K. Liebnecht, Januar 1919 zu öffentliche Angelegenheiten
aus nzz.ch, 31. 10. 2023
Die rechte Seite wird in den meisten
Kulturen mit dem Sakralen, Guten, Schönen assoziiert – aber wann wurde «rechts»
zum Schimpfwort?
Zur Zeit der Französischen Revolution wurde das räumliche
Rechts und Links politisch aufgeladen. Eine Kulturgeschichte zweier Begriffe.
von
Peter Hoeres
Die Vorherrschaft der rechten Seite ist häufig religiös
und moralisch grundiert. Bild: Detail aus Rembrandt van Rijns «Porträt einer
Frau mit einem Fächer aus Straussenfedern», um 1658–1660.
Im Jahr
1909 führte der Soziologe Robert Hertz in einem genialischen Essay die
omniprä-sente Privilegierung der rechten Hand und die Abwertung der linken Hand
auf die Grund-unterscheidung von religiös beziehungsweise heilig und profan
beziehungsweise böse zu-rück. Diese hat nur nachgeordnet mit einer physischen
Asymmetrie zu tun. Vielmehr wird die rechte Hand und die rechte Seite insgesamt
in den meisten Kulturen mit dem Sakralen, Guten, Schönen und Männlichen
verknüpft, mit dem Leben schlechthin, die linke dagegen mit dem Profanen, Bösen,
Schlechten, häufig auch Weiblichen und dem Tod.
Die Privilegierung
der «rechten Seite des Körpers» stimmt mit derjenigen der «rechten Seite im
Raum» überein, so stehen rechts der Himmel, die Sonne, der Osten mit dem
Sonnenauf-gang, links die Verdammnis, die Hölle, der Westen mit dem
Sonnenuntergang. Die rechte Hand ist die Schwur- und Schwerthand; die linke Hand
ist die passive, unreine, tabuisierte Hand, die Hand zur Säuberung von
Ausscheidungen.
Die Grundunterscheidung von rechts und links gehört
zu den wichtigsten Elementen unserer psycho-physischen Ausstattung. Hertz führte
für die universelle Verbreitung des Gegensatzes ethnologische Feldstudien bei
den Maori in Neuseeland und anderen früher sogenannten primitiven Völkern an,
was später in weiteren Studien vertieft wurde. Wie bei den Maori treffen wir
etwa bei den Nyoro in Ostafrika, den Mapuche Südamerikas und den indonesischen
Ambonese, aber auch in Europa häufig die normativen Aufladungen von rechts und
links an. Die Rechts-links-Unterscheidung ist tatsächlich global.
Umkehrung
von rechts und links
Etymologisch gibt es in zahlreichen Sprachen
Wortstämme, die rechts mit richtig und gerecht identifizieren, links mit
linkisch, lahm, verkehrt oder schwach. Erinnert sei auch an Redewendungen wie
«mit dem linken Fuss aufstehen», «Nachkomme linker Hand», «linker Vogel» oder
«left-handed compliments» einerseits, «to be right» oder «rechtschaffen»
ande-rerseits. Mit der rechten Hand begrüsst man die Gäste, mit der rechten Hand
opfert und schwört man, und mit dem rechten Fuss betritt man heilige Orte.
Kurzum, allerorts treffen wir auf die Vorherrschaft der rechten Seite, häufig
mit einer religiösen und moralischen Grundierung.
Als Ludwig XVI. im
Mai 1789 zum ersten Mal seit 175 Jahren die Generalstände zusam-mengerufen hatte,
bildete sein erhöhter Thron das Zentrum. Unmittelbar zu seiner Rechten durften
die Prinzen, links die Gemahlin und die Prinzessinnen Platz nehmen. Der Klerus
als oberster Stand sass zu seiner Rechten, der Adel zu seiner Linken, die
Delegierten des dritten Standes gegenüber, am Fussende. Distanz zeigt hier eine
weitere räumliche Symbolisierung an.
Als der dritte Stand sich am
20. Juni 1789 mit Einladung an die anderen Stände zur Repräsentanz der
Nation und zur verfassunggebenden Versammlung im Ballhaus erklärte, wohin man
hatte ausweichen müssen, war die alte Ordnung zerbrochen. Die Tradition wirkte
aber weiter. In den verschiedenen Versammlungsräumen der Konstituante, dann der
Legislative und schliesslich des Konvents stellte sich jeweils eine
Rechts-links-Sitzordnung zwanglos wieder ein. Nicht mehr der Stand, sondern das
Votum bestimmte nun aber die Platzwahl. Die rechte Seite wurde dabei immer
weiter amputiert: Die Aristokraten und Monarchisten schieden aus, die nun
gewählten Abgeordneten gruppierten sich unter der Verfassung der
konstitutionellen Monarchie vom September 1791 von einer gemässigten Rechten bis
zu den linken Jakobinern. Die Orientierungen wurden von den Stenografen und der
Presse übernommen.
