschenverstands. Doch nach und nach beginnts zu schwindeln, man denkt, man geräte in eine Parodie, und wer schon etwas betagter ist, fühlt sich vielleicht an den gottlob kurzlebigen Hoax von Lloyd de Mause's Psychohistory erinnert. 

Es beginnt mit einer ganz plausiblen Phänomenologie des souveränen bürgerlichen Subjekts, doch schon, wer sich zum Lesen ein klein' bisschen Zeit nimmt, fragt sich: Wie und warum? Springt das Subjekt wie ein Virus nach und nach von einem Indi-viduum auf das andere über, war das Zeitalter der Vernunft sozusagen ein epidemi-ologisches Ereignis? Es wird zwar an einer Stelle ein überindividueller Akteur bei-läufig erwähnt - die katholische Kirche -, aber als gesellschaftliche Instanz wird auch sie nicht identifziert. Es ist wie bei Max Weber: Die bürgerliche Mentalität erschafft eine bürgerliche Gesellschaft.

Und die war gut, wissen Sie noch? Überall gesunder Menschenverstand, da war die Welt noch in Ordnung. Die Zeit des Kalten Kriegs, nehm ich an, denn mit dem En-de des Realexistierenden fing das Elend an: Mit dem Siegeszug der Massen- und Kon-sumkultur, vor allem aber mit dem Aufkommen des Internets ging alles den Bach runter: Wohlstandsverwöhnung schlägt Anstrengungsbereitschaft, die Kultur des Westens erodiert auf vielen Ebenen, und das verbindende Element ist die Selbstzer-störung des modernen Geistes, der die Bedingungen seines Gedeihens nicht ausrei-chend zu begreifen und abzusichern versteht...

Ich reibe mir die Augen: Hatte sich der "moderne Geist" zwischendurch zu einem über individuellen autonomen Subjekt gemausert? Was ist aus ihm geworden, dass er nun sich selbst zerstört? Hat er sich seiner Schäfchen nicht genügend angenom-men, haben sie selber gar nicht Schuld?

*

Ach, er ist ja Psychologe... Dass die bürgerliche Gesellschaft das bürgerliche Subjekt hervorgebracht hat und dass es nunmal nicht über deren Schatten springen kann, darf er einkommensbedingt gar nicht in Erwägung ziehen.

Fehlt nur noch, dass er uns allen seine therapeutische Unterstützung andient.
JE

Mittwoch, 21. August 2024

Geistige Flaute?

Dilthey
aus nzz.ch, 19. 8. 2028                                                                                                             
zu Philosophierungen

Zu viel Identitätspolitik, zu wenig Charakter: Der Glaube an die Gei-steswissenschaften schwindet. Auch weil die mitreissenden Denker der Gegenwart fehlen
Butler, Foucault, Rorty oder Habermas brauchen Nachfolger. Die jüngeren Generationen haben bisher keine hervorgebracht. Woran liegt das?
 
von Hans Ulrich Gumbrecht
 
Seit der deutsche Philosoph Wilhelm Dilthey ihnen an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert einen gemeinsamen Namen gab, haben die als Geisteswissenschaften bekannten akademischen Disziplinen einen Diskurs von der eigenen Krise kulti-viert. Diese erstaunliche Bewegung mag sich zunächst aus dem scharfen Kontrast gegenüber den Naturwissenschaften ergeben haben.

Während die Erforschung der Natur solch grenzenloses Ansehen vor allem genoss, weil ihre Ergebnisse der etablierten Industrie wie der entstehenden Technologie neue Ziele und Verfahren der Produktion lieferten, schien die Wirkung der Geistes-wissenschaften auf Prozesse individueller Bildung beschränkt. Doch die permanen-te Selbstverpflichtung, gegen einen Eindruck von Unterlegenheit eigene Leistungs-potenziale herauszustellen, wurde für die Geisteswissenschaften langfristig zu einem Erfolgsrezept.

