Donnerstag, 22. Februar 2024

Die Vorstellung von der Natur als einem Haushälter stammt von Aristoteles.

 
aus Neue Zürcher Zeitung, 22. 10. 2010                                                                                                 aus Philosophierungen
 
von Klaus Bartels 

Im alten Latein bezeichnete die natura, ein Spross des Stammworts nasci, «geboren werden», nichts weiter als die «Geburt» von Mensch und Tier und entsprechende Organe. Erst als Cicero das griechische Begriffspaar physis und téchne mit natura und ars, «Natur» und «Technik» alias «Kunst» wiedergab, ist jene alte natura im wei-testen Sinne zur «Natur» geworden. Mit diesem Begriffspaar hatte zuvörderst Aris-toteles zwei mächtige Weltbereiche in den Blick genommen: auf der einen Seite die natürliche Welt, wie wir sie um uns vorfinden, von der Erde vor unseren Füßen bis zu den Sternen am Himmel, auf der anderen Seite die künstliche Welt, mit der wir uns, wie es einmal bei Cicero heisst, «mit unseren Händen in der Natur gleichsam eine zweite Natur zu schaffen versuchen», «nostris manibus in rerum natura quasi alteram naturam efficere conamur».
 
Für den grossen Philosophen und Zoologen ist die griechische physis – eigentlich: «das Werden, das Wachsen»* – der Inbegriff des selbsttätigen Naturprozesses, mit dem die Gestirne am Himmel «von selbst» ihre immergleichen Kreise ziehen, Erdi-ges, also Schweres, «von selbst» zu Boden fällt und Feuriges, also Leichtes, empor-steigt, der Same sich «von selbst» zur Pflanze, das Ei sich zum Huhn entwickelt und der Mensch über all das «von selbst» ins Staunen und Fragen gerät. Zugleich erkennt Aristoteles in dieser physis die ingeniöse Werkmeisterin alles Lebenden, mit seiner Formel: eine «handwerkende physis», die alle Artgestalten vom Menschen bis hinab zu den Pflanzen ursprünglich organisiert hat und fortwährend reproduziert.
 
In seiner vergleichenden Morphologie der Tiere schreibt Aristoteles dieser «hand-werkenden Physis», die wir nun getrost groß schreiben wollen, allgemeine Kon-struktionsprinzipien zu, die heute jedem Automobilkonzern Ehre machen würden. «Wie ein intelligenter Mensch», sagt er da, teilt die Physis jedes Organ einzig dem zu, der es gebrauchen kann» – und erklärt so, dass einzig der intelligente Mensch die speziell zum Werkzeuggebrauch dienlichen Hände erhalten hat. Wie jeder Volks-wagen vom Phaethon bis zum Polo das seiner Leistungsstufe Entsprechende, so er-hält hier jede Tiergattung vom Menschen bis zu den Seegurken das ihrer Lebensstu-fe Entsprechende. Hie und da gibt es ein Sondermodell: Dem vermeintlich amphi-bischen planschfreudigen Elefanten hat diese Physis die Nase zu einem Schnorchel ausgebildet und mit einem zweiten Geniestreich die Greiffunktion von den klobi-gen Vordergliedmassen auf den biegsamen Rüssel übertragen.
 

Die Regel, dass diese Physis « nichts Unnützes und nichts Überflüssiges» schaffe, gilt insbesondere für die Angriffs- und Verteidigungswaffen. So deutet Aristoteles, dass keine Gattung der grossen Vierbeiner zugleich über Hörner und Reisszähne verfügt: «Mehrere jeweils für sich ausreichende Rüstungsorgane hat die Natur ein und derselben Gattung nicht gegeben.» Also kein Overkill: Von dieser superintel-ligenten alten Physis könnte auch ihr intelligentes Topmodell noch etwas lernen.

Auch in puncto Schonung der Ressourcen und Recycling der Abfälle ist diese aristotelische Physis ihrer Zeit weit voraus. In seiner gelehrten embryologischen Schrift rühmt der «Sekretär der Natur» die Öko-Qualitäten seiner Meisterin: «Wie ein guter Haushalter – wie ein guter oikonómos – pflegt die Physis nichts wegzu-werfen, woraus sich noch etwas Brauchbares machen lässt.» Im modernen Euro-Wortschatz lebt die griechische physis von der «Physik» bis zur «Neurophysiologie» vielfältig fort, und mit ihrer lateinischen Lehnübersetzung natura hat sie das weite Feld von «Natur» und «Naturwissenschaft» besetzt.

Aber der Begriff einer schöpferischen, sozusagen am Reissbrett gestaltenden Natur, wie Aristoteles ihn als Erster geprägt hat, hat sich aus der Naturwissenschaft seither doch völlig verflüchtigt; Klopstocks Anruf – am Anfang seiner Ode an den Zür-chersee – «Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht» sieht heute ziemlich alt, ja geradezu antikisch aus. Dafür ist die «Natur» unter dem Zeichen der unerhör-ten Akzeleration und Globalisierung des Kulturprozesses zu einem scharf geschlif-fenen politischen Hieb- und Stichwort geworden. Neu steht da jetzt nicht mehr die aristotelische «handwerkende» natura fabra einem entsprechend handwerkenden Homo faber, sondern eine bedrängte, leidende «Natur» mit allem, was da grünt und blüht, kriecht und fliegt, einem grassierenden Raubbau und Kahlschlag und allerlei Luft und Meer verpestenden Emissionen und Immissionen, «Auspuffungen» und «Einpuffungen», gegenüber.

*) von gr. φυω = (er)zeugen


Nota I. - Ist es nicht bemerkenswert, wie gut das animistisch inspirierte ‘holistische’ Naturgeraune des Aristoteles zum ganz nüchternen Krämergeist des kapitalistischen Zeitalters passt? Die Natur, ein “Haushälter”! Der Bourgeois hätte, ganz “natürlich”, auch nichts dagegen gehabt, das Kapital als eine “Entelechie” und das Geld als eine causa finalis alias “Zweckursache” aufzufassen. Doch tatsächlich verschwendet niemand so großzügig wie ‘die Natur’.
 

Nota II. - Sicher wird die Vorstellung von der Natur als einem Landwirt und Haus-hälter von Aristoteles nicht "stammen"; sie wird, wie die Entelechien und die Vor-stellung vom Kosmos als einem Organismus, schon lange latent in den Vorstellun-gen (wessen?) gewebt und gewirkt haben. Aber Aristoteles hat sie deutlich ausge-sprochen, indem er sie für die Mit- und Nachwelt aufgeschrieben und zum Be-standteil unseres geistesgeschichtlichen Erbes gemacht hat.
JE , 9. 10. 15



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