Donnerstag, 8. Februar 2024

Ästhetik als Treiber der Besonderung.

Altsteinzeit, Jüngere Altsteinzeit, Gravettien, Europa, vor ca. 25.000 bis 29.000 Jahren. - Zwei Anhänger in Frauengestalt. - Elfenbein, geschnitzt, Höhe 8,6 und 8,7 cm. Gefunden bei Dolní Vestonice (Unterwisternitz), Mähren. Brno (Brünn), Moravske Museum.
aus welt.de, 7. 2. 2024             Zwei Anhänger aus dem Gravettien, gefunden in Mähren                           zu öffentliche Angelegenheiten

Mit Preziosen bewies Homo sapiens seine Modernität
Nach dem Aussterben des Neandertalers kamen ab 32.000 v. Chr. neue Gruppen des modernen Menschen nach Europa. Sie legten großen Wert auf das Tragen von Schmuck, mit dem sie sich auch als Mitglieder einer kulturellen Gemeinschaft auswiesen.

Vor etwa 34.000 Jahren erlebte das steinzeitliche Europa eine umstürzende Veränderung. Der Neandertaler (Homo neanderthalensis) verschwand, während einige Populationen des modernen Menschen (Homo sapiens) den neuerlichen Vorstoß der Eiszeit-Gletscher über-lebten. Nach deren Rückzug wanderten neue Gruppen von Westasien aus auf den in weiten Teilen entvölkerten Kontinent. Sie brachten neue Klingen und verbesserte Geschossspitzen mit – und eine revolutionäre Erfindung, die das Überleben in der Eiszeit wesentlich erleich-terte: die Nähnadel.

Zu den „kennzeichnenden Merkmalen seiner kulturellen Modernität“ rechnet der Archäolo-ge Hermann Parzinger auch die Vorliebe von Homo sapiens für Schmuck. Das konnten durchbohrte Perlen aus Stein, Knochen oder Bernstein sein, Zähne von Wolf, Pferd, Bison oder Höhlenbär, Anhänger aus Mammutelfenbein, Muscheln oder Schneckengehäuse. Man trug sie im Kopf- und Halsbereich sowie an Armen, Knien und Knöcheln. Auch die Klei-dung war oft damit geschmückt.

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134 verschiedene Schmuckstücke aus dem Gravettien, wie diese Epoche des mittleren Jungpaläolithikums in Europa genannt wird, hat ein Team um den Paläontologen Jack Baker von der Universität Bordeaux untersucht. Ihre Bearbeitung offenbart ein erstaun-liches Motiv: Die Unterschiede in Ornamenten und Technik erklären sich nicht allein durch die geografische Trennung, sondern durch bewusste kulturelle Entscheidung. Selbst Popula-tionen mit ähnlicher genetischer Abstammung waren offenbar bestrebt, sich mit eigenen Schmuckmustern von ihren Nachbarn zu unterscheiden, schreiben die Wissenschaftler in der Zeitschrift „Nature Human Behaviour“.

Baker und seine Kollegen haben Artefakte aus 112 Fundorten in West-, Mittel- und Osteu-ropa analysiert. Davon waren 97 Siedlungs- und 17 Bestattungsplätze, die zwischen 32.000 bis 22.000 v. Chr. von Gruppen von Homo sapiens benutzt wurden. Daraus konnten die Forscher 134 Ornamenttypen identifizieren, 79 aus Muscheln, 26 aus Zähnen von diversen Tieren und 29 aus anderen Materialien.

Es zeigt sich, dass sich die Jäger und Sammler bei der Wahl ihrer Materialien durchaus von dem Angebot leiten ließen, das sie in ihrer Umwelt vorfanden. Aber die Muster und Orna-mente, mit denen sie ihre Stücke versahen, lässt die Identifikation von insgesamt neun grö-ßeren Kulturgruppen zu, die sich in Europa von der Iberischen Halbinsel bis in den Osten des Kontinents etabliert hatten.

„Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unsere Ergebnisse mit der These übereinstimmen, dass die gravettischen Jäger und Sammler bei der Auswahl ihres persönlichen Schmucks zu-mindest bis zu einem gewissen Grad Konventionen folgten, die durch ihr Gefühl der Zuge-hörigkeit zu einer kulturellen Gruppe diktiert wurden“, schreibt das Team: „Dies leugnet natürlich nicht den wahrscheinlichen Einfluss von Ökologie und Rohstoffverfügbarkeit, sondern legt vielmehr nahe, dass diese Faktoren weitgehend in die kulturellen Entscheidun-gen einbezogen wurden.“

Der Vergleich mit den Ergebnissen von Gen-Analysen zeigt darüber hinaus, dass in Osteu-ropa offenbar eine eigenständige Kulturgruppe existiert hat, für die bislang noch keine genetischen Fingerabdrücke gefunden worden sind. Auch für zwei Gruppen, die auf der Iberischen Halbinsel verortet werden, konnte bislang nur jeweils ein Individuum genetisch identifiziert werden.

Die Frage, inwieweit Schmuck den sozialen Status seiner Träger demonstrieren sollte, lassen die Daten allerdings unbeantwortet. Bereits in seiner zusammenfassenden „Geschichte der Menschheit vor Erfindung der Schrift“ (2014) hat Hermann Parzinger die These vertreten, dass Kopfbedeckungen, Beinkleider, Stiefel, Anoraks, Gürtel und Schmuck Rückschlüsse auf kulturelle Gruppen zulassen, die Funde jedoch nicht zahlreich genug seien, um bereits „regionale Trachten“ rekonstruieren zu können: „Doch scheint es durchaus naheliegend, dass der Träger von derart geschmückter Kleidung damit auch ganz bewusst eine Aussage über seine Gruppenzugehörigkeit, vielleicht sogar über seine soziale Stellung treffen wollte, was ebenfalls als deutlicher Ausdruck kultureller Modernität zu deuten wäre.“

 


aus derStandard.at, 29. 1. 2024                                                       Schmuck aus der Gravettienzeit lässt auf mindesten neun damals in Europa vorherrschende Kulturen schließen. Das Bild zeigt die Rekonstruktion eines Jägers und Sammlers aus dieser Ära, basierend auf archäologischen Funden in Arene Candide in Italien. Illustr.: Tom Bjoerklund

30.000 Jahre alte Schmuckmode offenbart neun europäische Kulturkreise
Unter anderem verweisen Funde aus Niederösterreich auf eine breitere Palette an kulturell verbundenen Gruppen in Europa während der jüngeren Altsteinzeit

Die letzte große Eiszeit, die Weichsel-/Würm-Kaltzeit, erreichte in Europa ihren Höhe-punkt vor rund 30.000 Jahren. Faszinierenderweise fällt in diese Zeit auch das künstlerische Erwachen der europäischen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften: Die "Venus von Willen-dorf" stammt aus dieser Ära, und auch die ältesten bisher bekannten figürlichen Kleinkunst-werke sind nicht viel früher entstanden. In der sogenannten Gravettienzeit kam auch die Schmuckherstellung in Europa gleichsam in Fahrt.

Anhand dieser Schmuckobjekte, die Menschen vor 34.000 bis 24.000 Jahren trugen, analy-sierte nun ein Forschungsteam, wie viele kulturell einander nahestehende Gruppen Europa zu dieser Zeit bewohnten. In ihren Berechnungen, in die auch mehrere in und um Krems (NÖ) gemachte Funde eingingen, identifizierten sie neun Kulturkreise der Gravettienzeit. Die heutige Wachau lag demnach damals schon im Spannungsfeld zwischen Zentral- und Osteuropas Kulturräumen.

Funde am Wachtberg in Krems

Für ihre nun im Fachjournal "Nature Human Behaviour" präsentierte Studie trug das Team um Erstautor Jack Baker von der Universität Bordeaux (Frankreich) Informationen über insgesamt 134 Schmuckstücke zusammen, die an 112 während der Gravettienzeit besiedel-ten Fundorten ausgegraben wurden. An 17 dieser Stätten wurden auch Gräber mit Über-resten von 32 Individuen gefunden.

