... Erinnert
sich niemand, dass die Gesundheitsmystik in den achtziger Jahren mit
dem grünalternativen Lebensstil aufgekommen ist? Gesundes Brot, Ying und
Yang, Körner und Kräutertee und um Himmels Willen keine Chemie! Sie
strickten in Naturwolle, liefen in Birkenstocklatschen und schoben immer
ein Fahrrad mit sich rum. - Das waren Leute, die noch ein paar Monate
zuvor für den Sieg im Volkskrieg auf die Straße gegangen waren, die
internationale Solidarität hochleben ließen und auf ihren Versammlungen
die Massenlinie beschworen; und im Morgengrauen standen sie wieder vor
den Fabriktoren und verteilten klassenkämpferische Flugblätter. Bis dann
der Ruf "endlich mal an mich selber denken!" den Zauber brach und sich
alle, vom Druck befreit, bedenkenlos dem zuwenden durften, was ihnen
eigentlich immer das Liebste gewesen war: dem Selbst. Auf
dem Vulkan hatten sie grad mal einen Sommer getanzt, eben genug, um
sich wirklich wichtig fühlen zu können: Das war eine nützliche Vorübung;
"Wie komm ich mir vor?" hatte obendrüber auf den Transparenten
gestanden. Egozentrik ist
die seelische Grundverfassung der Angestelltenzivilisation. "Erfolg"
brau-chen sie ja gar nicht der Konkurrenz wegen, sondern um sich vorzukommen! Denn worin könnte in der Angestelltenwelt Erfolg denn anders bestehen? Was gibt es da denn zu lei-sten? Gegen
den Leistungsterror, gegen den Konsumzwang - das war der gleitende
Über-gang vom antiautoritären Revoluzzertum zu grünalternativer Erhaltung
der Schöpfung, sie wollten "wie das Wasser sein" und plapperten wie
Bächlein. Aber da ist die Metapher schon am Ende, denn die Bächlein
drehen sich nicht um sich selbst.
Die rechte Seite wird in den meisten
Kulturen mit dem Sakralen, Guten, Schönen assoziiert – aber wann wurde «rechts»
zum Schimpfwort? Zur Zeit der Französischen Revolution wurde das räumliche
Rechts und Links politisch aufgeladen. Eine Kulturgeschichte zweier Begriffe.
von
Peter Hoeres
Die Vorherrschaft der rechten Seite ist häufig religiös
und moralisch grundiert. Bild: Detail aus Rembrandt van Rijns «Porträt einer
Frau mit einem Fächer aus Straussenfedern», um 1658–1660.
Im Jahr
1909 führte der Soziologe Robert Hertz in einem genialischen Essay die
omniprä-sente Privilegierung der rechten Hand und die Abwertung der linken Hand
auf die Grund-unterscheidung von religiös beziehungsweise heilig und profan
beziehungsweise böse zu-rück. Diese hat nur nachgeordnet mit einer physischen
Asymmetrie zu tun. Vielmehr wird die rechte Hand und die rechte Seite insgesamt
in den meisten Kulturen mit dem Sakralen, Guten, Schönen und Männlichen
verknüpft, mit dem Leben schlechthin, die linke dagegen mit dem Profanen, Bösen,
Schlechten, häufig auch Weiblichen und dem Tod.
Die Privilegierung
der «rechten Seite des Körpers» stimmt mit derjenigen der «rechten Seite im
Raum» überein, so stehen rechts der Himmel, die Sonne, der Osten mit dem
Sonnenauf-gang, links die Verdammnis, die Hölle, der Westen mit dem
Sonnenuntergang. Die rechte Hand ist die Schwur- und Schwerthand; die linke Hand
ist die passive, unreine, tabuisierte Hand, die Hand zur Säuberung von
Ausscheidungen.
Die Grundunterscheidung von rechts und links gehört
zu den wichtigsten Elementen unserer psycho-physischen Ausstattung. Hertz führte
für die universelle Verbreitung des Gegensatzes ethnologische Feldstudien bei
den Maori in Neuseeland und anderen früher sogenannten primitiven Völkern an,
was später in weiteren Studien vertieft wurde. Wie bei den Maori treffen wir
etwa bei den Nyoro in Ostafrika, den Mapuche Südamerikas und den indonesischen
Ambonese, aber auch in Europa häufig die normativen Aufladungen von rechts und
links an. Die Rechts-links-Unterscheidung ist tatsächlich global.
Umkehrung
von rechts und links
Etymologisch gibt es in zahlreichen Sprachen
Wortstämme, die rechts mit richtig und gerecht identifizieren, links mit
linkisch, lahm, verkehrt oder schwach. Erinnert sei auch an Redewendungen wie
«mit dem linken Fuss aufstehen», «Nachkomme linker Hand», «linker Vogel» oder
«left-handed compliments» einerseits, «to be right» oder «rechtschaffen»
ande-rerseits. Mit der rechten Hand begrüsst man die Gäste, mit der rechten Hand
opfert und schwört man, und mit dem rechten Fuss betritt man heilige Orte.
Kurzum, allerorts treffen wir auf die Vorherrschaft der rechten Seite, häufig
mit einer religiösen und moralischen Grundierung.
Als Ludwig XVI. im
Mai 1789 zum ersten Mal seit 175 Jahren die Generalstände zusam-mengerufen hatte,
bildete sein erhöhter Thron das Zentrum. Unmittelbar zu seiner Rechten durften
die Prinzen, links die Gemahlin und die Prinzessinnen Platz nehmen. Der Klerus
als oberster Stand sass zu seiner Rechten, der Adel zu seiner Linken, die
Delegierten des dritten Standes gegenüber, am Fussende. Distanz zeigt hier eine
weitere räumliche Symbolisierung an.
Als der dritte Stand sich am
20. Juni 1789 mit Einladung an die anderen Stände zur Repräsentanz der
Nation und zur verfassunggebenden Versammlung im Ballhaus erklärte, wohin man
hatte ausweichen müssen, war die alte Ordnung zerbrochen. Die Tradition wirkte
aber weiter. In den verschiedenen Versammlungsräumen der Konstituante, dann der
Legislative und schliesslich des Konvents stellte sich jeweils eine
Rechts-links-Sitzordnung zwanglos wieder ein. Nicht mehr der Stand, sondern das
Votum bestimmte nun aber die Platzwahl. Die rechte Seite wurde dabei immer
weiter amputiert: Die Aristokraten und Monarchisten schieden aus, die nun
gewählten Abgeordneten gruppierten sich unter der Verfassung der
konstitutionellen Monarchie vom September 1791 von einer gemässigten Rechten bis
zu den linken Jakobinern. Die Orientierungen wurden von den Stenografen und der
Presse übernommen.
Die rechte Seite wurde bald geächtet, keiner
wollte dort sitzen, um nicht als Monarchist angesehen zu werden. Die Girondisten
als gemässigte Linke mussten schliesslich dort Platz nehmen. Die radikale Linke
sass dagegen oben links, Vertreter der Bergpartei (Montag-nards) im neu
errichteten parlamentarischen Amphitheater. Neben die horizontale Unterscheidung
trat die alte vertikale, jetzt sassen die Vertreter des gesellschaftlichen
unteren Rangs aber oben links und schauten spöttisch auf die Plaine, den Sumpf,
herab. Das Feindbild rechts wird etabliert, «rechts» wird zum Schimpfwort und
Kampfbegriff.
