aus derStandard.at, 11. August 2024 zu Jochen Ebmeiers Realien;
Endlich tut sich wieder etwas rund um die ganz großen Fragen Physik. Wie ist das Universum aufgebaut, wie unsere Alltagswelt und wie die kleinsten Bausteine der Materie? Für alle diese Fragen wurden während der vergangenen hundert Jahre im Einzelnen beeindruckend gute Antworten gefunden. Doch seit Jahrzehnten steckt das Gebiet in der Krise und scheint zum Stillstand verdammt. Nun kommt von einem britischen Physiker mit dem klingenden Namen Jonathan Oppenheim ein völlig überraschender Vorschlag, der gewissermaßen das Pferd von hinten aufzäumt und die Fachwelt in Aufregung versetzt
Das Problem der Grundlagenphysik besteht darin, dass sich die beiden bisher ge-nauesten Beschreibungen der Welt widersprechen. Die Relativitätstheorie erklärt die Vorgänge in kosmischen Größenordnungen, das auf Quantenphysik basierende Standardmodell der Elementarteilchenphysik die Welt der kleinsten Teilchen. Doch sie passen nicht zusammen.
Seit der Entdeckung des Problems gab es äußerst ambitionierte Versuche, die bei-den sehr unterschiedlichen Theorien unter einen Hut zu bringen, doch nach Jahr-zehnten ist die Hoffnung auf eine baldige Veränderung dieses Zustands geschwun-den und Katerstimmung hat sich breitgemacht.
Anderer Zugang
Nun gibt es abermals eine neue Theorie, die in
vieler Hinsicht gar nicht neu ist. Der Physiker Jonathan Oppenheim hat
sie letztes Jahr in mehreren Fachpublikationen vorgeschlagen. Dass
darüber diskutiert wird, hat verschiedene gute Gründe. Die Theorie geht
in eine Richtung, die bisher weniger intensiv verfolgt wurde, macht das
auf erfrischend pragmatische Art und scheint auf den ersten Blick
mehrere völlig unterschiedliche Probleme der modernen Physik in einem
Aufwaschen zu lösen.
Der grundlegende Widerspruch zwischen Relativitätstheorie und Quantenphysik betrifft die für Letztere namensgebenden Quanten, bei denen es sich um kleine Energiepakete handelt. Seit rund hundert Jahren weiß man, dass Energie nur in gewissen, sehr kleinen Portionen übertragen werden kann. Wie bei einem Fernseh-bild scheint die Welt beim genauen Hinsehen gewissermaßen Pixel zu besitzen. Das hat eine Reihe anderer wichtiger Folgen, einerseits die Tatsache, dass bei Experi-menten die Rolle des Beobachters nie ganz vernachlässigt werden kann, andererseits die Existenz von echtem Zufall, als würde Gott mit Würfeln spielen, wie es Albert Einstein einmal nannte.
Die Relativitätstheorie weiß von alledem nichts, sie ist in dieser Hinsicht genauso altmodisch und harmlos wie Newtons Gravitationstheorie. Ihre Innovation besteht darin, dass sie die Schwerkraft rein als geometrische Eigenschaft des Raums ver-steht und damit quasi als eigenständige Kraft abschafft. Als die Physikerinnen und Physiker ihren Schrecken über die neue Theorie der kleinen Energieportionen erst einmal überwunden hatten (Einstein überwand ihn bekanntermaßen nie), wurden sie geradezu süchtig nach Quanten. Kaum jemand zweifelte daran, dass auch in der Welt der Schwerkraft die Energie in Pakete unterteilt sein müsse. Die Theorie einer "Quantengravitation" wurde schnell zum wichtigste Problem der Physik. Werner Heisenberg, Albert Einstein, Erwin Schrödinger – sie alle glaubten, es lösen zu können, und verbrannten sich teils schlimm die Finger.
