Freitag, 27. Oktober 2023

Nicolas de Staël.

Nicolas de Staël
aus welt.de, 26.10.2023                                                                                                                       zu Geschmackssachen

„In mir steckt der großartige Wille, es immer noch stärker zu machen“

Korrespondentin in Paris
 
In 15 Jahren malte er 1100 Gemälde, dann nahm der französische Künstler Nicolas de Staël Anlauf und sprang in den „Himmel“. In Paris wird ihm jetzt ein Denkmal gesetzt. Und die Massen pilgern herbei, um endlich zu verstehen, was ihn in den Tod trieb.

Ein Hüne ist er, fast zwei Meter groß, obendrein schön wie ein Hollywoodstar. Im weißen Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, posiert er vor dem Objektiv der jungen Fotografin in seinem Pariser Atelier. Nicolas de Staël verschränkt die Arme vor dem Körper, der Blick ist fragend und zugleich herausfordernd.

Am folgenden Tag kommt die Fotografin Denise Colomb wieder und bittet ihn, die zahlreichen Leinwände wegzuräumen, Platz zu schaffen, Leere. Staël trägt dieses Mal ein schwarzes Hemd zur schwarzen Hose. Vermutlich hat sich die junge Frau vor ihm hingekniet, um aus dieser Perspektive Staël noch imposanter erscheinen zu lassen, als er ohnehin schon war. 


 

Ein Jahr vor seinem Tod hat Colomb mit diesen Fotos den Grundstein für einen Mythos gelegt. Staël war ein Maler, der in nicht einmal 15 Jahren 1100 Gemälde und ebenso viele Zeichnungen geschaffen hat, ein Besessener, nie zufrieden, nie am Ziel, immer dabei, sich neu zu erfinden, sein Werk zu verändern. „So traurig ist das Leben ohne Gemälde, dass ich Gas gebe, solange es geht“, notiert er.

Eine große Legende

Dieses „Leben im Taumel“, so der Titel der Biografie von Laurent Greilsamer, war zu schnell, zu intensiv, zu produktiv, um länger zu dauern. „Ich habe nicht mehr die Kraft, die Bilder zu vollenden“, schreibt Staël am 15. März 1955 an seinen Galeristen. Am Tag darauf steigt er auf die Terrasse des Hauses in Antibes, in dem er sein letztes Atelier aufgeschlagen hat, und stürzt sich hinunter. Oder besser gesagt: Er springt in den Himmel, „nach oben“, damit er „sich nicht verfehlt“, nicht überlebt, wie es seine Tochter Anne de Staël formuliert. Selbstmord mit Anlauf.

„Arbre rouge“ malte der Franzose 1953Arbre rouge  1953

Das berühmte Foto von de Staël hängt am Eingang der Ausstellung „Nicolas de Staël“ im Pariser Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, die Versuchung war einfach zu groß, auch wenn die Ausstellungsmacher mit ihr, fast 70 Jahre nach seinem Tod, die Aufmerksamkeit von der Legende weg auf das Werk lenken wollen. „Wir wollen den Mythos überwinden und den Künstler bei der Arbeit zeigen, seine Kunst in den Mittelpunkt stellen“, insistiert Kuratorin Charlotte Barat.

Aber wie hinter den Mythos des übersensiblen Künstlers zurücktreten, der seine zweite Frau und Kinder verlässt, um seiner Geliebten Jeanne Polge zu folgen? Als sie ihm den Laufpass gibt, stürzt er sich in den Tod. Aber hinter ihm liegen Jahre der Armut und Wochen der Überarbeitung. Paul Rosenberg, sein Kunsthändler in New York, kann auf einmal gar nicht so schnell verkaufen, wie Staël malt. Er ist erschöpft, ausgebrannt. Die Flamme, die doppelt so hell brennt, brennt nur halb so lang.