Rechts zu sitzen, sich dort zu verorten, wird
lebensgefährlich. Nach dem 2. Juni 1793, dem Aufstand der Pariser
Sansculotten, werden 27 Girondisten verhaftet und dann hingerichtet. Das droht
auch denen, die dagegen aufbegehren. Nach Einsetzen der Terreur im August 1793
sitzt niemand mehr rechts. Die der dortigen Seite Zugerechneten kommen nicht
mehr ins Parlament. Wer links nicht Platz findet, steht oder geht umher. Nachdem
die Schreckens-herrschaft Robespierres am 8. Thermidor, dem 26. Juli
1794, mit dessen Verhaftung und Hinrichtung beendet worden ist, lost man während
der Direktorialverfassung die Sitze im neugebildeten Rat der Fünfhundert alle
drei Monate neu aus, um Fraktionsbildungen zu verhindern.
Der
Dualismus zwischen links und rechts war aber so fest etabliert, dass er 1814 in
die Abgeordnetenkammer zurückkehrte, obwohl es keine organisierten Parteien gab.
In der öffentlichen Meinung ist die Rechts-links-Unterscheidung seit den 1820er
Jahren in Frankreich präsent. Die Unterscheidung verbreitete sich nun, in Europa
über die süddeutschen Kammern ins Paulskirchenparlament, im 20. Jahrhundert
dann global. In Lateinamerika ist sie bis heute fest verwurzelt. Auch in den
angelsächsisch geprägten politischen Kulturen zog die Unterscheidung ein. Das
Zweiparteiensystem in Grossbritannien und den USA mit entsprechenden
alternativen Bezeichnungen wurde durch die Rechts-links-Semantik ergänzt.
Auf
der linken Seite droht Aufruhr
Doch warum war diese binäre
Orientierung so erfolgreich? Die dualistische Ordnung war grundsätzlich einfach,
verständlich und strukturgebend. Sie symbolisierte die nicht mehr harmonisch
gedachte, sondern polare und polemische Ordnung der politisierten Gesellschaft.
Eine horizontale Ordnung entsprach zudem der propagierten Égalité besser als
eine vertikal-hierarchische. Schliesslich knüpfte sie an eine etablierte
religiös-soziale Unterscheidung an, die sie aber eben verkehrte. Der dritte
Stand etablierte sich nämlich als politischer Corpus in Opposition zur
hergebrachten monarchisch-ständischen Ordnung. Damit setzte er sich gleichsam
ins Un-Recht, in den Gegensatz zur Ordnung und zum König.
Die linke
Seite war die Seite des Aufruhrs, des Widerstandes. Die Jakobiner als radikalste
Vertreter dieser Bewegung verstanden das als Aufstand nicht nur gegen die
politische, sondern auch gegen die religiöse Ordnung, gegen den Gott der
christlichen Religion, der durch eine Vernunft- und Tugendreligion ersetzt
werden sollte. Das Schema musste also umgewertet werden.
Man könnte
es so interpretieren, dass die jahrhundertelange Einschreibung der
Privilegierung der rechten Seite weiter spürbar blieb, in der Sprache, in der
Vorrangschätzung der rechten Seite und Hand. Um diese gefährliche Macht der
Natur und des Unterbewusstseins politisch als neue Opposition gegen die
Revolution zu ächten, musste sie mit grösstem Aufwand kriminalisiert werden. Die
von Ernst Nolte sogenannte «ewige Linke» als Empörungsbewegung gegen
Ungleichheit und Ausbeutung triumphierte hier mit der brutal durchgesetzten
Umwertung der Werte und Begriffe.
Die rechte Seite wird im
politischen Diskurs derzeit bis in amtliche und offiziöse Dokumente hinein mit
kriminell, böse oder unmenschlich in eins gesetzt. Hier tut sich eine tiefe
Kluft zur jahrhundertelangen anthropologischen, religiösen, sprachlichen,
rechtlichen und künstlerischen Prägung des Menschen auf. Wer bewusst das
Verkehrte, Falsche, Queere, Linkische anbetet, stellt sich damit schon
symbolisch gegen das Richtige und Rechte, setzt sich in Gegensatz zur
universalen Orientierung des Menschen im Kosmos.
Dies ist eine nicht
immer vollständig intentionale und bewusste, aber fundamentale Bewegung, die
tatsächlich die Zeit seit der Französischen Revolution prägt, sich gegenwärtig
verschärft und damit eine Desorientierung des Menschen zur Folge hat. Denn die
Rechts-links-Orientierung ist keineswegs obsolet, wie manche Soziologen meinen,
sondern wirkt mächtig fort.
Für einen Naturwissenschafter wie Hoimar
von Ditfurth sind die Herausbildung eines unterschiedlichen Leistungsspektrums
der Hirnhälften und die Überkreuzsteuerung der Hände eine Leistung der Evolution
im Sinne der Spezialisierung. Die Prävalenz der rechten Hand ist der
darwinistischen Allzweckwaffe, nämlich «reinem Zufall, zuzuschreiben». Andere
Autoren erklären aus der asymmetrischen Struktur der Aminosäuren und dem Ablauf
der Eiweisssynthese sowie der daraus folgenden Dominanz der rechten Hand die
Assoziation der rechten Seite mit Stärke und das gesamte Entstehen der rechten
Ordnung.
90 Prozent der Menschen sind Rechtshänder. Als Quelle der
kulturellen Unterscheidung erkannte Hertz jedenfalls den «Gegensatz von sakral
und profan». Hier treten wir freilich in den Bereich des Mythos ein. Die
universale Orientierung ist demnach eine gegebene und aufgegebene, eine
Orientierung auf das Heilige, auf Gott hin, die der Conditio humana
eingeschrieben und protohistorisch ist. Sie entsteht immer wieder neu und
spontan und entzieht sich damit politischen Moden und allen Umwertungsversuchen.
Sie verweist vielmehr auf den Homo religiosus, der sich nach dem Hellen und
Schönen ausrichtet und sehnt und nach Erlösung strebt. Er hegt die Hoffnung,
dereinst zur Rechten Gottes gerufen zu werden, dort, wo der Menschensohn ist. So
hat ihn der erste Märtyrer Stephanus beim Blick in den Himmel während seiner
Steinigung gesehen.
Peter Hoeres lehrt neueste Geschichte an der
Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
Nota. - Die letzte Verteidigungslinie
der Arbeitsgesellschaft war die Angestelltenzivilisation. Die war
Mitte-schlechthin; rechts die Reaktion, links die Lunatic fringe. Wer in
den Adenau-erjahren von Revolution redete, wurde ausgelacht; höchstens. "Die Unterscheidung von
Links und Rechts ist überholt." Sollte heißen, die Angestelltenzivilisation hat die Klassen-gesellschaft obsolet gemacht, keine Revolution droht, nicht Orwells Farm der Tiere und auch nicht 1984. Aber Huxleys Breave New World, Gleichmacherei und allgemeine Infan-tilisierung,brummelte das konservative Feuilleton.
Wie konnte links dann doch zum herrschenden Zeitgeist werden - ausgerechnet bei der nachwachsenden Generation der Gebildeten? Das war doch nicht das Aufbegehren eines deklassierten Kleinbürgertums, das verzweifelt Anlehnung bei einer neu aufstrebenden Arbeiterbewegng gesucht hätte! Das war im Gegenteil der Königsweg zur Ausbildung eines ganz neuen Typus von Massenintelligenz, den der technische Fortschritt erforderte, den die überkommenen Hochschulen nicht ausbilden konnten, aber die massenhaft in die eilig ge-gründeten Reformuniversitäten in den Provinzen strömte, wo sie sich gegen den verblei-benden "Muff von tausend Jahren" eine eigene Identität schaffen musste. Eine der wenigen verbliebenen Errungenschaften des Pariser Mai ist die Faculté de Vincennes. Und in ihrer Masse ergossen sich ihre Ströme natürlich nicht in die Fertigung, sondern in die allüberall sich in die Breite blähenden Verwaltungen. In dem Maße, wie sich ihr langer Marsch den obersten Rängen näherte, wurden die prätendierten Sieger im Volkskrieg umgänglicher und ließen sich auf manche einstweilige Zwischenlösung ein.