Der Kampf um Anerkennung hat ihnen einen sicheren Status in der Öffentlichkeit eingebracht – und über Jahrzehnte wohl auch eine Beliebtheit bei Studenten.

Ohne den andauernden Kampf um die Anerkennung besonderer Funktionen hät-ten sie wohl nie diesen öffentlichen Status und ihre lange bestehende Beliebtheit bei Studierenden gewonnen. Mittlerweile ist jedoch eine paradoxale Entwicklung einge-treten, die angesichts handfester Krisensymptome den traditionellen Pessimismus in bequeme Selbstzufriedenheit umgekehrt hat.

Lob auf die absteigenden Disziplinen

Unter lokal je spezifischen Bedingungen sind die Belegzahlen der Geisteswissen-schaften international seit 2010 um mehr als vierzig Prozent gesunken, und keine gegenläufige Tendenz ist abzusehen. Verwaltungen wie zuständige Ministerien sehen die Verluste als «strukturell» an und reagieren mit herabgestuften Finanz-zuweisungen auf allen Ebenen.

Ausgerechnet in dieser Situation tauchen eigentümlich triumphalistische Töne zum Lob der absteigenden Disziplinen auf. Gemäss einem Bericht des Magazins «The New Yorker» wollen Englischprofessoren entdeckt haben, dass, entgegen den vor-herrschenden Erwartungen, College-Studenten, die sich auf Literatur, Philosophie oder Geschichte konzentrieren, langfristig grössere Einkommen erzielen als die Absolventen der sogenannten STEM-Fächer (Science, Technology, Electronics, Mathematics).

Eine entsprechende Verschiebung soll sich auch hinsichtlich der Qualifikationsvor-aussetzungen für einflussreiche politische Ämter abzeichnen, und europäische Au-toritäten wie der Philosoph Markus Gabriel schlagen kurzerhand ihren Fächern Führungskompetenz bei der Lösung praktisch-politischer Probleme zu.

Die mitreissenden Denker fehlen

Nur wenige Aussenbeobachter trauen im Ernst einem derart gehobenen Selbst-gefühl, doch sie schenken den Geisteswissenschaften gerne taktvolles Bedauern, wie es angeschlagenen Helden der Vergangenheit gebührt. Nie zur Rede kommt dabei allerdings der eine ins Auge springende Anlass für abnehmende Studenten-zahlen und schwindende Unterstützung, weil ihm offenbar der Verdacht anhängt, sachfremd oder gar populistisch zu sein.

Den Geisteswissenschaften von heute fehlen mitreissende Protagonisten, Denker, deren Vorlesungen Erlebniswert haben, deren Meinungen öffentliche Kontroversen auslösen und deren Bücher zu Bestsellern werden. Gestalten aus ihrer goldenen Epoche wie Hélène Cixous oder Judith Butler, wie Michel Foucault, Richard Rorty oder Jürgen Habermas haben keine Nachfolger in den jüngeren Generationen ge-funden – und sich sympathischerweise darüber kaum Gedanken gemacht. Hier aber liegt ein Grund der gegenwärtigen Krise in den Geisteswissenschaften, den nie-mand im Visier hatte und mit dem ihre angestrengte neue Euphorie nicht zu-rechtkommt.

Die Zahl herausragender individueller Begabungen im Denken und Schreiben hat keine dramatischen Veränderungen durchlaufen. Also können wir aus historischer Perspektive zu erklären versuchen, unter welchen Voraussetzungen weithin sicht-bare Gestalten die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer grossen Zeit der Geisteswissenschaften gemacht haben. Zudem: Warum gelingt es ihren Fächern heute nicht, aus dem Schatten jener Vergangenheit herauszutreten?