Nikolai Wladimirowitsch Staël von Holstein kommt 1914 in Sankt-Petersburg in einer aristokratischen Familie mit deutschen Wurzeln zur Welt. Als die Revolution beginnt, muss sein alter Vater, Vize-Gouverneur der Peter-und-Paul-Festung, Russland verlassen. Kaum in Polen, stirbt er, wenig später auch die Mutter. Nicolas kommt mit den beiden Geschwistern in eine belgische Pflegefamilie. Er ist acht und hat schon die Eltern, die Heimat und auch die russische Sprache verloren.

Mit 17 wird er in der Brüsseler Kunstakademie aufgenommen. Sein Ziehvater will, dass er etwas Anständiges lernt. Aber Staël ist stur. „In mir steckt der großartige Wille, es immer noch stärker zu machen, noch spitzer, noch raffinierter, immer absoluter, um am Ende ein Meisterwerk zu vollbringen, dass nur aus einer Linie und Leere besteht“, so wird er seine Kunst später definieren.

Zwischen Himmel und Erde

Man sieht in Paris dieses Arbeitstier am Werk. Die Retrospektive ist streng chronologisch geordnet, beginnt mit den Zeichnungen, die er als junger Mann während seines einjährigen Aufenthalts in Marokko macht, geht weiter über die ersten „Kompositionen“ in Öl, dicke Schichten mit dem Spachtel oder Malermesser aufgetragen. Und zeigt, wie Staël bald einmal pro Jahr den Stil verändert – groß oder klein, in monochromen Farbschattierungen oder leuchtend grelle Kontraste, figurativ, abstrakt, am Ende wieder figurativ. Er ist ein Maler auf der Suche, der keine Trends kennt, sich nicht dafür interessiert, was Kollegen oder Käufer denken, sondern stur seinen Instinkten folgt.

Rund 200 Exponate sind in Paris zu sehen, darunter sein Fußballbild „Prinzenstadium“, das er gemalt hat, nachdem er am 26. März 1952 das Match Frankreich-Schweden im Stade de Prince bei Flutlicht gesehen hatte, was er als einen visuellen und emotionalen Schock erlebt. „Zwischen Himmel und Erde“, schreibt er begeistert seinem Freund, dem Dichter René Char, „auf einem Gras, das entweder rot oder blau ist, wirbelt eine Tonne Muskeln in völliger Selbstaufgabe und einer großartigen Präsenz. Was für ein Vergnügen, René! Ich habe sofort begonnen, an beiden Teams zu arbeiten, und schon ist Bewegung in die Sache gekommen.“

Nicolas de Staëls „Arbres“ von 1954Arbres von 1954

Das Gemälde ist zweieinhalb mal drei Meter groß und wiegt 200 Kilogramm. Allein das gibt eine Vorstellung davon, wie sehr Nicolas de Staël mit Spachtel und Messer Schicht um Schicht Farbe aufgetragen, angesammelt, überdeckt und verändert hat, wie ein Palimpsest, bei dem der Betrachter spürt, dass es etwas zu enträtseln gilt. „Das Malen verlangte ihm eine fast herkulesmäßige Anstrengung ab, dieses Gemälde ist regelrecht wie mit der Kelle gemauert“, erklärt Kuratorin Barat.

Rückkehr zur Figuration

Als sich einer seiner Erben von dem Gemälde 2019 trennt und es bei Christie’s versteigert wird, erzielt „Parc de Princes“ 20 Millionen Euro, obwohl auch diese Arbeit gegen die Doxa der Modernisten verstieß. „Als Nicolas de Staël zum figurativen Malen zurückkehrte, stieß das unter Zeitgenossen auf großes Unverständnis“, sagt Charlotte Barat. Im Rückblick war es dieselbe Obsession: Etwas auf der Leinwand zu fixieren, das ihn durchdrang. „Die Möwen“, zugegeben, mögen Richtung Kitsch fliegen, „Die Salatschüssel“, ein Jahr vor seinem Tod entstanden, ist dagegen ein Meisterwerk, das den monochrom gehaltenen Kompositionen in nichts nachsteht.