Das war vor gur einem halben Jahrhundert. Inzwischen ist die Weltrevolution endgültig ab-gesagt. Soweit sie politisch gemeint ist. Tatsächlich ist mit der stetigen Ersetzung mensch-licher Arbeitskraft durch Künstliche Intelligenz & Co. das kapitalistische Wetgesetz im Be-griff, dich selbst aufzuheben. Was an seine Stelle treten wird, ist einstweilen nicht abzuse-hen, aber es wird über kurz oder lang abgesehen werden müssen. Denn eins ist klar: Man wird nicht zusehen können, wie er sich naturwüchsig, wie Marx sagen würde, von selbst ergibt. Das hätte schon beim Übergang von der Ackerbau- zur Industriezivilisation in eine Katastrpohe führen können, als die Destruktivkräfte der Menschen nicht ein Zehntel so weit entwickelt waren wie heute.
Eine schreckliche, aber ebenso grandiose Perspektive, nicht wahr? Denn mit besagten Kräf-ten muss man nicht nur, sondern kann man Pläne machen. Es wird, wie immer, darum ge-hen, die Kräfte und Mittel der Reproduktion so zu verteilen, dass einerseits die Produktiv-ität weiter und übrigens ausgeglichener wachsen kann, und gleichzeitig die Gesellschaft im Gleichgewicht bleibt. Das stellt die frühere Gegenüberstellung von Links und Rechts und von konservativ und progressiv auf den Kopf.
Die Arbeit, die immer weniger von Menschen, sondern von Maschinen besorgt wird, kann nicht weiter der Maßstab dafür sein, wie viel ein Mensch zu seinem Lebensunterhalt be-kommt - zwischen beiden besteht auf die Dauer kein sachliches Verhältnis mehr, das in ir-gendeiner Weise für irgendetwas bestimmend wirken könnte. Es wird zugleich einen steti-gen dynamischen Überschuss an maschineller Arbeitskraft geben, der es gar nicht nötig macht, die Verteilung der Güter in irgendeiner Weise von verausgabter Arbeitkraft abhän-gen zu lassen. Wenn alle einen auskömmlichen Sockelbetrag zum Leben erhalten, können die, die noch immer arbeiten wollen, sich ihre Arbeit nach ihrer Mühseligkeit entgelten las-sen, aber das werden wenige sein. Die, die auch arbeiten, aber dabei ihre eigene Produktivi-tät entfalten wollen, werden in Kauf nehmen, dass dafür weniger bekommen. Denn für ihr Grundeinkommen ist gesorgt.
Keiner kann einem solchen Modell im Ernst das gegenwärtige krisengeschüttelte, "natur-wüchsige" kapitalistische System vorziehen. Das sagt ja auch keiner; alle sagen "schön wärs!" Es geht aber nicht! Es geht nicht, wenn die Verantwortlichen all ihren Scharfsinn darauf verwenden, dass und warum "es nicht geht", sondern darauf, Wege zu finden, wie es geht.
Und hab ichs nicht gesagt? Bei links und rechts sind auf einmal die Seiten verkehrt. Die Gewerkschaften, die außer den Interessen ihrer Mitglieder auch ihre Oganisationen vertei-digen, sind dagegen. Und wer sonst vor allen andern? Die Angestellten der wuchernden Verwaltungen - der öffentlichen zumal - lassen sich ganz mühelos erübrigen,* und die verbliebene Linke säße auf dem Trocknen.
Was
bleibt von "der Linken"? Arbeiten an der Substanz? Da schnitten sie
sich ins eigne Fleisch. Links ist, wo der Krakeel am größten ist. Es
bleibt der Aufruhr als theatralische Inszenierung. Mehr ist in der
mediatischen Gesellschaft dieser Tage anscheinend gar nicht mehr nötig.
'Rechts' sieht es ja nicht besser aus: Deren Gewalttätigkeit ist zwar plumper, aber darum nicht weniger theatralisch, der NSU hat vor Morden nicht zurückgeschreckt. Aber was taugt ein Terror, der verborgen bleibt? Die waren nicht weniger narzisstisch als die Händekleber dieser Tage. Die Realität der Einen wie der Andern ist virtuell, nämlich rein medial. Wirklich sind sie nur negativ, nämlich indem sie von den ernsten Dingen ablenken.
*)
Da gehören auch die Beschäftigten der Bildungsindustrie zu. Erübrigt
werden können sie nicht; doch unter den so veränderten Bedingungen
vorteilhaft ersetzt. JE
'Letzten Endes' geht es um das Problem von analoger und digitaler Darstellung. Herkömm-liche Bildung unterscheidet zwischen epistemisch und doxisch. Das eine bezeichnet die von den Gebildeten eruierten Wissenschaften, das andere bezeichnet das Meinen derer, die im Alltag miteinander verkehren. Sie verwenden dieselben Wörter, aber sie sprechen verschie-dene Sprachen. Die Wahrheit der Sprachen ist ihre Rolle bei der Ausbildung der Vernunft: der Absicht, so zu meinen, dass ein anderer eigentlich nur zustimmen kann. Die wissen-schaftlichen Sprachen beabsichtigen das ausdrücklich; aber das haben sie den natürlichen Sprachen abgeschaut, die es selbstverständlich beabsichtigen: ohne dass es jemand ausspre-chen müsste.
Im Alltag, dem wirklichen Leben von Homo sapiens, vermitteln die natürlichen Sprachen den Verkehr Aller mit Allen. Das ist das sachliche Fundament der realexistierenden Ver-nunft. Alle Fach-, Spezial- und Eingeweihtensprachen bauen darauf auf und knüpfen daran an. Sie unterscheiden sich - sofern sie überhaupt vernünftig sein wollen - durch den Grad ihrer Präzision; was aber auch heißt: durch den Grad ihrer Verständlichkeit. Die Alltags-sprache muss allgemeinverständlich sein, um jedermanns Alltag - und nur der ist alltäglich - organisieren zu können; eventuell auftretender Ausnahmefälle ungeachtet. Die mehr oderminder gebildeten Sondersprachen sind davon nur Spezifikationen, die sich rechtferti-gen können nur, soweit ihr spezifischer Zweck gerechtfertigt ist.
Kurz gesagt, die natürlichen Sprachen sind fuzzy - anschaulich und ungefähr -, die fachli-chen Sondersprachen sind digital und präzise; oder beanspruchen es immerhin, und müssen es fachlich bewähren. Haushaltsgeräte können fuzzylogisch sein; Roboter, die Maschinen bauen, könnten es schon nicht mehr.
Fuzzy logic scheint mir den analogen Modus digital darstellen zu wollen. Das wäre techno-logisch ein gewaltiger Sprung nach vorn. Doch logisch - materiallogisch - wäre es ein De-saster. Es würde den Unterschied von Zeichen und Bezeichnetem einebnen. Es könnte je-der quatschen, wie's ihm eben einfällt. Das tun sie sowieso schon? Ja, aber noch kann man es ihnen verweisen. Die Sachen-selbst in ihren Modalitäten auflösen ist seinerseits der Mo-dus der Klugtuerei.