Gerade die besondere Verbindung zwischen der Schwerkraft und dem Raum, in dem sie wirkt, stürzte alle Versuche, die durch die Relativitätstheorie beschriebene Gravitation zu "quantisieren" und so mit dem Graviton ein eigenes Teilchen für sie zu etablieren, in gehörige Schwierigkeiten und brachte die ohnehin komplexe Ma-thematik dahinter zur Implosion. Lösungsvorschläge gab es in Form der String-theorie und der Schleifen-Quantengravitation.
Jenseits der Fäden und Schleifen
Heute lässt sich sagen, dass beide Zugänge keine großen Fortschritte machen. Weder Experimente auf der Erde noch die Vorgänge in den Weiten des Kosmos favorisieren eine der beiden Möglichkeiten. Sie beide verbindet das zentrale Pro-blem, dass sie eine Reihe sehr spezieller Annahmen machen, die zwar bis zu einem gewissen Grad die mathematischen Probleme lösen, aber nicht überprüft werden können. Bei der Stringtheorie besitzt unsere Welt zumindest zehn Dimensionen anstatt der drei Dimensionen des Raums und der Zeitdimension, die wir aus unse-rem Alltag kennen. Diese Dimensionen sind allerdings versteckt. Ähnlich ist es bei der Schleifen-Quantengravitation, wo die Raumzeit aus winzigen Schleifen geknotet ist, die so klein sind, dass wir sie nicht beobachten können.
Beide folgen einer Tradition, die sich im 20. Jahrhundert entwickelte, wonach, in den Worten des Physikers Paul Dirac, eine mathematisch schöne Theorie mit hö-herer Wahrscheinlichkeit korrekt sei als eine hässliche. In Relativitätstheorie und Quantenphysik waren so beispiellose Erfolge erzielt worden, auch im Hinblick auf experimentelle Bestätigung. Doch diesmal ließ der Erfolg auf sich warten.
In diese Pattsituation hinein stellt Oppenheim, früher selbst ein Stringtheoretiker, seinen Vorschlag, den er in den Fachjournalen Phys. Rev. X und Nature veröf-fentlichte und der eine längst zu den Akten gelegte Möglichkeit neu belebt. Der Physiker Thomas Galley, der als Theoretiker am Institut für Quantenoptik und Quanteninformation der Österreichischen Akademie der Wissenschaften an der Verbindung von Relativitätstheorie und Quantenphysik forscht und während seines Doktorats ein Institutskollege Oppenheims war, erklärt, was Fachleute an dem neu-en Zugang so fasziniert.
Weg zu Experimenten
"Es gab auf diesem Gebiet seit über 40 Jahren viele verschiedene Vorschläge. Und ich denke, ein Grund, warum dieser spezielle Vorschlag so viel Aufmerksamkeit erregt hat, ist, dass er sich in gewissem Sinne radikal von den meisten existierenden unterscheidet", sagt Galley. "Was die meisten Ansätze tun, ist die Gravitation mit Quantenphysik zu beschreiben. Das Neue an diesem Ansatz ist, dass er die Schwer-kraft nicht quantisiert. Er versucht, die beiden irgendwie zu vereinheitlichen, indem er die Schwerkraft klassisch beschreibt und die Materie durch Quantenphysik."
Galley gibt zu, dass die Idee naheliegend klingt. Wozu eine schwierige Quantisie-rung versuchen, wenn man es auch anders geht? Tatsächlich gab es bereits früher Konzepte, die Gravitation und Quantenphysik unterschiedlich behandeln wollten. "Diese anderen Versuche dieser Art in der Vergangenheit waren jedoch in gewisser Weise inkonsistent, in dem Sinne, dass sie zu verschiedenen Widersprüchen füh-ren." Es gibt theoretische Arbeiten, die zeigen, dass eine solche Verbindung, wie sie Oppenheim vorlegt, nicht möglich sein sollte.
