Donnerstag, 5. Oktober 2023

Das Ewigweibliche?


aus nzz.ch, 29. 9. 2023                                      Die Gottesanbeterin gilt als Femme fatale der Biologie: Sie lockt die kleineren Männchen mit Sexuallockstoffen an und frisst sie – manchmal nach und manchmal schon vor dem Sex.

«Weibliche Tiere sind genauso sexuell interessiert, aggressiv und dominant wie männliche», sagt Zoologin Lucy Cooke
Das Weibliche galt in der Biologie lange als passiv, aufopferungsvoll und mütterlich. Das sei wissenschaftlicher Unfug, sagt die Zoologin Lucy Cooke. Sie räumt in ihrem neuen Buch mit Fehlannahmen auf – und erzählt von dominanten Clan-Chefinnen und kannibalistischen Insektenweibchen.

von Judith Blage

Frau Cooke, Sie schreiben, Sie hätten sich als Zoologie-Studentin als bedauernswerte Aussenseiterin gefühlt. Warum das?

Lucy Cooke: Nicht, weil ich Spinnen liebte oder gerne tote Tiere zerlegte, die ich am Strassenrand gefunden hatte. Diese seltsamen Vorlieben teilten meine Mitstudenten mit mir – das musste mir also nicht peinlich sein. Der Quell meines Unbehagens war mein Geschlecht. Weiblich zu sein, bedeutete nur eines: Ich war eine Verliererin. Das waren tatsächlich lange die Lehren der Zoologie, teilweise bis heute.

«Das weibliche Geschlecht wird ausgebeutet, und die evolutionäre Basis für diese Ausbeutung ist die Tatsache, dass Eizellen grösser sind als Samenzellen.» Das schrieb mein damaliger Hochschullehrer Richard Dawkins in seinem Bestseller «Das egoistische Gen». Gemäss den Lehren der Zoologie vertrauen weibliche Tiere ihr genetisches Erbe wenigen, aber grossen Eizellen an. Sie haben also nichts zu verschwenden, für die Fortpflanzung müssen sie das richtige Männchen sorgfältig auswählen, während Männchen darauf aus seien, ihren fast in unendlichen Mengen produzierten Samen möglichst weit zu verbreiten. Das führe dazu, dass Weibchen passiv seien, ihre natürliche Rolle sei die der selbstlosen Mutter, es gebe keinerlei Konkurrenzdenken, Sex sei für sie eher Pflicht als Trieb. Weibliche Tiere erduldeten und folgten widerspruchslos den männlichen Anführern.

Das Buch der Zoologin und Evolutionsbiologin Lucy Cooke ist jetzt auf Deutsch erschienen: Bitch – ein evolutionärer Blick auf Sex, Evolution und die Macht des Weiblichen im Tierreich. Malik-Verlag. 432 Seiten.

«Die Männchen fast aller Tierarten zeigen grössere Leidenschaften als die Weibchen», schrieb schon Darwin. Männliche Tiere seien verwegen, vorwärtsdrängend und aktiv, kämpften miteinander um den Besitz von Weibchen. Sie paaren sich immer und überall und dominieren sozial. Im Hinblick auf die Evolution galt das Männliche als die treibende Kraft des Wandels. Als Eizellen produzierende Studentin der Evolutionswissenschaft fand ich mich in diesem Fünfziger-Jahre-Modell der Geschlechterrollen einfach nicht wieder. Ich fragte mich: Bin ich etwa vollkommen aus der Art geschlagen? Die Antwort auf diese Frage lautet zum Glück: Nein.

Also lagen die Väter der Evolutionsbiologie falsch?

Um an dieser Denkweise einen Haken zu finden, muss man ja nicht lange überlegen. Mit wem paaren sich denn die Männchen immer und überall, wenn die Weibchen anscheinend gar nicht wollen und so wählerisch sind? Um die Biologie ist eine sexistische Mythologie gewoben worden, die unsere Wahrnehmung der weiblichen Tiere verzerrt. In Wahrheit gibt es in der Natur eine enorme Vielfalt weiblicher Formen und Rollen, die ein faszinierend breites Spektrum an anatomischen Eigenschaften und Verhaltensweisen abdeckt. In den vergangenen Jahrzehnten wurde unser Wissen darüber, was es bedeutet, weiblich zu sein, revolutioniert.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Es gibt so viele. Zum Beispiel die weiblichen Blatthühnchen, die sich einen Harem aus mehreren Männchen halten und die Jungenaufzucht diesen überlassen. Weibchen können durchaus treu und hingebungsvolle Mütter sein. Doch nur sieben Prozent der Arten sind sexuell monogam – somit sind viele Weibchen untreu und suchen sich mehrere Partner. Zudem sind bei weitem nicht alle tierischen Gesellschaften männlich dominiert. In den verschiedensten Tierklassen gibt es Alphaweibchen, die ihre Autorität auf unterschiedlichste Weise ausüben, von wohlwollend wie bei den Bonobos bis brutal bei den Bienen. Die Gottesanbeterin und bestimmte Spinnenarten sind sexuelle Kannibalinnen, die das Männchen während oder nach dem Sexualakt auffressen.

Dass es keine Konkurrenz unter Weibchen gebe, ist doch sicher auch nur ein Vorurteil?

Aber ja! Topi-Weibchen – eine Antilopenart – kämpfen mit ihren Hörnern erbittert um den Zugang zu den besten Männchen. Und Erdmännchen-Matriarchinnen sind wahrlich mörderisch: Sie töten die Jungen ihrer Konkurrentinnen und unterdrücken deren Fortpflanzung mit brutalsten Methoden.