Wenn fuzzy logic sich technologisch erübrigt hat, weil die Rechnerkapazitäten inzwischen Feinheiten verrechnen können, die das wirkliche Bewusstsein sich bloß noch als Ungefähr vorstellen kann, dann kann sie sich nur noch rechtfertigen, indem sie einfacher ist und 'die Ressourcen schont'. Nicht gedanklich, sondern nur noch arbeitsökonomisch.
Das tägliche Leben ist Arbeit aber nur unter den Bedingungen der Arbeitsgesellschaft. Und die befindet sich in ihrem Status moriendi. Das zunächst zu bewältigende Problem ist durchaus nicht mehr die Digitalisierung des Anschaulichen, sondern längst die Befreiung des Vorstellens aus dem Zwang zum Kalkulieren.
Frau Wagenknecht hat Recht, wenn sie ihren Laden nicht links nennen und nicht mit den Lifestylern verwechselt werden will. Und recht ist es auch, dass sie ihre eigne lauwürzige Brühe nicht so bezeichnet: Muffig und abgestanden galt immer schon als rechts, es gibt keinen Grund, das zu ändern. Konservativ könnte heute, wo Bewähren und Bewahren nur noch dynamisch als fortschreiten aufgefasst werden können, auch frisch und scharf bedeu-ten.
Rechts und links schaffen heute nur noch Verwirrung. Man sollte sie ersetzen durch dumpf und seicht.
Woran kann man sie unterscheiden? Die einen dröhnen, die andern schrillen.
Begriffe sind wie Schachfiguren. An sich mögen sie sonstwas bedeuten. Aber solange keiner Schach spielt, sind sie bloß Schnitzwerk.
Es hat einmal einer gesagt, die Bedeutung der Wörter sei ihre Verwendung im Sprachspiel. Er hat nicht bedacht, wie viele Voraussetzungen in diesem einen Satz stecken.
In 15 Jahren malte er 1100 Gemälde, dann nahm der französische Künstler
Nicolas de Staël Anlauf und sprang in den „Himmel“. In Paris wird ihm
jetzt ein Denkmal gesetzt. Und die Massen pilgern herbei, um endlich zu
verstehen, was ihn in den Tod trieb.
Ein
Hüne ist er, fast zwei Meter groß, obendrein schön wie ein
Hollywoodstar. Im weißen Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, posiert er vor
dem Objektiv der jungen Fotografin in seinem Pariser Atelier. Nicolas de
Staël verschränkt die Arme vor dem Körper, der Blick ist fragend und
zugleich herausfordernd.
Am
folgenden Tag kommt die Fotografin Denise Colomb wieder und bittet ihn,
die zahlreichen Leinwände wegzuräumen, Platz zu schaffen, Leere. Staël
trägt dieses Mal ein schwarzes Hemd zur schwarzen Hose. Vermutlich hat
sich die junge Frau vor ihm hingekniet, um aus dieser Perspektive Staël
noch imposanter erscheinen zu lassen, als er ohnehin schon war.
Ein
Jahr vor seinem Tod hat Colomb mit diesen Fotos den Grundstein für
einen Mythos gelegt. Staël war ein Maler, der in nicht einmal 15 Jahren
1100 Gemälde und ebenso viele Zeichnungen geschaffen hat, ein
Besessener, nie zufrieden, nie am Ziel, immer dabei, sich neu zu
erfinden, sein Werk zu verändern. „So traurig ist das Leben ohne
Gemälde, dass ich Gas gebe, solange es geht“, notiert er.
Eine große Legende
Dieses
„Leben im Taumel“, so der Titel der Biografie von Laurent Greilsamer,
war zu schnell, zu intensiv, zu produktiv, um länger zu dauern. „Ich
habe nicht mehr die Kraft, die Bilder zu vollenden“, schreibt Staël am
15. März 1955 an seinen Galeristen. Am Tag darauf steigt er auf die
Terrasse des Hauses in Antibes, in dem er sein letztes Atelier
aufgeschlagen hat, und stürzt sich hinunter. Oder besser gesagt: Er
springt in den Himmel, „nach oben“, damit er „sich nicht verfehlt“,
nicht überlebt, wie es seine Tochter Anne de Staël formuliert.
Selbstmord mit Anlauf.
Das
berühmte Foto von de Staël hängt am Eingang der Ausstellung „Nicolas de
Staël“ im Pariser Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, die
Versuchung war einfach zu groß, auch wenn die Ausstellungsmacher mit
ihr, fast 70 Jahre nach seinem Tod, die Aufmerksamkeit von der Legende
weg auf das Werk lenken wollen. „Wir wollen den Mythos überwinden und
den Künstler bei der Arbeit zeigen, seine Kunst in den Mittelpunkt
stellen“, insistiert Kuratorin Charlotte Barat.
Aber wie hinter
den Mythos des übersensiblen Künstlers zurücktreten, der seine zweite
Frau und Kinder verlässt, um seiner Geliebten Jeanne Polge zu folgen?
Als sie ihm den Laufpass gibt, stürzt er sich in den Tod. Aber hinter
ihm liegen Jahre der Armut und Wochen der Überarbeitung. Paul Rosenberg,
sein Kunsthändler in New York, kann auf einmal gar nicht so schnell
verkaufen, wie Staël malt. Er ist erschöpft, ausgebrannt. Die Flamme,
die doppelt so hell brennt, brennt nur halb so lang.
Nikolai
Wladimirowitsch Staël von Holstein kommt 1914 in Sankt-Petersburg in
einer aristokratischen Familie mit deutschen Wurzeln zur Welt. Als die
Revolution beginnt, muss sein alter Vater, Vize-Gouverneur der
Peter-und-Paul-Festung, Russland verlassen. Kaum in Polen, stirbt er,
wenig später auch die Mutter. Nicolas kommt mit den beiden Geschwistern
in eine belgische Pflegefamilie. Er ist acht und hat schon die Eltern,
die Heimat und auch die russische Sprache verloren.
Mit 17 wird
er in der Brüsseler Kunstakademie aufgenommen. Sein Ziehvater will, dass
er etwas Anständiges lernt. Aber Staël ist stur. „In mir steckt der
großartige Wille, es immer noch stärker zu machen, noch spitzer, noch
raffinierter, immer absoluter, um am Ende ein Meisterwerk zu
vollbringen, dass nur aus einer Linie und Leere besteht“, so wird er
seine Kunst später definieren.
Zwischen Himmel und Erde
Man
sieht in Paris dieses Arbeitstier am Werk. Die Retrospektive ist streng
chronologisch geordnet, beginnt mit den Zeichnungen, die er als junger
Mann während seines einjährigen Aufenthalts in Marokko macht, geht
weiter über die ersten „Kompositionen“ in Öl, dicke Schichten mit dem
Spachtel oder Malermesser aufgetragen. Und zeigt, wie Staël bald einmal
pro Jahr den Stil verändert – groß oder klein, in monochromen
Farbschattierungen oder leuchtend grelle Kontraste, figurativ, abstrakt,
am Ende wieder figurativ. Er ist ein Maler auf der Suche, der keine
Trends kennt, sich nicht dafür interessiert, was Kollegen oder Käufer
denken, sondern stur seinen Instinkten folgt.
Rund
200 Exponate sind in Paris zu sehen, darunter sein Fußballbild
„Prinzenstadium“, das er gemalt hat, nachdem er am 26. März 1952 das
Match Frankreich-Schweden im Stade de Prince bei Flutlicht gesehen
hatte, was er als einen visuellen und emotionalen Schock erlebt.