Doch Oppenheim fand eine Lücke in diesen Beweisen. Er nützt sie, indem er in die Wechselwirkung zwischen Quantenwelt und Gravitation ein Element des Zufalls einbaut. In einem ganz konkreten Beispiel würde das bedeuten, dass etwa die Schwerkraftwirkung auf die chemisch gebundenen Atome eines Moleküls nicht immer gleich stark wäre, sondern von einer Art Rauschen überlagert. Eine weitere Erklärung für die Herkunft dieses Rauschens gibt es nicht, es ist einfach eine An-nahme.
Oppenheim zeigt, dass sich so eine mathematisch korrekte Beschreibung beider Welten konstruieren lässt. Galley nannte den Zugang in einem Artikel für die Ame-rikanische Physikalische Gesellschaft "radikal und konservativ" zugleich.
Thomas Galley macht noch auf einen anderen Aspekt der Theorie aufmerk-sam, der für Aufsehen sorgt: "Sie führt zu überprüfbaren Vorhersagen, die sich in Tabletop-Experimenten testen lassen." Damit sind Experimente ge-meint, die auf einen "table", einen Labortisch, passen und keine Milliarden teuren Megaexperimente wie Teilchenbeschleuniger benötigen.
Eines dieser Experimente sieht vor, zwei Teilchen nur mittels Schwerkraft wech-selwirken zu lassen und alle anderen Einflüsse auszublenden. Ist die Schwerkraft quantisiert, müssten die beiden Teilchen irgendwann in einen sogenannten "ver-schränkten" Zustand übergehen, ähnlich dem sonderbaren Zwischenzustand von Schrödingers Katze in dem berühmten Gedankenexperiment. Lässt sich ein solcher Zustand nachweisen, ist Oppenheims Vorschlag hinfällig. Tritt er trotz immer ge-nauerer Messungen nicht auf, gewinnt Oppenheim. "Markus Aspelmeyers Gruppe in Wien macht viele solche Experimente", sagt Galley. Bis die benötigte Genau-igkeit erreicht wird, könnte es aber noch zehn bis fünfzehn Jahre dauern.
Zurück zur philosophischen Normalität?
Die neue Idee erweist sich aber als noch viel weitreichender. Sie macht Aussagen über ein philosophisches Problem, das seit dem Beginn der Quantenphysik für viel Kopfzerbrechen sorgt. Die Sonderbarkeiten der Quantenwelt sind bekanntermaßen in unserem Alltag nicht zu finden. Schrödingers Katze verhält sich nicht wirklich wie im berühmten Gedankenexperiment, Objekte dieser Größe sind philosophisch viel zahmer. Irgendwo muss also eine Grenze zwischen unserem Alltag und der Quantenwelt existieren. Oder ein fließender Übergang – darüber scheiden sich die Geister.
Der gängigste Lösungsvorschlag spricht dem Akt des Beobachtens besondere Be-deutung zu: Sobald man eine Messung durchführt, verschwinden die quantenme-chanischen Sonderbarkeiten, durch einen Vorgang, den man auch "Kollaps der Wellenfunktion" nennt. Doch die Grenze scheint seltsam willkürlich gewählt. Ist eine Messung etwas, das im Inneren eines Messgeräts geschieht? Oder ist nicht auch das Ablesen der Ergebnisse von einem Display eine Messung? Wer diesen Willkür-akt entfernen will, kann das tun, handelt sich damit aber andere Probleme ein, wie beispielsweise ein sonderbares philosophisches Konzept namens Viele-Welten-Theorie.
Bereits in der Vergangenheit schlugen Fachleute wie der britische Nobelpreisträger Roger Penrose vor, dass nicht der Beobachtungsprozess, sondern die Gravitation für das Verschwinden der Quantenphänomene in unserer Alltagswelt sorgen könn-te. Die Sonderbarkeiten wären also auf den Mikrokosmos beschränkt und dort si-cher aufgehoben, ohne sich über Gebühr in große philosophische Fragen einzu-mischen.