Aufbruch der Brüder Grimm

Lange vor Diltheys programmatischen Schriften waren nach 1800 unter dem Ein-druck der bürgerlichen Revolutionen erste Lehrstühle für Nationalliteraturen, klassische Philologie oder Kunstgeschichte entstanden. Ihren Inhabern war daran gelegen, die Versprechen der Aufklärung von einer besseren Zukunft im Rückgriff auf kulturelle Traditionen der Vergangenheit zu illustrieren und als motivierenden Horizont der Existenz am Leben zu halten.

Die Brüder Grimm verkörperten diesen Aufbruchsmoment durch die Konvergenz ihrer Arbeit als philologisch ausgebildete Herausgeber volkstümlicher Erzählungen mit dem Engagement für demokratische Formen der Politik in der Gruppe der «Göttinger Sieben», Professoren wie ihnen war es zu verdanken, dass Literatur und ihre Geschichte während des neunzehnten Jahrhunderts fortschreitend die Funk-tion der Religion als Sinnrahmen europäischer Gesellschaften übernahmen.

An solche Traditionen konnten ihre Kollegen im Zeitalter der Ideologien zwischen den beiden Weltkriegen kaum anschliessen, ohne sich auf problematisch politische Rollen im Spannungsfeld zwischen Kommunismus und Faschismus einzulassen. Erst nach einer Phase der Reaktion mit demonstrativer Nüchternheit und aus-schliesslicher Konzentration auf kulturelle Gegenstände der Vergangenheit. Dazu gehören die Methoden der immanenten Interpretation und die Theorien des Strukturalismus.

Nach 1960 setzte eine Epoche unerhörter Produktivität und Resonanz für die Geisteswissenschaften ein, der herausragende Gestalten ihren singulären Glanz gaben. Drei Veränderungen waren eingetreten, welche ihnen auf die Bühne der Öffentlichkeit halfen.<

Vor allem hatten der Kollaps des Faschismus und die Distanz gegenüber dem Kommunismus in den westlichen Ländern zusammen mit fortschreitender Säku-larisierung auf Kosten der Religion ein Vakuum der Orientierung hinterlassen. Dieses besetzten neben existenzialistischen Intellektuellen nun auch Professoren durch ihre Ideen.

Es gab eine Sehnsucht nach ebenso gut begründeten wie attraktiven Weltentwürfen. Zugleich war die Überzeugung lebendiger als je zuvor, dass verbindliche Wahrheit durch systematisches Denken und einfühlende Interpretationen zu erreichen sei.

Ein Theoriegebäude wie den Neomarxismus von Theodor W. Adorno oder die Textauslegungen einer Autorität der Literaturwissenschaft wie des Zürcher Germa-nisten Emil Staiger zu kritisieren, hiess damals nicht, grundsätzlich an der Möglich-keit von Wahrheit zu zweifeln. Selbst Antagonisten gingen davon aus, dass sich am Ende scharfer Auseinandersetzungen die wahre Position zum Gewinn der Gesell-schaft durchsetzen würde.

Schliesslich löste auch die Frage leidenschaftliche Debatten aus, ob Wirklichkeits-beschreibungen immer vom Standpunkt ihrer Autoren abhängen mussten (also «Konstruktionen» waren) oder einen absoluten («realistischen») Stellenwert in Anspruch nehmen konnten.

Prominente, manchmal abgehobene Intellektuelle

Solche von den Geisteswissenschaften ausgehende Fragen galten auch in der nichtakademischen Welt als «praxisrelevant» (ein Lieblingswort jener Jahre). Zwei ineinander verwobene öffentliche Debatten entfalteten sich. Im Vordergrund stand die Konkurrenz zwischen «progressiven» und «konservativen» Vorstellungen vom gemeinsamen Leben. Oder jene zwischen Zukunftsvisionen wie der auf umgreifen-den Konsens abgestellten «Theorie des kommunikativen Handelns» von Jürgen Habermas und auf der anderen Seite Büchern wie Hans Blumenbergs «Legitimität der Neuzeit», die Errungenschaften und Chancen der historisch entstandenen Welt hervorhoben.

