Freitag, 9. August 2024

Über die Wurzeln psychischer Krankheit.

Bernini                                          zu Jochen Ebmeiers Realien
 
Die Verhaltensmöglichkeiten der Tiere sind ihnen von ihrer genetischen Disposi-tion vorgegeben; schon die Annahme, sie hätten eine Marge, innerhalb derer sie wählen können, wäre gewagt. Doch ist ihre genetische Disposition nicht vom Him-mel gefallen, sondern hat sich in einem ständigen Pozesse von Anpassung und Aus-lese historisch ausgebildet.

Die Menschen sind dagegen mit dem fatalen Geschenk des freien Willens geschla-gen. Was immer ihre genetische Disposition ihnen anmutet, können sie verweigern. Der eine vielleicht eher als der andere, aber wo Freiheit als Möglichkeit überhaupt im Spiel ist, können Gesetze nicht errechnet und Wahrscheinlichkeiten nur statistisch interpretiert werden. Es ist im Prinzip nicht einmal ausgeschlossen, dass ein Mensch zu Verhaltungen fähig ist, die ihm genetisch überhaupt nicht angestammt waren und die er rundweg erfunden hat.

Wie die Menschen sich in ihrem irdischen Dasein tatsächlich verhalten, ist aber da-durch geregelt, dass sie gattungsmäßig mit einander in Verkehr stehen, und der Ver-kehr hat seine eigene Geschichte, in der Strukturen, Instanzen und Bedeutungs-komplexe entstehen. Der kulturelle Filter reguliert das Verhalten der Individuen faktisch, doch die Dimension der Freiheit ist darin nicht nur historisch, sondern ganz aktuell bewahrt.

Wo von Normalität die Rede ist, darf sie allenfalls beschreibend-phänomenal ver-standen werden als 'das, was eben mal üblich ist', und nicht als das, was richtig ist. Was unter einer psychischen Krankheit verstanden werden soll, ist einerseits daran zu bestimmen, was im gegebenen kulturellen Rahmen nicht mehr verträglich ist - also von der Umgebung her; und zweitens danach, wie sehr das Individuum leidet - vom Subjekt her. 

Das alles sollte davor warnen, zuerst Begriffe zu definieren und sie dann an die In-dividuen anzulegen - mit dem Hintergedanken, im Begriff eine Ursache mitgedacht zu haben, die sich objektivieren und vom Individuum unterscheiden ließe; statt an-dersrum beim Individuum anzufangen und phänomenale Ähnlichkeiten mit schon bekannten 'Fällen' nur zur Fährtenlese herbeizuziehen, nicht aber "analytisch".


Empirische Forscher werden derlei Vorüberlegungen als abstrakt und metaphysisch-spekulativ zurückweisen. Doch das begriffshubernde Verfahren ist nicht empirisch-konkreter und wissenschaftlicher, es führt vielmehr geradewegs in den dogmati-schen Schacht zurück, aus dem man sich eben befreien wollte:*

"Das alte System der Kategorisierung psychischer Störungen mit seinen geordneten Diagnoseschubladen hat ausgedient. Sie hoffen, dass eine biologisch fundierte Alter-native langfristig neue Medikamente und andere Behandlungen hervorbringen wird. Unter anderem wollen sie herausfinden, welche Schlüsselgene, Hirnregionen und neurologischen Prozesse an der Psychopathologie beteiligt sind." 

Das herkömmliche System der Kategorisierung nach dem Krankheitsbild hat wis-senschaftlich immerhin der Vorzug, dass es offen lässt, ob die Symptomatik zu-gleich eine Ätiologie anzeigt und damit ein "Wesen", das man bei der Wurzel packt, oder ob die phänomenale Ähnlichkeit nur ein pragmatischer Wink für den Thera-peuten ist, wo er bei der Behandlung der Symptome am besten  ansetzen wird. Nun soll sogar nach dem "einen (p-) Faktor" gesucht werden, aus dem sich je nach 'Fall' die individuellen Störungen 'entwickeln'! 

Und dass es "statt der Kategorien" nun die Biologie sein soll, in der geforscht wird, steht auch schon fest. Warum? Aus wissenschaftlichen Gründen? Nein, aus betriebs-wirtschaftlichen: Dafür gibt es Gelder in vielfacher Milliardenhöhe, namentlich aus Amerika. Denn wo biologisch geforscht wird, steht als Abnehmer die pharmazeu-tische Industrie immer schon fest.

Verstehen Sie mich recht: Wenn dadurch das Leiden vieler Millionen Menschen ge-lindert wird, ist es ja nichts Unrechtes. Aber dass es die Wissenschaft wieder auf Holzwege führt, ist nicht nur unnötig, sondern schlechterdings schädlich.

*) Allein die wiederholte Formulierung, dass Patienten "unter mehreren Störungen leiden", verrät die dogmatische Grundeinstellung: Der Pateint wird aufzählen, dass er unter diesem, unter jenem und un-ter nochwas leidet. Das ist das real Gegebene. Dass es sich um Symptome von etwas anderem handelt, hat schon der Psychiater hinzugetan. Und dass es sich dabei auch noch um Symptome von mehreren Anderen handelt, wo hat er denn das her? Sie sagen es: aus dem Handbuch DSM! 

Früher durfte er nur eine Störung diagnostizieren. Dass es nun mehrere sind, ist realistischer, aber um keinen Deut weniger dogmatisch.

Kommentar zu Die "Wurzeln psychischer Krankheit", JE, 6. 7. 20

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