Montag, 19. August 2024

Die Reptation des Konkreten.

 
aus FAZ.NET, 19. 8. 2024                                                             zu Jochen Ebmeiers Realien; zu Philosophierungen

Harrison C. White: 
Reptation in der Soziologie
Als ebenso bahnbrechend wie schwer verständlich charakterisierte die „New York Times“ in ihrem Nachruf den Soziologen Harrison C. White mit einem einzigen Satz aus dessen Werk. Von dieser Stelle her erschließt sich tatsächlich Whites Bedeutung für sein Fach und die Wissenschaft überhaupt.

Von Dirk Baecker

Die „New York Times“ zitierte am 12. Juni 2024 in ihrem Nachruf auf den am 19. Mai gestorbenen Soziologen Harrison C. White, den die Überschrift als „ground-breaking (and inscrutable) sociologist“ ebenso pries wie auf Abstand hielt, zum Beleg dieser Einstufung einen Satz aus „Identity and Control: A Structural Theory of Action“ (1992): „There is no tidy atom and no embracing world, only complex situations, long strings reptating as in a polymer goo, or in a mineral before it har-dens.“ Man ist versucht, „reptating“ für einen Druckfehler zu halten und „repea-ting“ zu lesen, zumal die selbstähnliche Wiederholung bestimmter Strukturen für Polymere typisch ist, aber es ist tatsächlich „reptating“ gemeint, denn Reptation ist ein Fachterminus aus der Polymerforschung, der laut Wikipedia die „schlangenar-tige Bewegung eines Polymers aus einem Polymernetzwerk (Diffusion)“ bedeutet. White studierte am Massachusetts Institute of Technology die Physik der Polymere, als er begann, sich in Abendkursen von Karl W. Deutsch zunächst nebenbei für die Soziologie zu interessieren.

Dass der Satz zunächst unverständlich erscheinen muss, leuchtet ein. Nicht um-sonst wird Whites Sprache mit jener von James Joyce (in „Finnegans Wake“, nicht im „Ulysses“) verglichen. Und nicht umsonst gilt White als unübersetzbar (in Frankreich versucht man es trotzdem). Aber inwiefern belegt der Satz eine bahnbrechende soziologische Einsicht?

Um das Unteilbare oder Allumfassende geht es nicht

Von Atomen, gar aufgeräumten, sauberen, ordentlichen, spricht unter Bezug auf deswegen „rationale“ Individuen allenfalls die Ökonomie, die diese Abstraktion braucht, um Gleichgewichts-, aber auch Ungleichgewichtsbedingungen auf Märkten untersuchen zu können. In der sozialen Wirklichkeit ist nichts in diesem Sinne aufgeräumt. Und von einer umschließenden, umarmenden, umklammernden Welt spricht eigentlich niemand außer jener sozialkritisch falsch verstandenen Soziologie, die den Menschen fremden Mächten unterworfen sieht. Um diese kleinsten, für sich stehenden Einheiten in einer sie umfassenden Welt geht es also nicht!

Stattdessen geht es um komplexe Situationen. „Komplexität“ ist ein Begriff, der bereits Auguste Comte dazu diente, den Gegenstand der Soziologie von einfacheren und zugleich allgemeineren Gegenständen anderer Wissenschaften, etwa der Astronomie, Physik und Chemie, zu unterscheiden. Komplex, so Comte, sind nicht zuletzt jene Gegenstände, in die wir selbst verwickelt sind.

Die Rede von einer „Situation“ ist in diesem Zusammenhang schon fast tautologisch, erklärt sich jedoch aus der maximalen Bindung der Soziologie an einen Gegenstand, der ist, was wer ist, weil er selbst das Problem ist, das er zu bewältigen hat: das Problem der Situation. Zugleich unterscheidet sich White hier und andernorts von Talcott Parsons, dessen Handlungstheorie nicht die Situation, sondern die Orientierung an einer Situation zum Maßstab hat, auch wenn diese Orientierung selbst zur Situation beiträgt, der Handelnde als „empirisches System“ also zugleich ein System und ein Bezugspunkt ist.

Von Übergang zu Übergang

Mit der Ablehnung einer Vorstellung von aufgeräumten Atomen in einer umfassenden Welt und der Option für komplexe Situationen bewegt sich White auf dem vertrauten Gelände der soziologischen Tradition. Im nächsten Schritt sprengt er die Tradition, wird er bahnbrechend. Er erläutert die komplexe Situation durch Vergleich mit einem Polymerschleim, ‑glibber oder ‑klebstoff beziehungsweise nicht mit diesem Schleim, Glibber oder Klebstoff selbst, sondern mit der schlangenartigen Bewegung (Reptation) dieses Polymers aus einem Polymernetzwerk. Und er ergänzt, das Soziale sei einem Mineral zu vergleichen, bevor es sich verhärtet. Das Soziale befindet sich unhintergehbar in einem Zustand des Übergangs, sei es der Bewegung in einem Netzwerk oder dem Aufschub einer Verhärtung.

Harrison C. White (1930 bis 2024) lehrte von 1963 bis 1986 in Harvard und seit 1988 an der Columbia-Universität in New York.
Harrison C. White (1930 bis 2024) lehrte von 1963 bis 1986 in Harvard und seit 1988 an der Columbia-Universität in New York.The New York Times

Mit dem aus der Physik der Polymere gewonnenen soziologischen Blick wird die Komplexitätshierarchie der Wissenschaften unterlaufen, wie sie sich Comte noch vorgestellt hat. Polymere, jene verwickelten Netzwerke von Makromolekülen, sind mindestens so spezifisch und daher komplex wie soziale Situationen. Dank der Quantenphysik gilt dasselbe auch für atomare Teilchen.

Komplexität ist die Einstiegsformel in jegliche Art von Wissenschaft. Im Gewand der Komplikation (im doppelten Sinne des Wortes: als Kompliziertheit und als, etwa in der Medizin, unerwartete/unerwünschte Entwicklung ei­nes Zustands) entdeckt die Soziologie eine Komplexität, die sich seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts auch in den Naturwissenschaften herumspricht. Komplikation bedroht die Phänomene nicht nur, sondern konstituiert sie, indem sie ihre Komplexität begründet. Schlangenartig, wie Reptilien, bewegen sich die Phänomene aus ihrem Netzwerk in ihr Netzwerk.

Harrison C. Whites Soziologie war in der Tat bahnbrechend. Ihm verdanken wir wichtige Einsichten in die bewegliche Struktur von Netzwerken, die [mehr?] für die Identität ihrer heterogenen Elemente (Leute, Geschichten, Praktiken, Techniken, Institutionen) verantwortlicher sind, als der gesunde Menschenverstand es sich träumen lässt.

 

Nota. -Das Wirkliche schwebt und schlängelt: Real sind nicht die Zustände, sondern das Übergehen; zu Momente wird es lediglich durch unsere Reflexion fixiert - wo kenne ich das noch gleich her? Richtig: aus Fichtes Wissenschaftslehre. Dort ist es aber nicht auf das Dasein der Dinge bezogen, sondern auf den Gang unseres Vorstellens. Es ist reell stets in Fluss, die Begriffe sind nachträgliche Zu-taten der Vernunft, die in und aus der Spannung zwischen beiden Termini entsteht.

Und wo die Soziologie von System spricht, kann immer nur das Schema eine Ensembles von Übergehenden gemeint sein. Nicht einen Ursprung gibt es zu verstehen, sondern eine Dynamik.
JE

 

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