Doch auch die Skepsis gegenüber dem Wirklichkeitsstatus und die Frage nach möglichen Konsequenzen fanden ein breites Interesse, das den Fokus der Feuilletons auf geistige Diagnosen der Gegenwart verschob. Ihren Horizont markierten Positionen wie Jean-François Lyotards Begriff von der «Postmoderne» als Grenze zu einer neuen Erkenntnispraxis, die der Geschichte ihre Autorität nahm. Genauso Jacques Derridas «Dekonstruktion» als Kritik des Glaubens an adäquater menschlicher Selbstbeobachtung und Michel Foucaults Analysen zur Dekadenzgeschichte einer überoptimistischen Konzeption von der Menschheit.

Vor dem Hintergrund ihrer akademischen Karrieren bildeten solche Autoren vor allem in Frankreich eine neue Rolle des prominenten und manchmal abgehobenen Intellektuellen aus. Zu Foucaults in mehrere Säle übertragenen Vorlesungen am Collège de France versammelten sich Tausende faszinierte Hörer, denen es nicht um Studienbelege ging; von der ersten persönlichen Begegnung zwischen Habermas und Derrida berichteten die Tageszeitungen auf ihren Titelseiten mit Fotos, die Derrida wie einen weltlichen Propheten aussehen liessen; und Lyotards «Condition postmoderne» musste man einfach gelesen haben, um mitreden zu können.

Heute erreichen auch Geisteswissenschafter von vergleichbarem intellektuellen Kaliber nie solch intensive Aufmerksamkeit, und selbst die Aura der verbliebenen Protagonisten aus dem goldenen Zeitalter ist verloschen. Dies mag mit der Tat-sache zu tun haben, dass sich ihre Disziplinen seit Beginn des Millenniums immer mehr und inzwischen beinahe ausschliesslich auf Phänomene kollektiver Identität konzentrieren, die mit universalem Publikumsinteresse nur schwer vermittelbar sind.

Wenn die Perspektiven von Geschlechteridentität vielleicht noch gelegentlich die «je anderen» Gruppen angehen mögen, so neigen Diskussionen über nationale, soziale und kulturelle Identitäten dazu, sich in Zirkeln von Selbst-Affirmation oder Selbst-Variation zu isolieren.

Neben übergreifenden Themen ist den Geisteswissenschaften aber auch das Ver-trauen ihrer Studierenden und Leser auf Einsichten verlorengegangen, zu denen allein das Denken führen kann. Selbst unter Bildungsbürgern sind mittlerweile an die Stelle von Begriffen und Theorien als Medium zur Erfassung von Wirklichkeit elektronisch ermittelte Statistiken getreten. Ihre trocken-definitiven Zahlen lassen brillanten Spekulationen kaum noch Raum.


Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert Guérard Professor in Literature, emeritus, an der Stanford University, Distinguished Professor of Romance Literatures an der Hebrew University, Jerusalem, und Distinguished Emeritus Professor an der Universität Bonn.
 
 
Nota. - Nicht die mitreißenden Denker fehlen, sondern mitreißende Gedanken. Das ist nicht trivial. Gedanken müssen in der Luft liegen, um Erfolg zu haben - dann werden sich schon welche finden, die sie publikumswirksam vorzutragen wissen. Wenn aber die Ideen sich als Mehltau niederschlagen, geraten auch die Vorträger in Vergessenheit. Wenn Foucault unlängst wieder Aufmerksamkeit fand, lag das nicht an seinen Ideen.

Mitreißende Denker werden durch mitreißende Gedanken generiert, nach denen muss man schauen, nicht nach den eigenen Chancen auf dem Jahrmarkt der Eitel-keiten. Und mitreißende Gedanken werden nicht generiert, indem man aufs Mit-reißen schaut, sondern auf die Gedanken, und eben nicht auf das, was in der Luft liegt.