„Zwischen Himmel und Erde“, schreibt er begeistert seinem Freund, dem
Dichter René Char, „auf einem Gras, das entweder rot oder blau ist,
wirbelt eine Tonne Muskeln in völliger Selbstaufgabe und einer
großartigen Präsenz. Was für ein Vergnügen, René! Ich habe sofort
begonnen, an beiden Teams zu arbeiten, und schon ist Bewegung in die
Sache gekommen.“
Das
Gemälde ist zweieinhalb mal drei Meter groß und wiegt 200 Kilogramm.
Allein das gibt eine Vorstellung davon, wie sehr Nicolas de Staël mit
Spachtel und Messer Schicht um Schicht Farbe aufgetragen, angesammelt,
überdeckt und verändert hat, wie ein Palimpsest, bei dem der Betrachter
spürt, dass es etwas zu enträtseln gilt. „Das Malen verlangte ihm eine
fast herkulesmäßige Anstrengung ab, dieses Gemälde ist regelrecht wie
mit der Kelle gemauert“, erklärt Kuratorin Barat.
Rückkehr zur Figuration
Als
sich einer seiner Erben von dem Gemälde 2019 trennt und es bei
Christie’s versteigert wird, erzielt „Parc de Princes“ 20 Millionen
Euro, obwohl auch diese Arbeit gegen die Doxa der Modernisten verstieß.
„Als Nicolas de Staël zum figurativen Malen zurückkehrte, stieß das
unter Zeitgenossen auf großes Unverständnis“, sagt Charlotte Barat. Im
Rückblick war es dieselbe Obsession: Etwas auf der Leinwand zu fixieren,
das ihn durchdrang. „Die Möwen“, zugegeben, mögen Richtung Kitsch
fliegen, „Die Salatschüssel“, ein Jahr vor seinem Tod entstanden, ist
dagegen ein Meisterwerk, das den monochrom gehaltenen Kompositionen in
nichts nachsteht.
Seit
Anfang September zieht die Pariser Retrospektive Menschenmassen an,
allein in den ersten zehn Tagen 30.000 Besucher. „Nicolas de Staël“ ist
die Blockbuster-Ausstellung, von der alle reden, die jeder gesehen haben
will. „Das ist der Effekt der Seltenheit“, sagt Kuratorin Barat, „viele
Werke, die hier ausgestellt werden, waren noch nie öffentlich zu
sehen“.
Tatsächlich besitzen französische Museen nur wenige
Gemälde, einige sind in Paris, Dijon und vor allem im Picasso-Museum in
Antibes. Aus 65 Privatsammlungen wurden die rund 200 Exponate
zusammentragen. Außerdem liegt die letzte Staël-Ausstellung im Centre Pompidou
25 Jahre zurück. Davor war eine 1981 im Grand Palais zu sehen, die
erste zwei Jahre nach seinem Tod 1956 im Palais de Tokyo. In Deutschland
ist er in Wahrheit nie richtig angekommen.
Kurz
nach seinem Tod waren 1959 wenige Arbeiten auf der Documenta 2 und 1964
auf der Documenta 3 zu sehen. Es dauerte drei weitere Jahrzehnte, bis
die Frankfurter Schirn ihm eine Schau widmet.
Paris
hat „mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms“ die Arbeit Staëls gezeigt,
erklärt Museumsdirektor Fabrice Hergott, aber dieses Mal gehe es darum,
nicht nur den Blick auf das Werk zu verändern, sondern etwas
gutzumachen: Das Musée d’Art moderne de la Ville de Paris hat Staël über
Jahrzehnte sträflich vernachlässigt. Seine Arbeiten fehlten in
Gruppenausstellungen, und das Museum besitzt nur ein einziges Werk von
ihm. Es sei weniger Nachlässigkeit als vielmehr „Blindheit“ gewesen,
schreibt Hergott im Vorwort des Katalogs.
In
den Wochen und Monaten vor seinem Tod wirkt Staëls Kunst wie gereinigt
von der Pein. Der Eindruck täuscht. Denn „Le concert“, sein letztes,
unvollendetes Gemälde, fehlt. Wenige Tage vor seinem Tod war Staël nach
Paris gefahren, um ein Konzert mit Kompositionen von Webern und
Schönberg zu hören. Das 3,5 Mal sechs Meter große Gemälde, dominiert vom
Schwarz des Flügels und hellem Rot, bildet den mächtigen, dissonanten
Schlussakkord seines Werkes. Wer es sehen will, muss nach Antibes
reisen.
„Nicolas de Staël“, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, bis zum 21. Januar 2024. Katalog: 49 Euro.
Nota. - Das freut mich, dass ich nochmal Gelegenheit habe, über de Staël zu berichten. Da malt einer, "der keine
Trends kennt, sich nicht dafür interessiert, was Kollegen oder Käufer
denken, sondern stur"... seinem Instinkt folgt, schreibt die Berichterstatterin. Aber ein Künstler will gestalten und nicht seinem Instinkt folgen, genauer gesagt: Er darf nicht ein-mal einen haben, sondern ein geschmackliches Urteil an seiner Stelle.
Ganz selbsstveerständlich hat auch er in den Fünfzigern abstrakt gemalt, aber dem alles beherrschenden Abstrakten Expressionismus der Amerikaner hat er sich nie angedient. Zur Figürlichkeit sei er zurückgekehrt, aber viel mehr Zeugnisse als die oben vorgestellte Salat-schüssel habe ich im Internet nicht gefunden. Dass seine ersten Schritte auf dem altneuen Feld ein wenig kitschig ausfielen, muss nicht verwundern, aber die Richtung war die: Die Gegenständlichkeit zurückgewinnen nicht um der Gesinnung oder des Gefühls, sondern um ihrer objektiven (sic) anschaulichen Qualität willen.
Le concert, 1955 Es existieren offenbar mehrere Ausführungen. JE
KI lernt das Verallgemeinern
Neues neuronales Netz übertrifft beim logischen Generalisieren erstmals uns Menschen Wie gut sind künstliche Intelligenzen im Generalisieren? Ein neues KI-System beweist es.
Neues Level erreicht: Forschende haben ein KI-System
entwickelt, das gelernte Konzepte erstmals ähnlich gut verallgemeinern
kann wie wir Menschen. Bisherige künstliche Intelligenzen hatten
Probleme, wenn es darum ging, bekannte Komponenten neu zu kombinieren
und dabei logische Verknüpfungen zu beachten. Das jetzt in „Nature“
vorgestellte KI-System auf Basis eines neuronalen Netzes zeigt diese
Fähigkeit jedoch – das ist ein weiterer Schritt in der Nachahmung der
menschlichen Kognition.
Künstliche Intelligenzen wie ChatGPT, Alphafold und Co. sind zu beeindruckenden Leistungen in der Lage. Sie können Texte und Bilder erstellen, Krankheiten voraussagen, Grundprinzipien der Wissenschaft herleiten und sogar Kreativität zeigen. Doch bisher weisen sie ein entscheidendes Manko auf: Selbst einfachelogische Umkehrschlüssewie „wenn A gleich B ist, ist auch B gleich A“ stellen sie oft vor Probleme.
Durch
Neukombination schon bekannter Dinge wie hier das Hüpfen und die
zweimalige Wiederholung können wir Menschen generalisieren – kann das
auch die KI?
Kombinieren für KIs
Bereits Ende der 1980er Jahre argumentierten Forschende deshalb, dass
künstliche neuronale Netze niemals in der Lage sein würden, es in
Sachen Verallgemeinerung mit der menschlichen Kognition aufzunehmen.