Genau diesen Vorschlag erfüllt Oppenheims Theorie mit neuem Leben. "Die Gra-vitationswechselwirkung würde diesen Kollaps verursachen", sagt Galley. "Dies würde erklären, warum wir kleine Objekte, beispielsweise das Elektron, quanten-physikalisch überlagern können. Aber wenn man es dann mit größeren Objekten versucht, erzwingt das Gravitationsfeld sozusagen den Kollaps", erklärt Galley. Und ein weiteres großes Problem der Quantenphysik wäre mit einem Schlag gelöst.
Wie es weitergeht
Während der Vorschlag diskutiert wird und man bemüht ist, alle seine Folgen durchzudenken, treibt Oppenheim seine Forschungen weiter voran und scheut nicht vor provokanten Ankündigungen zurück. "Hier scheint etwas zu passieren", schreibt er im März dieses Jahres auf X, vormals Twitter. Seine Theorie könne "die Ausdehnung des Universums und die Rotation von Galaxien ohne Dunkle Materie oder Dunkle Energie erklären". Sein Vorschlag verändert nämlich auch die Relativi-tätstheorie geringfügig, und das hätte messbare Auswirkungen auf die Kosmologie.
Hinter der scheinbar beiläufigen Bemerkung steht eine ganz und gar unerhörte Be-hauptung. Es handelt sich hier um die derzeit wichtigsten Fragen der Astrophysik. Bisher unbekannte physikalische Substanzen namens Dunkler Energie und Dunkler Materie sollen Teil der Antwort sein, doch Oppenheim legt nahe, sie würden nicht mehr benötigt. Einige Fachleute haben sich hierzu bereits skeptisch geäußert. In einem Kommentar zu den noch nicht in einem Fachjournal publizierten Behaup-tungen heißt es etwa, dass Oppenheims Ansatz auf kosmologischer Ebene zu keinen relevanten Kräften führe. Er passe auch sonst nicht zu den beobachteten Bewegungen von Galaxien. Immerhin gibt es bereits Ansätze, Dunkle Materie durch Anpassungen der Relativitätstheorie zu ersetzen. Von diesen unterscheide sich die neue Theorie aber zu stark. Oppenheim und sein Co-Autor Andrea Russo gingen auf die Vorwürfe in einem Anhang in ihrer eingereichten Arbeit detailliert ein. Eine fundiertere Diskussion kann beginnen, wenn die von Oppenheim ein-gereichte Studie den Peer-Review-Prozess durchlaufen hat und publiziert ist.
Bälle als Lohn
Insgesamt sorgt die neue Idee in der Grundlagenphysik jedenfalls für Neugierde. Oppenheim selbst und andere Forschungsgruppen in aller Welt arbeiten derzeit intensiv daran, alle Konsequenzen des neuen Vorschlags auszuloten. Auch Galley hat dazu bereits Studien veröffentlicht.
Oppenheim und seine Konkurrenten um die Welterklärung, der wichtige String-theorie-Vertreter Geoff Penington und Schleifen-Quantengravitation-Pionier Carlo Rovelli, sehen den Wettstreit sportlich. Rovelli bot Oppenheim 5000 bunte Spiel-zeug-Plastikbälle an, sollte sich herausstellen, dass die Gravitation nicht quantisiert ist. Er selbst verlangte nur einen einzigen Plastikball, sollte er recht haben. Hinter dem scherzhaften Austausch steht ein Streit um den Wert jahrzehntelanger For-schungsarbeit.
Ein einziges Problem könnte das neue Theoriegebäude schnell zum Einsturz brin-gen. Doch Oppenheim betont in einer seiner Studien, dass auch in diesem Fall praktische Vorteile in der mathematischen Arbeit mit Quantenphysik und Relativi-tätstheorie bestehen blieben, weil sich endlich eine Verbindung der beiden wider-spruchsfrei formulieren ließe. Jedenfalls ist eine Theorie, die gut im Experiment scheitern kann – falsifizierbar ist, wie es der Philosoph Karl Popper genannt hat –, in diesem Gebiet eine wohltuende Abwechslung, mit der viele nicht gerechnet hätten.
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