"Der Westen und der Rest" - das klingt im ersten Moment problematisch, weil hi-storisch uninformiert und unkritisch. Doch nach kritischer Durchforstung erweist es sich vielleicht immerhin als Fragestellung nützlich - nicht erst aus Trotz wegen documenta 15.
In
welcher Absicht kann man überhaupt Kunstgeschichte schreiben, und eine
globale zumal? Lesen mag man sie aus den diversesten Motiven, doch dafür
mussten sie zuerst geschrieben und - vor allen Dingen auch gedruckt
werden.
Im 19. Jahrhundert kam die Kunstgeschichte also auf, um die europäischen Nati-onen gegeneinander zu profilieren. Ein ausgesprochener Renner unter deutschen Jugendlichen war am Jahrhundertende das Buch des Rembrandtdeutschen, das
frei-lich mehr Weltanschauung enthielt als Kunstgeschichte. Doch die
Neigung zur Ide-ologisierung liegt in diesem Fach selbst begründet. Wie
soll man etwa über den ex-plosiven Aufschwung der holländischen Malerei
und insbesondere der Landschafts-kunst reden, ohne das "Goldene
Zeitalter" zu erwähnen und die Entstehung einer Nation aus dem
Befreiungskrieg?
Den
Hang zum Exotischen hat Europa aus derselben Zeit, dem 17. Jahrhundert,
und dass nordamerikanische und afrikanische Volkskunst bis heute
Neugier erregt, macht es in politisch korrekten Zeiten
selbstverständlich, an eine Globalgeschichte der "Kunst" zu glauben. Der Pfusch, der auf der jüngsten documenta zu internatio-naler Berühmtheit gekommen ist, setzt allerdings ein großes Fragezeichen.
Eine globale Wirtschaftsgeschichte hat insofern Sinn, als wir es heute mit einer glo-balen Wirtschaft
zu tun haben. Das war nicht immer so, sondern ist entstanden durch die
jahrhundertelang fortschreitende Verflechtung regionaler zu nationalen,
und der nationalen Märkte zu einem Weltmarkt. Das Ergebnis sind internationale Standards.
Etwas
Vergleichbares hat es in der Kunst nicht gegeben. Ein übernationaler
Kunst-markt hat sich im 20. Jahrhundert zwischen Europa und Nordamerika
etabliert, und wenn man an ihm eine Dynamik erkennen kann, dann ist es
die von einem gemein-samen europäischen Ursprung in Düsseldorf und Paris
über eine gemeinsame ame-rikanische Nachkriegszeit zu einer weltweiten
Beliebigkeit, zu der jetzt auch postko-lonialer Schmarrn Zugang finden -
nicht weil ein weltweiter Geschmack dahin ge-führt hätte, sondern
geschmacksfreie Geldflüsse. Doch der Geschmack mag ihnen folgen, achje.
Anders
als die Wirtschaft hat die Kunst nicht zu weltweiten Standards geführt,
weil sie keine weltweite Substanz hat. Die Erzeugnisse der Wirtschaft
konnten schließ-lich weltweit vermarktet werden, weil sie letzten Endes
alle irgendwo von irgend-wem gebraucht werden: Es sind Lebensmittel, auf die keiner dauerhaft verzichten kann. Darum haben sie einen Wert. Die Erzeugnisse der Kunst mögen diesem ge-fallen und jenem nicht - wirklich brauchen tut sie keiner. Weltweit gültige Maßstäbe können sich nur ausbilden, wo unablässig alles getauscht werden muss.
Wenn
aber Kunst nicht als originärer Teil des Wirtschaftens aufgefasst werden
kann, was ist sie dann? Das wurde jahrhundertelang versucht: Kunst zu
definieren durch die Merkmale ihrer Werke. Das sollten, mag man meinen,
ästhetische sein. Kunst bringt Dinge hervor, die gefallen - "ohne Interesse", sagt Kant; nämlich ohne spezifische Nützlichkeit (und wenn sie eine solche doch aufweisen, wird gleich ihre Qualifizierung als Kunst strittig).
Und
das hat es wohl gegeben, seit es Menschen gab. Nämlich so, dass die
Defini-tion des Menschen von der Paläanthropologie nicht zuletzt daran
gemessen, ob sie - Kunst hervorbrachten. Zu allererst nämlich als
Schmuck und Körperbemalung. Ob sie aber nicht wohl auch andere Zwecke
hatte - kultische oder ethnische -, ist nicht in Erfahrung zu bringen.
Die frühesten Höhlenmalereien wären ohne solche wohl nicht entstanden.
Das ästhetische Gefallen mag immer nur verzichtbare Zutat ge-wesen sein.
Man
müsste annehmen dürfen, die ästhetisch ausgezeichneten 'Arte'fakte
wären vornehmlich oder womöglich nur um des Gefallens willen zustande
gekommen. Das könnte man aber dem individuellen Werk unmöglich ansehen.
Man müsste schon Werkgruppen identifizieren können, die man aus
außerästhetischen, d. h. irgendwie kollektiven, nämlich
gesellschaftlichen Gesichtspunkten... als geschmack-lich bedingt ansehen
könnte; genauer gesagt: durch ihr allmähliches Ausscheiden aus gesellschaftlichen Zusammenhängen als 'Kunst' unterscheiden kann.
Das
lässt sich offenbar aber nur retrospektiv und sozialhistorisch
bewerkstelligen. Nämlich aus dem Faktum heraus, dass irgendwo
irgendwann eine Werksgattung entstanden ist, die sowohl seitens ihrer
Verfertiger als auch seitens ihrer Liebhaber allein des Gefallens willen
geschaffen wurde. Genauer gesagt, als und weil irgend-wann irgendwo eine
Kunst um der Kunst willen zur Welt gekommen ist.
Und das war gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Europa und Nordame-rika. Anders gesagt, eine Kunst geschichte ist überhaupt nur aus westlicher Perspek-tive möglich. Voraussetzung ist ein Idealtyp von "Kunst", der als Maßstab für den Rest der Welt gelten kann.
Ja, das habt Ihr davon, dass Ihr postkolonial alles in einen Topf rühren wolltet!
Kommentar zu Globale Kunstgeschichte? JE, 21. 8. 22
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