„Seitdem haben sich neuronale Netze erheblich weiterentwickelt, doch das
Problem mit der systematischen Generalisierung blieb bestehen“,
erklären Brenden Lake von der New York University und Marco Baroni von
der Universität Pompeu Fabra in Barcelona.
Die grundlegende Herausforderung dabei: Für uns Menschen ist es
selbstverständlich, gelernte Konzepte miteinander zu verknüpfen. Wenn
wir wissen, was hüpfen und was rückwärts bedeutet, können wir problemlos
auf Anweisung rückwärts hüpfen, ohne dies als neues Konzept eigens
lernen zu müssen. Auch die Verbindung dieser Merkmale mit neuen Objekten
oder Personen fällt uns leicht. Bisherige KIs dagegen wären mit einer
solchen Verknüpfung überfordert.
Doch mit einer neuartigen künstlichen Intelligenz haben Lake und
Baroni nun den Gegenbeweis angetreten. „Wir haben nachgewiesen, dass
neuronale Netze eine menschenähnliche Systematik erreichen können, wenn
ihre kombinatorischen Fähigkeiten dafür optimiert wurden“, berichten
sie.
Das neue KI-System konnte auch mehr als zwei zuvor gelernte Bewegungen neu kombinieren
Systematisch und flexibel
Um ein künstliches neuronales Netz speziell für solche systematischen
Verallgemeinerungen zu trainieren, wählten die Forscher einen neuen
Ansatz des maschinellen Lernens, das sogenannte Meta-Lernen für
Kompositionalität (MCL). Statt einen statischen Trainingsdatensatz zu
verwenden, ermöglichten sie dem System dabei, sich nach jeder gelösten
Aufgabe mit den neuen Informationen zu aktualisieren. Die Aufgaben
passten sich dabei dynamisch dem jeweiligen Wissensstand des Systems an.
So lernte die KI beispielsweise die Bedeutung der Begriffe
„rückwärts“, „auf Zehenspitzen“ und „um einen Kegel“, jeweils mit
piktografischen Darstellungen. Im nächsten Schritt sollte sie
eigenständig aufzeichnen, wie ein Strichmännchen „rückwärts auf
Zehenspitzen um einen Kegel“ geht. Anschließend erhielt sie die richtige
Lösung zum Vergleich und konnte sich damit aktualisieren.
Andere Modelle des maschinellen Lernens sind laut Lake und Baroni
entweder zu unflexibel oder zu unsystematisch, um solche Aufgaben zu
bewältigen. „Im Gegensatz dazu erreicht das Meta-Lernen für
Kompositionalität sowohl die notwendige Systematik, als auch die
Flexibilität, die für eine menschenähnliche Generalisierung erforderlich
sind“, schreiben sie.
Um ihr auf diese Weise trainiertes neuronales Netz zu testen, ließen
die beiden Forscher es gegen 25 menschliche Versuchspersonen antreten.
Damit die Menschen keinen Vorteil dadurch hatten, dass sie bestimmte
Wörter schon vorab kannten, erfanden die Forscher Fantasiebezeichnungen
für die Farben rot, grün, grau und blau. Beispielsweise bedeutete „dax“
rot und „wif“ grün. Zusätzlich erfanden sie Wörter, die Verknüpfungen
beschreiben. So bedeutete „kiki“ so viel wie vertauschen. „dax wif“
stand somit für rot grün, „dax kiki wif“ für grün rot.
Sowohl die menschlichen Testpersonen als auch die KI mussten sich
diese Regeln aus einer kleinen Anzahl von Beispielen herleiten und
anschließend auf neue Aufgaben anwenden. Dabei erhielten sie neue,
komplexere Kombinationen von Anweisungen in der Phantasiesprache und
sollten auf dieser Basis farbige Punkte in der korrekten Reihenfolge
anordnen.
KI erreicht oder übertrifft menschliche Leistungen Das Ergebnis: Die menschlichen Probanden wendeten die zuvor
abgeleiteten Prinzipien in 80,7 Prozent der Fälle richtig an und fanden
die korrekte Lösung. Auch bei Anweisungen, die deutlich komplexer waren
als die Trainingsbeispiele, lagen sie in 72,5 Prozent der Fälle richtig.
„Mit dieser Art der Generalisierung haben die meisten neuronalen
Netzwerke Probleme“, ordnen die Forscher ein.
Nicht jedoch ihr eigens dafür trainiertes Modell: Im besten Durchlauf
erreichte es eine Trefferquote von 100 Prozent und übertraf damit die
besten menschlichen Versuchspersonen. In anderen Versuchen lag die
Trefferquote mit 82,4 Prozent nahe der menschlichen Leistung und auch
die Art der Fehler ähnelte denen, die auch die Menschen machten, wie die
Wissenschaftler berichten. Beispielsweise neigten sowohl die Menschen
als auch die KI dazu, Verknüpfungswörter mit Farbwörtern zu verwechseln.
„Unsere Ergebnisse zeigen erstmals, dass ein generisches neuronales
Netz die systematische Generalisierung des Menschen in einem direkten
Vergleich nachahmen oder sogar übertreffen kann“, sagt Lake. Während
ChatGPT und Co. mit solchen Aufgaben bislang noch überfordert sind,
könnte der neue Ansatz des maschinellen Lernens auch ihre
Leistungsfähigkeit in Zukunft steigern. (Nature, 2023, doi: 10.1038/s41586-023-06668-3)
Quelle: Nature, New York University
26. Oktober 2023
- von Elena Bernard
Nota. - Nicht Summieren, sondern Über- und Unterordnen. Das ist aber nicht dasselbe wie wenn-dann. Es ist eine Unterscheidung von Gegebenheit und Bedeutung. Wenn es das ist, kann die KI reflektieren. Wenn sie reflektieren kann, kann sie auf sich reflektieren. Wenn sie auf sich reflektieren kann, ist sie ihrer bewusst.
Es ist auch nicht bloß eine Sache der Reihenfolge - es ist eine Sache des Geltens. Die Bedeutung von Etwas feststellen heißt, es bestimmen; bestimmen als das, als was es von nun an gelten soll. Das ist eine Subjekt-Objekt-Beziehung, Nominativ zu Akkusativ, wer wen? Eine 'Verknüpfung' ist es allenthalben, aber eine ganz einseitige: Eines bestimmt, ein anderes wird bestimmt,dieses eine tut, jenes andere leidet. In vollem Ernst: Man müsste der KI die Vorstellung von einem freien Willen zuschreiben.
Ob die Versuchsanordnung so viel hergibt, wäre noch zu überdenken. Es wäre eine wirkliche Revolution. Merke: Hier geht es nicht um das Verschieben von Erbsen, sondern um leibhaftiges Vorstellen. Dass die Forscher analoge Zeichen statt logischer Symbole verwendent haben, könnte sich als Pferdefuß erweisen: Zwar wäre es eine Eselsbrücke; doch war "hüpfen" und "rückwärts" bedeuten, weiß die Maschine durchaus nicht aus eigener Erfahrung; die Schlaumeier haben es ihr vorher beigebracht.
