Fangen wir gleich beim Schluss an: dass das Selbstbewusstsein "praktisch le-benslang formbar" sei.
Ein
solcher Schweinsgalopp durch das gesamte Feld der Ich-Problematik kann
ohne Banalitäten schwerlich abgehen - zugegeben. Manchmal dienen die
Banali-täten aber, wissentlich oder unbeabsichtigt, dazu, das Thema zu
vernebeln.
So etwa, wenn es vom Selbstbewusstsein heißt, dass es "formbar" sei. Die Frage, wer es formt, stellt sich aber nicht erst unter soundsoviel anderen, sondern zu allem Anfang: denn sie entscheidet darüber, ob es sich um ein Selbst-Bewusstsein über-haupt handelt. Der Artikel zählt als formende Faktoren auf: Anpassung, Gewohn-heit, Konditionierung und Nachahmung. Ein freier Wille kommt nicht vor.
Manche
Stelle im Text scheint dem entgegenzustehen, etwa, wenn irgendwer
ir-gendwas "einordnet". Besorgen das "Hirnmechanismen"? Und sind die Ich oder sind die bei mir bloß zu Gast? Das ist doch nichts, was man in der Schwebe lassen darf! Denn die Hirnphysiologen haben - erinnern Sie sich? - vor Jahr und Tag mit empirischen
Argumenten ein ganzes Weltbild darauf aufzubauen versucht, dass mein
Hirn macht, was es will, und sich als mein Ich nur tarnt. Und
polemisierten bei der Gelegenheit gegen das, was sie "das Ich der
Philosophen" nannten.
Flankierend kommt oben der Satz hinzu, dass keiner perfekt
sei noch sein könne. Da werden Begriffe benutzt, die aus der
Erfahrung - und die ist immer die Erfah-rung der einen oder der andern -
gar nicht zu bestimmen sind, sondern auf Wert-urteilen beruht, die der
Erfahrung vorausgehen, weil diese durch jene überhaupt erst möglich
wird.
Was selbst und was nicht der Andere (z.
B. "die Gesellschaft") ist, ist eine philoso-phische Frage, die ich
nicht nachträglich aus meinen Erfahrungen herauslesen kann, sondern von
vornherein in sie ordnend hin- eintragen muss. Und was 'perfekt' sein
soll, kann die Erfahrung schon gar nicht entscheiden. Sie sagt nur, dass
ich irgendwo nicht weiter kam. Ob ich oder irgendwer aber weiter kommen
könnte, kann sie nicht wissen. Es ist ein Maß, das ich aufstellen musste, bevor das Erfahren losging. Ein eignes Urteil ist aber nur möglich unter Vorausssetzung eines freien Willens.
Wer aus freiem Willen ein eignes Urteil fällt, müsste sich dazu allerdings als bevoll-mächtigt auffassen: perfekt wenigstens in dieser Hinsicht.
"Hinsicht"? Der Empiriker, der nur auf Erfahrungen baut, sagt: Ist oder ist nicht. Erfahrung stellt fest, Erfahrung widerlegt. Erfahrung ist handfest. Hinsichten sind Haarspaltereien von Hirnwebern...
Philosophie ist keine Erfahrungswissenschaft mit positiven Resultaten, sondern eine kritische Disziplin, deren Gegenstand die Voraussetzungen sind, unter denen wir Erfahrungen machen. Die Voraussetzungen liegen ihr zu Grunde. Sie können nur spekulativ, nämlich durch Denken aufgefunden werden. Wenn die Philosophie von einem Ich redet, dann von dem, das Erfahrungen macht.
Für Descartes, der die Hinwendung der Philosophie von den Gegenständen der Erfahrung weg zu dem Vermögen
des Erfahrungmachens eingeleitet hat, war das Denken der Anfang. Ihm
ging es um Klarheit und Deutlichkeit des Verfahrens; doch nicht wirklich
um das Verfahren selbst. Erfahrung heißt nicht bloß, dass einer etwas
bemerkt; Erfahrung heißt, dass er es versteht. Dazu braucht er Begriffe.
Wie kommen wir zu Begriffen? Diese Frage nannte Kant Transzendental-Philosophie - weil sie nicht von dem handelt, was nach der Erfahrung kommt, sondern vor ihr. Und ebenso vorher - bevor wir von ihm Erfahrung machen und bevor es selber Erfahrungen macht - kommt das transzendentale Ich. Das "Ich der Philosophen", von dem die Hirnforscher rede(te)n, stammt daher.
Doch
da es von ihm keine Erfahrung gibt, kann man es weder 'komplex' noch
'vielschichtig' nennen. Es ist auch nicht das- oder derjenige, das oder
der Selbst-bewusstsein hat. Es ist vielmehr die Voraussetzung dafür, dass
wirkliche, lebendige Menschen ein Selbstbewusstsein aus sich hervorbringen. Ach, man kann es nicht verhehlen: Es ist selber gar nicht real!
Darum kann es in der Psychologie und in der Neurologie,
die beide Erfahrungswis-senschaften sind, auch nicht vorkommen. Es
stammt aus der Philosophie und dort bleibt es. Das Interesse der
Philosophen galt nämlich nicht der Frage, wie eine Per-son X zu einem
Bewusstsein von 'sich selbst' gelangt. Vielmehr ging es darum, was Vernunft ist, woher sie kommt und wie sie sich rechtfertigt. Kant Hauptwerk heißt darum Kritik der reinen Vernunft, wobei er unter Kritik Prüfung und Wertung ver-steht.
Ausgangspunkt
ist, dass Menschen tatsächlich vernünftig handeln; nicht alle im
gleichen Maß und auch nicht jederzeit: aber im gegebenen Fall, und dass
es also Vernunft wirklich gibt. Gegenstand der Philosophie ist
seit Kant nicht der ganze Mensch mit Stoffwechsel, Leidenschaften und
Gebrechen, sondern dasjenige an ihm, was ihn zur Vernunft
befähigt. Wie er von dieser Fähigkeit wirklich Gebrauch macht, ist
Gegenstand mancher anderen Wissenschaften. Der Philosoph will wis-sen,
worin sie besteht und was sie tut.
Psychologie und Neurophysiologie mögen davon berichten, wie das Gehirn beim Denken verfährt, aber was es denkt, kann nur der Denkende selbst sagen, und was daran vernünftig
ist, kann er nur sagen, sofern er philosophiert. Vernünftig ist, sich
in der Welt Zwecke zu setzen, die man vor dem eigenen Urteil vertreten
kann. Irren kann sich jeder, entscheidend ist der Richtstuhl des
eigenen Urteils. Vorausgesetzt ist die Freiheit des Urteils - von
fremden Einflüssen und gegenüber unvernünftigen Anmutungen des eignen
Selbst. Ist das Urteil frei? Es kann es sein, weil es das soll.
Ab hier haben Erfahrungswissenschaften das Wort.
Kommentar zu Das Ich der Psychologen; JE, 12. 4. 20
Nota Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE.
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