Mittwoch, 11. Oktober 2023

Kam das Bewusstsein aus der Tiefe?


aus spektrum.de, 6.10.2023                                                           zuJochen Ebmeiers Realien  zu Philosophierungen

»THE HIDDEN SPRING«
Haben wir am falschen Ort gesucht?
Neuropsychoanalytiker Mark Solms vertritt die These, dass nicht der Kortex, sondern subkortikale Hirnregionen Bewusstsein generieren.


von Ronald Sladky

Der Neurowissenschaftler Christof Koch hat dieses Jahr eine 25-jährige Wette gegen den Philosophen David Chalmers verloren. Entgegen Kochs Vorhersage wurden die neuronalen Korrelate des Bewusstseins innerhalb dieser Zeit nicht entschlüsselt. Eine Kiste Wein wechselte den Besitzer. Außerdem konnten in einer gut geplanten Serie von Studien zwei der beliebtesten Theorien, die Informationsintegrationstheorie und die Theorie des globalen Arbeitsgedächtnisses, nicht befriedigend verteidigt werden. Beide Theorien gehen davon aus, dass die neuronale Basis für unser Bewusstsein in Bereichen der Großhirnrinde zu finden ist.

In dieser Zeit der theoretischen Krise liefert uns der Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker Mark Solms neue Denkanstöße und eine verblüffende These: Nicht der Kortex spiele die entscheidende Rolle bei der Entstehung des Bewusstseins, sondern subkortikale Bereiche. Das Bewusstsein beschäftige sich nicht etwa mit abstrakten Inhalten, sondern vor allem mit unserem Affekt und Wollen. Haben wir etwa die ganze Zeit am falschen Ort im Gehirn gesucht?


Mark Solms
The Hidden Spring
Warum wir fühlen, was wir sind
Verlag: Klett-Cotta Verlag
ISBN: 9783608985146 | Preis: 35,00 €


In »The Hidden Spring« begeben wir uns auf eine Zeitreise zu den Ursprüngen der Bewusstseinsforschung und wissenschaftlichen Neugier des Autors. Um seine These zu begründen, schildert Solms eindrücklich Beispiele von Tieren und Menschen mit angeborenen Fehlbildungen, die ohne Kortex recht gut leben. Obwohl sie einige Funktionsstörungen haben, wirken sie von außen betrachtet nicht so, als hätten sie kein Bewusstsein.

Solms führt in seiner Argumentation das Bewusstsein sowie Emotionen vor allem auf bewertete körperliche Empfindungen zurück. Hunger und Schmerz beispielsweise signalisieren Abweichungen von biologisch bevorzugten Zuständen und helfen dabei, die richtigen Prioritäten zu setzen. Das ist jedoch teils mit komplexen Abwägungen verbunden, die manchmal nicht automatisch ablaufen können. Genau in diesem Fall, so Solms, helfe uns das qualitative Bewusstsein, gute Entscheidungen zu treffen.

Solms trennt deutlich zwischen Bewusstsein und Intelligenz. Da kein blinder Algorithmus, sondern Empfindungen Bewusstsein generierten, könne mit künstlicher Intelligenz nicht so ohne weiteres künstliches Bewusstsein entstehen.

Eine große Stärke des Buchs ist, dass Solms nicht nur Argumente aus den Neurowissenschaften, Freuds Psychoanalyse und der Philosophie bringt. Er bemüht sich auch um eine kognitionswissenschaftliche Verankerung, die auf Karl Fristons »Active Inference Theory« basiert. Diese versucht nicht weniger, als eine allumfassende, formal und neuronal begründbare Erklärung für Informationsverarbeitung in Lebewesen zu liefern, die mit den Konzepten der Thermodynamik vereinbar ist.

Da Solms mit Friston viel diskutiert und wissenschaftlich publiziert hat, gelingt ihm die nicht einfache Gratwanderung zwischen formaler Korrektheit und Anschaulichkeit sehr gut. Schon allein aus diesem Grund lohnt es sich, »The Hidden Spring« zu lesen.