Seit Anfang September zieht die Pariser Retrospektive Menschenmassen an, allein in den ersten zehn Tagen 30.000 Besucher. „Nicolas de Staël“ ist die Blockbuster-Ausstellung, von der alle reden, die jeder gesehen haben will. „Das ist der Effekt der Seltenheit“, sagt Kuratorin Barat, „viele Werke, die hier ausgestellt werden, waren noch nie öffentlich zu sehen“.

Tatsächlich besitzen französische Museen nur wenige Gemälde, einige sind in Paris, Dijon und vor allem im Picasso-Museum in Antibes. Aus 65 Privatsammlungen wurden die rund 200 Exponate zusammentragen. Außerdem liegt die letzte Staël-Ausstellung im Centre Pompidou 25 Jahre zurück. Davor war eine 1981 im Grand Palais zu sehen, die erste zwei Jahre nach seinem Tod 1956 im Palais de Tokyo. In Deutschland ist er in Wahrheit nie richtig angekommen.

Kurz nach seinem Tod waren 1959 wenige Arbeiten auf der Documenta 2 und 1964 auf der Documenta 3 zu sehen. Es dauerte drei weitere Jahrzehnte, bis die Frankfurter Schirn ihm eine Schau widmet.

Maler auf der Suche: „Le Saladier“ entstand ein Jahr vor seinem Freitod 
Le Saladier entstand ein Jahr vor seinem Freitod

Paris hat „mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms“ die Arbeit Staëls gezeigt, erklärt Museumsdirektor Fabrice Hergott, aber dieses Mal gehe es darum, nicht nur den Blick auf das Werk zu verändern, sondern etwas gutzumachen: Das Musée d’Art moderne de la Ville de Paris hat Staël über Jahrzehnte sträflich vernachlässigt. Seine Arbeiten fehlten in Gruppenausstellungen, und das Museum besitzt nur ein einziges Werk von ihm. Es sei weniger Nachlässigkeit als vielmehr „Blindheit“ gewesen, schreibt Hergott im Vorwort des Katalogs.

In den Wochen und Monaten vor seinem Tod wirkt Staëls Kunst wie gereinigt von der Pein. Der Eindruck täuscht. Denn „Le concert“, sein letztes, unvollendetes Gemälde, fehlt. Wenige Tage vor seinem Tod war Staël nach Paris gefahren, um ein Konzert mit Kompositionen von Webern und Schönberg zu hören. Das 3,5 Mal sechs Meter große Gemälde, dominiert vom Schwarz des Flügels und hellem Rot, bildet den mächtigen, dissonanten Schlussakkord seines Werkes. Wer es sehen will, muss nach Antibes reisen.

„Nicolas de Staël“, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, bis zum 21. Januar 2024. Katalog: 49 Euro.

 

Nota. - Das freut mich, dass ich nochmal Gelegenheit habe, über de Staël zu berichten. Da malt einer, "der keine Trends kennt, sich nicht dafür interessiert, was Kollegen oder Käufer denken, sondern stur"... seinem Instinkt folgt, schreibt die Berichterstatterin. Aber ein Künstler will gestalten und nicht seinem Instinkt folgen, genauer gesagt: Er darf nicht ein-mal einen haben, sondern ein geschmackliches Urteil an seiner Stelle. 

Ganz selbsstveerständlich hat auch er in den Fünfzigern abstrakt gemalt, aber dem alles beherrschenden Abstrakten Expressionismus der Amerikaner hat er sich nie angedient. Zur Figürlichkeit sei er zurückgekehrt, aber viel mehr Zeugnisse als die oben vorgestellte Salat-schüssel habe ich im Internet nicht gefunden. Dass seine ersten Schritte auf dem altneuen Feld ein wenig kitschig ausfielen, muss nicht verwundern, aber die Richtung war die: Die Gegenständlichkeit zurückgewinnen nicht um der Gesinnung oder des Gefühls, sondern um ihrer objektiven (sic) anschaulichen Qualität willen.

Le concert, 1955          Es existieren offenbar mehrere Ausführungen.
JE 
 

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