So auch am Wachtberg in Krems, wo österreichische Wissenschafterinnen und Wissen-schafter im Jahr 2005 unter mächtigen Lössschichten eine weltweit einzigartige Grabstätte fanden: eine rund 31.000 Jahre alte Doppelbestattung zweier Säuglinge unter einem Mam-mut-Schulterblatt. In der Gravettienzeit entstand auch die "Venus von Willendorf", die Steinzeit-Jäger-und-Sammler dort vor rund 30.000 Jahren zurückließen und 1908 gefunden wurde. Auch auf diesen Fundort in der heutigen Wachau nimmt die Studie Bezug.

Alltagsschmuck

Für die Forschenden eignen sich Schmuckgegenstände gut zur Analyse von kulturellen Bezügen der einstigen Gruppen zueinander – insbesondere, weil Analysen von DNA aus dieser Zeit rar sind. Der Wachtberg-Fund ist eine Ausnahme: So konnte etwa anhand des Erbguts der Säuglinge geklärt werden, dass es sich tatsächlich um männliche eineiige Zwil-linge handelte. Baker und Kollegen bezogen auch Erbgutdaten in ihre Studie mit ein, sehen aber in Schmuckstücken besonders lohnende Hinweise auf kulturelle Zugehörigkeit, da diese – anders als manche Grabbeigabe – vermutlich täglich getragen wurden.

Da in der Gravettienzeit die Praxis des Herstellens vielfältiger solcher Objekte aus Muschel-schalen, allerlei Tierknochen, Zähnen, Geweihen, Bernstein oder anderen festen Materialien einen starken Aufschwung erlebte, könnten diese Dinge und ihre Beschaffenheit auch als eine Art Erkennungsmerkmal für die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen gedient ha-ben, schreiben die Wissenschafterinnen und Wissenschafter in ihrer Arbeit.

Venus von Willendorf
Die knapp elf Zentimeter hohe "Venus von Willendorf" ist eines der wichtigsten Zeugnisse beginnender Kunst in Europa. Eine Studie konnte 2022 nachweisen, dass das Material der Figurine wahrscheinlich aus Norditalien stammt.

Neun Kulturkreise

Die statistischen Analysen der Forschenden legen nun nahe, dass es über diesen langen Zeitraum während des mittleren Jungpaläolithikums neun Kulturkreise gegeben haben könnte. Sechs davon identifizierten sie auf Basis der Funde in einstigen Siedlungen, drei davon auf Basis der Grabstätten. Zwischen den "Clustern" gibt es teilweise Überschnei-dungen.

Demnach liegen die Funde aus dem heutigen Niederösterreich, die auch die früheren Siedlungen und nunmehrigen Grabungsstätten Grub/Kranawetberg und Ollersdorf/Heidenberg umfassen, wie etwa auch jene im Nahe der österreichischen Grenze gelegenen Dolní Vestonice (Tschechien) im zentraleuropäischen Kulturkreis, der sich vom heutigen Süddeutschland über weite Teile des Alpen- und Karpatenbogens erstreckt. Geht man aber von den genetischen Daten und den Informationen, die die Grabstätten in Niederösterreich und Tschechien beinhalten aus, seien diese eher in Richtung osteuropäischer Cluster zuzu-ordnen.

Bisher unbekannte Kulturen

Laut den Autoren zeigt die neue Analyse, dass die vermuteten Zugehörigkeiten zu den verschiedenen Kulturkreisen nicht nur von geografischen Naheverhältnissen bestimmt wurden. Zudem finden sich Hinweise auf Kulturkreise, etwa im Osten Europas oder auf der Iberischen Halbinsel, die zuvor nicht im Blick der Wissenschaft waren und zu denen es noch keine genetischen Daten gibt. Insgesamt scheint es in der Gravettienzeit bereits eine breitere Palette an kulturell verbundenen Gruppen in Europa gegeben zu haben als bisher vermutet. (red, APA)

Studie

Nature Human Behaviour: "Evidence from personal ornaments suggest nine distinct cultural groups between 34,000 and 24,000 years ago in Europe".

 

 

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