Dem Autor gelingt mit diesem populärwissenschaftlichen Buch ein wunderbarer Spagat: Es wird von der Fachwelt ernst genommen und eifrig diskutiert. Andererseits hat er eine für interessierte Laien nachvollziehbare Einführung in zentrale Themen der kognitiven Neurowissenschaften geschaffen. Inhalte, die für manche vielleicht ein bisschen zu anspruchsvoll sind, können einfach überblättert werden, da der rote Faden dicht genug gesponnen ist. Vielleicht wird aber durch die vermiedene Trivialisierung auch die Neugier auf mehr geweckt

Kritisch betrachtet, übt sich Solms manchmal als großer Freud-Apologet und übersieht leider, dass Arthur Schopenhauer sehr viele von Freuds Ideen von einem unbewussten Willen vorweggenommen hat. Dieser Wille verliert seine treibende Kraft in Momenten besonderen Mitgefühls und während ästhetischer Erfahrungen. Vielleicht basieren ja diese Vorgänge auf kortikalen Prozessen? Es bleibt spannend.

Selbst wenn Solms mit seiner Theorie danebenliegen sollte, werden wir durch deren Widerlegung konzeptionell und empirisch viel Neues dazugelernt haben. Ein wichtiges Buch für alle, die beim Thema Bewusstsein mitreden und gut auf allfällige Wetten vorbereitet sein möchten.


Nota. - Es ist ein Quidproquo: Solange wir nicht wissen, wo im Gehirn das Bewusstsein 'stattfindet', können wir es auch mit bildgebenden Methoden nicht beobachten: sehen, was es tut und wie es das tut. Kurz: wissen, was es ist. Und solange wir nicht wissen, was es eigentlich ist, werden wir es nicht lokalisieren.

Welchen Unterschied macht es aber, ob das Bewusstsein aus dem Neocortex oder 'aus der Tiefe' kommt? Man könnte ja meinen, wenn es aus tieferen Schichten des Gehirns stammt, wäre es stammesgeschichtlich älter und müsste - oder vielleicht nicht? - prinzipiell auch uns verwandten Tierarten zukommen; und müssten - oder etwa nicht? - die tieferen Quellen den rezenteren Neocortex immer wieder überstimmen...

Richtig ist jedenfalls, dass Bewusstsein nicht einfach aus der Intelligenz stammt (die viele Tiere in bemerkenswertem Umfang mit uns teilen), sondern sein Material in den sinnlichen Vorgängen im Organismus findet. Weshalb das Künstliche, so intelligent es immer sei, doch nimmermehr Bewusstsein entwickeln kann, weil es keinen Leib hat, der in der Welt ist es mit ihr  vermittelt.

Das ist nichts Neues, der Transzendentalphilosoph Fichte hat es vor zweieinviertel Jahrhun-derten vorhergesehen.

Da wir bei Fichte sind: Nicht nur Freud hat seinen Schopenhauer ausgepatscht, dass die Schwarte kracht. Sondern Schopenhauer hat den Willen seinem Erzfeind und philosophi-schen Lehrer entwendet - nämlich nicht, ohne ihn in sein Gegenteil zu verdrehen. Besagter Lehrer war - Fichte. Bei dem ist das Wollen die transzendentale Prämisse, ohne die alles Bewusstsein und alles Gewusste haltlos im Äther schwebt und wenn man davon absehe, bleibe nur der Glaube übrig

Die Basis des Wollens - nämlich der wirklichen gegenständlichen - ist bei ihm freilich, siehe oben, die Sinnlichkeit, welche der Vorstellung den Stoff bereitet, aus dem sie sich eine Welt schafft, weil sie will. Bei Schopenhauer ist nichts Kritisches, nichts Transzendentales übrig-geblieben. Er stellt ungeniert dogmatisch-realistisch das Vorstellen gegen den Willen, der ihm eine teuflische Ausgeburt des... Sinnlichen ist: Ahura Mazda vs. Ahriman. Schopen-hauer hat, wie man sieht, nicht nur bei Fichte geklaut.

Nach obiger Rezension hat Mark Solms einiges zurechtgerückt; aber was sachlich Neues kann ich in Ronald Sladkys Bericht nicht erkennen. Da müsste ich wohl das Buch selber lesen.
JE


Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

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