Besonders interessant ist das Geschlechterverhältnis bei den Tüpfelhyänen.

Ja, in vielerlei Hinsicht. Die Weibchen sind nicht nur 10 bis 20 Prozent grösser als die Männchen, sie sind auch aggressiver als diese. Sie leben in sozial komplexen Gemeinschaften, in denen Alphaweibchen das Sagen haben und die Männchen ganz unten in der Rangfolge rangieren. Sie sind häufig unterwürfige Ausgestossene, die um Akzeptanz, Nahrung und Sex betteln. Zudem sorgen die Genitalien der weiblichen Tüpfelhyäne schon seit Aristoteles’ Zeiten für Unruhe.

Warum das?

Naturgelehrte der Antike hielten die Hyäne für einen Zwitter, weil die äusseren Geschlechtsorgane der Weibchen wohl die am wenigsten eindeutigen unter allen Säugetieren sind. Sie besitzen nicht nur eine 20 Zentimeter lange Klitoris, die genau so aussieht wie ein Penis. Nein, sie haben auch Erektionen. Bei Begrüssungszeremonien inspizieren die Tiere diese Erektionen gegenseitig. Als Krönung dieser Virilität haben die Weibchen auch noch zwei auffällige, befellte Hoden, die bei näherer Betrachtung allerdings nur besonders gepolsterte und verwachsene Schamlippen sind.


Weibliche Tüpfelhyänen sind grösser und aggressiver als die Männchen. Die Hyänen-Gesellschaft ist eindeutig von den Weibchen dominiert, die Männchen befinden sich auf den untersten sozialen Rängen.

Woher kommt diese vermeintliche Vermännlichung, und was sagt uns das?

Das soziale Geschlechterrollen radikal umkrempelnde Leben der weiblichen Tüpfelhyänen sah man lange als Folge eines Übermaßes an Testosteron. Überraschenderweise haben erwachsene Hyänenweibchen aber nicht mehr Testosteron im Blut. Und auch das ist ein gutes Beispiel für eine verzerrte Sicht in der Biologie: Sehr lange galt das Paradigma, dass Testosteron das dynamische Elixier der Männlichkeit ist. Die Entwicklung eines Fötus hin zur Weiblichkeit galt als eine Art passive Grundeinstellung, zu dieser musste nur genügend Testosteron als aktive Zutat hinzugefügt werden, und dann konnte sich Männlichkeit entwickeln. 

Der maskuline Weg wurde als heroische Mission angesehen, die der Erforschung wert war. Jost beschrieb weibliche Wesen als neutrales Geschlecht, Ovarien und Östrogene galten als irrelevant für unsere Geschichte. Sie passierten in ihrer Geschlechtsentwicklung einfach, weil sie als Embryonen im Mutterleib nicht das Zeug dazu hatten, männlich zu sein. Wesen wie die Tüpfelhyäne zeigen, dass es so einfach allerdings nicht ist.

Wie zeigt sie das?

Tüpfelhyänen haben während ihrer Trächtigkeit tatsächlich enorm hohe Mengen Testosteron im Blut. Mit diesen Mengen dürften eigentlich keine weiblichen Föten heranwachsen. Doch das tun sie, und heute wissen wir: Es gibt keine per se männlichen oder weiblichen Hormone. Alle Sexualhormone kommen bei beiden Geschlechtern vor.

Aber wie differenzieren sich dann Männchen und Weibchen im Mutterleib?

Hormonell unterscheiden sich Männchen und Weibchen nur in den Mengen der Enzyme, die die Sexualhormone umwandeln, und in der Verteilung und Empfindlichkeit der Hormonrezeptoren. Bei der Erforschung sogenannter maskulinisierter weiblicher Wesen wie der Tüpfelhyäne können wir sehen, dass sowohl die Entwicklung von Männchen als auch von Weibchen im Mutterleib ein komplexes Zusammenspiel vieler Faktoren ist. Weiblichkeit ist nicht bloss die Abwesenheit von Männlichkeit – ein seltsames Paradigma, das sich sehr lange hielt.

Wie konnte es sein, dass in der Wissenschaft lange ein so einseitiges Bild von Männlichkeit und Weiblichkeit vorherrschte? Wissenschaft soll ja objektiv sein.

Die Evolutionstheorie als der grösste Erkenntnisschritt in der Biologie, ja vielleicht in der gesamten Naturwissenschaft, wurde von einer Gruppe Männer Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogen, und dementsprechend finden sich darin bestimmte Annahmen bezüglich der Natur von sozialem und biologischem Geschlecht. Dazu sei fairerweise angemerkt, dass Charles Darwin nicht gerade ein ausgewiesener Experte für das andere Geschlecht war.

Er hat aus praktischen Gründen seine Cousine Emma geheiratet.

Nachdem er zuvor eine ausgiebige Pro-und-Contra-Liste für und gegen die Ehe verfasst hatte, die die Zeiten überdauerte, so dass nun alle Welt über seine intimsten Gedanken für immer urteilen kann. Darin äussert er die besondere Sorge, dass er weniger Unterhaltungen mit klugen Männern in Klubs führen und darüber «fett und faul» werden könnte, und schlimmer noch: die mögliche «Verbannung und Erniedrigung mit indolentem Dummkopf» – womit er Emma meinte. Doch als Argument für die Ehe notierte er, «eine sanfte und nette Frau auf dem Sofa» sei «jedenfalls besser als ein Hund». Wie gut, dass Emma keine Gottesanbeterin war.


Nota. - Was sagt uns das alles? Dass mann in keinem Verzeichnis nachblättern kann und sich jeder selber seine Gedanken machen muss. Gut so.
JE

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