Lothar Sauer aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
Also die erste und höchste Bedingung alles Philosophierens ist: zu bedenken, dass man das lautere leere Nichts antreffe, wenn man nicht alles, worüber räsoniert wird, aus sich selbst hervorbringt. Philosophische Ideen können nur im Geiste erzeugt werden, geben kann man sie nicht. _______________________________________________________ J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S.14 Nota.-Zugang zu den Realwissenschaften findet man durch Erlernen der Begriffe. In der Philosophie muss man die Vorstellungsarbeit selber besorgen. JE, 10. 11. 21
Geschlechterrollen waren früher nicht so strikt wie viele glauben Was hat die Archäologie über Kriegerinnen, Jägerinnen und die Entwicklung des Patriarchats gelernt? Einige der Antworten stellen traditionelle Vorstellungen infrage
von Julia Sica und Klaus Taschwer
Boudicca ist die vielleicht berühmteste Kriegerin der Geschichte, jedenfalls in Großbritan-nien. Die Heerführerin stand in den Jahren 60 und 61 unserer Zeitrechnung an der Spitze eines Aufstands keltischer Stämme gegen die römische Besetzung. Heute gilt sie als britische Ikone. Frauen wie sie, die Männer befehligten oder an deren Seite kämpften, kannte die Geschichtsschreibung lange Zeit nur wenige. Doch in den vergangenen Jahren tauchen sie immer häufiger auf, da sich durch neue Analysen von alten Skeletten viele Krieger als Kriegerinnen herausstellen.
Die Spurensuche spielt sich daher viel in Gräbern ab – und in DNA-Labors. Schon vor Boudicca gab es in der Eisenzeit Frauen, die bei Angriff oder Verteidigung wichtige Rollen einnahmen. Das zeigt ein kürzlich neu bewerteter Fund auf den Scilly-Inseln vor der englischen Küste. Für Aufsehen sorgte vor wenigen Jahren auch ein Wikingerehrengrab in der schwedischen Siedlung Birka. Darin befanden sich neben den Überresten des Bestatteten ein Schwert, eine Streitaxt, Pfeile und zwei Pferdeskelette sowie ein Brett mit Spielfiguren, die auf eine wichtige Rolle des Begrabenen als Kriegsstratege hindeuteten. Das war bemerkenswert, doch besonderes Erstaunen riefen moderne DNA-Analysen hervor, mittels derer sich herausstellte: Der große Wikingerkrieger, der vor mehr als 1.000 Jahren lebte, war in Wahrheit eine Wikingerin. Neben den aus der Wikinger-Zeichentrickserie "Wickie" bekannten "starken Männern" gab es in Skandinavien
Mehr oder weniger gut belegte Evidenzen gibt es zudem für die Amazonen, die zum Synonym für kämpfende Frauen wurden. Laut dem antiken Dichter Homer nahmen sie am Trojanischen Krieg teil, weiteren Quellen zufolge kamen sie aus der Region zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer. Dort lebte vor mehr als 2300 Jahren das Reitervolk der Skythen. Tatsächlich stieß ein russisches Forschungsteam vor wenigen Jahren in der Steppe auf Bestattungen aus dieser Zeit, bei denen Frauen verschiedene Waffen als Grabbeigaben erhielten.
Waren solche Kämpferinnen die Ausnahme? Oder haben sich Frauen früher öfter als bisher gedacht an Kämpfen, Jagden und anderen Tätigkeiten beteiligt, die als typische Männerdomäne gelten? Wenn es um frühgeschichtliche Epochen ging, für die es keine oder wenige Textquellen gibt, konnten Archäologie und Paläoanthropologie bis vor kurzem nur bedingt Antworten liefern. Die Wissenschaft musste sich bei Analysen der Gräber auf übliche Geschlechtsunterschiede bei Becken- und Schädelknochen verlassen. Weitere Hinweise lieferten Grabbeigaben, die man stereotyp eher Männern (vor allem Waffen) oder Frauen (vor allem Schmuck) zuordnete.
Frauen bei der Großwildjagd
Heute hingegen lässt sich in Zahn- und Knochenproben gezielt nach typischen Eiweißstoffen oder Genen von Geschlechtschromosomen fahnden. Forschende können auf diese Weise immer präziser feststellen, ob sich in der DNA eines Skeletts ein XX- oder ein XY-Chromosomensatz versteckt, also ob es sich wohl um eine Frau oder einen Mann handelte. Die neuen Analysen förderten längst einige Überraschungen in der Geschlechterfrage zutage. So kam eine 2020 veröffentlichte Studie, die rund 9.000 Jahre alte prähistorische Gräber in Nord- und Südamerika untersuchte, zu einem erstaunlichen Schluss: Vermutlich waren 30 bis 50 Prozent der Menschen, die damals auf Großwildjagd gingen, Frauen.
Zumindest wurden sie mit Jagdwaffen bestattet. Das muss nicht zwangsläufig heißen, dass sie selbst Jägerinnen waren. Bei männlichen Skeletten wurde bisher aber nie angezweifelt, dass in einem Grab, in dem sich entsprechende Waffen fanden, auch ein Jäger bestattet wurde. Zudem gibt es neuere Forschungsarbeiten, die bei prähistorischen Frauenskeletten Spuren jagdtypischer Verletzungen fanden oder Überbleibsel von Pfeilen und anderen Kampfwunden. Umgekehrt ist es ebenfalls plausibel, dass Männer "typisch weibliche" Aufgaben übernahmen, wenn sie nicht fit genug für Jagd oder Krieg waren.
Umdenken in der Forschung
In diesen Fragen hat sowohl in der Forschung als auch in der Gesellschaft ein Umdenken stattgefunden, sagt die Prähistorikerin und Archäologin Katharina Rebay-Salisbury. Sie befasst sich mit Geschlechterarchäologie, forscht an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Wien und hielt dort erst vor wenigen Tagen ihre Antrittsvorlesung. Wer in einem Verband welche Aufgaben übernahm, war laut der Expertin von vielen Faktoren abhängig, etwa der Umwelt und der Ernährungssicherheit. "Wenn ich in einer kleinen Gruppe mit zwanzig Leuten lebe, die Großwild jagen, wird jede Person einbezogen, die helfen kann, egal ob Mann oder Frau."
ei größeren Gruppen habe man sich aber spezialisiert. Das geschah durchaus teilweise entlang von Geschlechtergrenzen: "Die Mütter, die gerade kleine Kinder hatten, haben wohl etwas gemacht, das auch mit Kinderbetreuung kompatibel war", sagt die Archäologin. Das seien vor allem Routinearbeiten gewesen, die sich leicht unterbrechen lassen. Dazu konnte das Suchen und Sammeln essbarer Pflanzen gehören – eine verlässliche Nahrungsquelle, unabhängig vom punktuellen Jagderfolg.
Indes zeigte eine Forschungsarbeit über mehr als 60 verschiedene Jäger-Sammler-Gesellschaften, die in den vergangenen hundert Jahren über den Globus verstreut noch existierten: In knapp 80 Prozent dieser Gruppen war das Jagen keine reine Männerdomäne. Mehr Matriarchate?
Gab es in sehr viel früheren Zeiten aber auch so etwas wie matriarchale, also von Frauen dominierte Gesellschaften, wie das der Schweizer Gelehrte Johann Jakob Bachofen bereits in seinem Werk "Das Mutterrecht" 1861 behauptete? Für die frühe Menschheitsgeschichte sind konkrete Nachweise schwierig. Eine Möglichkeit besteht darin, einen Blick auf die engsten noch lebenden Verwandten des Homo sapiens zu werfen, nämlich andere Menschenaffen: "Da gibt es sowohl matriarchal organisierte Gesellschaften wie bei Bonobos als auch patriarchal organisierte wie bei Schimpansen und Gorillas", sagt Rebay-Salisbury.
Ethnografische Studien würden darauf hindeuten, dass es beim Menschen wesentlich seltener matriarchale Gesellschaften gibt als patriarchale oder gemischt organisierte. Insbesondere in Eurasien seien patriarchale Strukturen meist dominant gewesen. Zu bedenken sei aber, was konkret mit "Patriarchat" gemeint wird, sagt die Archäologin: "Gesellschaften können nach außen patriarchalisch organisiert wirken und dennoch stark von Müttern und Großmüttern geprägt sein, zum Beispiel bei haushaltsinternen Entscheidungen und der Wahl von Ehepartnern."