Hier könnte ich aufhören. Aber das ist nicht bloß ein Zirkel, sondern eine Spirale. Denn was in der Luft liegt, kann auch der Smog von ein paar Jahrzehnten sein - oder Jahrhunderten. Man muss wohl schon auf die Luft achten, und sei es nur, um sie auf-zu-klären. Womit sonst aber als  - Ideen?

Und nicht muss man darauf schauen, ob sie denn neu sind, neuer als das jüngst Verschimmelte. Manchmal wirkt ein Zurück zu den Quellen Wunder.

Unsere Quelle ist das Scheitern der kopernikanischen Revolution vor schon gut zweihundert Jahren, das Versickern und Versanden der Vernunftkritik. Danach ist viel passiert, aber die Wunde schwärt immer noch. Als hätte es die Kant'sche Kritik nie gegeben, brach nach dem Hegel'schen Desaster wieder treuherzige Positivität aus, jeder durfte mal sein Glück versuchen. Lebensphilosophie, Technizismus und Organik, Spiritismus und Naturmystik. Die Neukantianer schufen der Deutschen Hochschulphilosophie ihren Raum, aber die blieb summa summarum hölzernes Bücherwissen. 
 
Metaphysik fand derweil in Makro- und Mikrophysik ihre heimlichen Schlupflöcher. Der originelle, aber improvisierte Versuch Husserls, mit der Phänomenologie eine neue Kritizität zu begründen, wurde umgehend von Heidegger verballhornt, und die Vernunft kam in Verruf. 
 
So nahm das zwanzigste Jahrhundert seinen bekannten Lauf. Nach dem großen Krieg fiel der Philosophie eine restaurative Rolle zu. Geisteswissenschaft und Her-meneutik brachten den gesunden Menschenverstand zu neuen Ehren, und die Frankfurter Schule goss darüber ihren beschwipsenden Jargon. 
 
Der Status quo ante war wiederhergestellt. Es folgten Dekonstruktivismus und Postmoderne und Anything goes. Philosophie ward eine Sache des Feuilletons, doch kein Hahn krähte noch nach ihr. Sie blieb übrig als universitäres Orchide-enfach, das sich so eben noch gegen den kw-Vermerk behauptet.
 
Da stehen wir nun. Gegenwartsphilosophie ist akademisch und zerfällt in zwei breite aber nicht reißende Ströme, die miteinander nur an den Rändern in Berüh-rung kommen, im großen Ganzen aber jede in bleiern ruhigem Fluß vor sich hin murmelt, bibliometrische Journale füllt und von der restlichen Welt nicht beachtet wird: hier das unerschütterliche Lager der kontinentalen historisch-philologieschen Spitzenklöpper, da die bewegten Meuten der systematisch-analytischen Flohknicker, die frohgemut nochmal ganz von vorne anfangen wollen.

Würde es etwas ändern, wenn auf einer der beiden Seiten eine Phönix aufstiege und überall Applaus fände? 
 
Ein frisches Gesicht, ein klingender Name werden erst was hermachen, wenn sie was Neues zur Sprache bringen. Wir leiden seit zweihundert Jahren an jener schwä-renden Wunde, die nur darauf wartet, erfragt zu werden, um fast spontan zu ihrer Selbstheilung zu finden. Und nach so langer Verschleppung wäre das was Neues.

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Nachtrag. - Vor ein paar Tagen fand sich in der FAZ ein Beitrag von André Kieserling über das, Was im Bewerbungsverfahren an der Uni wirklich zählt. Er fasst ihn einleitend so zusammen: "Auch bei der Personalauswahl an Universitäten kommt es nicht nur auf Fachwissen an. Platzhirsche haben keine Chance. Nettes Mittelmaß setzt sich durch."
Soviel dazu.
JE 


 

Es riecht nach was.

aus spektrum.de,  14. 10. 2024                                                                          zu Jochen Ebmeiers Realien Wahrn...