Über die Gründe für die Dominanz patriarchaler Strukturen in unseren Breiten gibt es viele Vermutungen. Etliche Forschende gehen davon aus, dass es mit der sogenannten neolithischen Revolution oder Transition vor rund 10.000 Jahren zu einer stärkeren Trennung der Sphären von Männern und Frauen kam. Damals standen für viele Gesellschaften insbesondere in Europa und Asien immer weniger das Jagen und Sammeln im Zentrum, sondern Ackerbau und Viehzucht. Die Menschen wurden sesshaft – und Ländereien sowie anderer Besitz wurden hier in den allermeisten Fällen in männlicher Linie weitergegeben.
Veränderung zulasten der Frauen
Diese Veränderungen sorgten ab der Jungsteinzeit freilich für größere Ernährungssicherheit, Frauen brachten in kürzeren Abständen mehr Kinder zur Welt. Damit wuchs nicht nur die Bevölkerung, auch Mutterschaft wurde zu einer größeren Belastung, erklärt Rebay-Salisbury. Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen wurden in Sachen Arbeitsteilung eher größer. Gleichzeitig waren es in Eurasien oft Frauen, die ihre Gemeinschaften verließen, um in andere "einzuheiraten", während Männer in ihrer ursprünglichen Population blieben. Hinweise auf diese sogenannte Patrilokalität fanden Fachleute ebenfalls durch DNA-Analysen. Inwiefern diese Praxis friedlich vonstatten ging oder mit Gewalt gegenüber den Frauen durchgesetzt wurde, lässt sich kaum nachweisen.
Der neue Lebensstil wirkte sich auch auf den Speiseplan aus. In China gibt es archäologische Hinweise darauf, dass vor diesem Wandel Männer und Frauen eine recht ähnliche Diät hatten und die Größenunterschiede geringer ausfielen. Danach hätten sich in der heutigen Provinz Henan Männer eher fleischlastig ernährt, Frauen hingegen vor allem von Gemüse und Obst. Einen ähnlichen Trend kann Rebay-Salisbury für archäologische Funde in Europa nicht bestätigen: "Zumindest in Mitteleuropa gibt es kaum Unterschiede, da generell auf getreidebasierte Ernährung umgestellt wurde."
Veränderte Ernährungs- und Lebensstilbedingungen dürften in der (Ur-)Geschichte auch die Aufgabenverteilung beeinflusst haben.
Überhaupt fallen Unterschiede je nach Population verschieden aus. Rebay-Salisbury spricht von "Gender Intensity", also "geschlechtsintensiven" Gruppen: "In der frühen Bronzezeit gab es zum Beispiel Gemeinschaften, denen es total wichtig war, stark zwischen Männern und Frauen zu unterscheiden." Das zeigt sich in verschiedener Kleidung und anderer Behandlung, die man teils aus Grabbeigaben herleiten kann. Selbst die Ausrichtung im Grab war anders: Männer wurden auf die linke Seite mit dem Kopf Richtung Norden gelegt, Frauen auf der rechten Körperseite mit dem Kopf gen Süden bestattet. Bei anderen Gesellschaften gab es hingegen eher geringe Unterschiede.
Graustufen im binären System
Selbst abseits der binären Geschlechterordnung finden sich mittlerweile vereinzelt Hinweise. Seltene Varianten wie der XXY-Genotyp wurden bereits entdeckt – und wie die betroffene Person gesellschaftlich behandelt wurde. Das zeigt ein Fall aus Finnland: Dort wurde vor rund 1.000 Jahren eine angesehene Person bestattet, die man heute mit der medizinischen Diagnose des Klinefelter-Syndroms versehen würde. Betroffene wachsen meist mit männlicher Geschlechtsidentität heran, können aber zudem feminine Merkmale haben. Im finnischen Grab stießen archäologische Forschungsteams nicht nur auf zwei Schwerter, sondern auch auf Kleidungsspuren, die eher zur damaligen weiblichen Tracht passen. Einige Fachleute vermuten, dass die Person zu Lebzeiten keine eindeutige weibliche oder männliche Geschlechtsidentität hatte, also mit heutigem Vokabular nichtbinär genannt werden könnte.
Doch in der Archäologie bleibt vieles spekulativ. "Wir können die Toten ja nicht fragen: Wie haben Sie sich gefühlt? Waren Sie ein Mann oder eine Frau?", sagt Rebay-Salisbury. Diese Art von persönlicher Identitätszuschreibung fehle – es sei aber aufschlussreich, dass man heute wissenschaftlich immer mehr über die Graustufen des dualen Systems herausfinden könne. "Und wir können immerhin sagen: Welche Anzeichen gibt es dafür, wie die Gesellschaft die Leute behandelt hat?" So ließen sich auch Unterschiede zwischen biologischem Geschlecht und sozialer Rolle ausfindig machen. Immer wieder habe es sowohl untypische Personen gegeben als auch verschiedene Gesellschaften, die teilweise mehr, teilweise weniger tolerant waren gegenüber Andersartigen.
Rätselhafte Frauenfigurinen
Außerdem können sich Verhältnisse schnell ändern: "Denken Sie daran, welchen Zugang Frauen vor 100 Jahren zu bestimmten Tätigkeitssphären hatten und wie das heute, nach nur vier Generationen, ist", betont die Archäologin. Hier werde mit Blick auf die Vergangenheit viel zusammengefasst, was eigentlich eine größere Bandbreite hatte. Das gelte auch für die Vorstellung von einem steinzeitlichen Matriarchat, das manche von der Vielzahl an Frauenfigurinen ableiten, zu denen die berühmte Venus von Willendorf gehört. Weshalb es anscheinend mehr Frauen- als Männerskulpturen gab, ist allerdings unklar.
Vielleicht wollte man Göttinnen darstellen, vielleicht aber auch Schutzgeister oder Gruppenmitglieder. Verlässliche Indizien für eine Vorherrschaft von Frauen gibt es nicht – doch wäre plausibel, dass Frauen und Männer die prähistorische Kunst gestalteten, wie etwa Handabdrücke bei Höhlenmalereien nahelegen.
In einem Schwarz-weiß-Schema könne man jedenfalls weder Gegenwart noch Vergangenheit denken, sagt Rebay-Salisbury. Auch Maria Theresia sei sowohl militärische Strategin als auch Mutter von 16 Kindern gewesen. "Wenn gerade eine starke Persönlichkeit zum Anführen eines Heeres gefunden werden musste, dann war das manchmal eben eine Frau." Und erst vor kurzem fand eine Studie Hinweise darauf, dass die dänische Thyra aus der Wikingerzeit nicht nur Gemahlin des Königs, sondern selbst eine historische Schlüsselfigur war. Sonst hätte man ihren Namen auf mehreren Runensteinen festgehalten, auf denen nur selten Frauen erwähnt wurden. "Es gab immer Frauen, die Ausnahmerollen hatten."
Nota. - Das widerlegt erstens die Mär von einer physiologischen Unterlegenheit der Frau (oder einer physiologischen Überlegenheit des Mannes). Die wurde aber letzthin kaum noch erzählt.
Zweitens widerlegt es die Mär von der jahrtausendelangen Unterdrückung der Frau durch den Mann. Es wird nun Zeit, auch die zum Verstummen zu bringen. Die Quintessenz: Es gab immer Frauen, die Ausnahmerollen hatten; punctum.