Die rechte Seite wurde bald geächtet, keiner
wollte dort sitzen, um nicht als Monarchist angesehen zu werden. Die Girondisten
als gemässigte Linke mussten schliesslich dort Platz nehmen. Die radikale Linke
sass dagegen oben links, Vertreter der Bergpartei (Montag-nards) im neu
errichteten parlamentarischen Amphitheater. Neben die horizontale Unterscheidung
trat die alte vertikale, jetzt sassen die Vertreter des gesellschaftlichen
unteren Rangs aber oben links und schauten spöttisch auf die Plaine, den Sumpf,
herab. Das Feindbild rechts wird etabliert, «rechts» wird zum Schimpfwort und
Kampfbegriff.
Rechts zu sitzen, sich dort zu verorten, wird
lebensgefährlich. Nach dem 2. Juni 1793, dem Aufstand der Pariser
Sansculotten, werden 27 Girondisten verhaftet und dann hingerichtet. Das droht
auch denen, die dagegen aufbegehren. Nach Einsetzen der Terreur im August 1793
sitzt niemand mehr rechts. Die der dortigen Seite Zugerechneten kommen nicht
mehr ins Parlament. Wer links nicht Platz findet, steht oder geht umher. Nachdem
die Schreckens-herrschaft Robespierres am 8. Thermidor, dem 26. Juli
1794, mit dessen Verhaftung und Hinrichtung beendet worden ist, lost man während
der Direktorialverfassung die Sitze im neugebildeten Rat der Fünfhundert alle
drei Monate neu aus, um Fraktionsbildungen zu verhindern.
Der
Dualismus zwischen links und rechts war aber so fest etabliert, dass er 1814 in
die Abgeordnetenkammer zurückkehrte, obwohl es keine organisierten Parteien gab.
In der öffentlichen Meinung ist die Rechts-links-Unterscheidung seit den 1820er
Jahren in Frankreich präsent. Die Unterscheidung verbreitete sich nun, in Europa
über die süddeutschen Kammern ins Paulskirchenparlament, im 20. Jahrhundert
dann global. In Lateinamerika ist sie bis heute fest verwurzelt. Auch in den
angelsächsisch geprägten politischen Kulturen zog die Unterscheidung ein. Das
Zweiparteiensystem in Grossbritannien und den USA mit entsprechenden
alternativen Bezeichnungen wurde durch die Rechts-links-Semantik ergänzt.
Auf
der linken Seite droht Aufruhr
Doch warum war diese binäre
Orientierung so erfolgreich? Die dualistische Ordnung war grundsätzlich einfach,
verständlich und strukturgebend. Sie symbolisierte die nicht mehr harmonisch
gedachte, sondern polare und polemische Ordnung der politisierten Gesellschaft.
Eine horizontale Ordnung entsprach zudem der propagierten Égalité besser als
eine vertikal-hierarchische. Schliesslich knüpfte sie an eine etablierte
religiös-soziale Unterscheidung an, die sie aber eben verkehrte. Der dritte
Stand etablierte sich nämlich als politischer Corpus in Opposition zur
hergebrachten monarchisch-ständischen Ordnung. Damit setzte er sich gleichsam
ins Un-Recht, in den Gegensatz zur Ordnung und zum König.
Die linke
Seite war die Seite des Aufruhrs, des Widerstandes. Die Jakobiner als radikalste
Vertreter dieser Bewegung verstanden das als Aufstand nicht nur gegen die
politische, sondern auch gegen die religiöse Ordnung, gegen den Gott der
christlichen Religion, der durch eine Vernunft- und Tugendreligion ersetzt
werden sollte. Das Schema musste also umgewertet werden.
Man könnte
es so interpretieren, dass die jahrhundertelange Einschreibung der
Privilegierung der rechten Seite weiter spürbar blieb, in der Sprache, in der
Vorrangschätzung der rechten Seite und Hand. Um diese gefährliche Macht der
Natur und des Unterbewusstseins politisch als neue Opposition gegen die
Revolution zu ächten, musste sie mit grösstem Aufwand kriminalisiert werden. Die
von Ernst Nolte sogenannte «ewige Linke» als Empörungsbewegung gegen
Ungleichheit und Ausbeutung triumphierte hier mit der brutal durchgesetzten
Umwertung der Werte und Begriffe.
Die rechte Seite wird im
politischen Diskurs derzeit bis in amtliche und offiziöse Dokumente hinein mit
kriminell, böse oder unmenschlich in eins gesetzt. Hier tut sich eine tiefe
Kluft zur jahrhundertelangen anthropologischen, religiösen, sprachlichen,
rechtlichen und künstlerischen Prägung des Menschen auf. Wer bewusst das
Verkehrte, Falsche, Queere, Linkische anbetet, stellt sich damit schon
symbolisch gegen das Richtige und Rechte, setzt sich in Gegensatz zur
universalen Orientierung des Menschen im Kosmos.
Dies ist eine nicht
immer vollständig intentionale und bewusste, aber fundamentale Bewegung, die
tatsächlich die Zeit seit der Französischen Revolution prägt, sich gegenwärtig
verschärft und damit eine Desorientierung des Menschen zur Folge hat. Denn die
Rechts-links-Orientierung ist keineswegs obsolet, wie manche Soziologen meinen,
sondern wirkt mächtig fort.
Für einen Naturwissenschafter wie Hoimar
von Ditfurth sind die Herausbildung eines unterschiedlichen Leistungsspektrums
der Hirnhälften und die Überkreuzsteuerung der Hände eine Leistung der Evolution
im Sinne der Spezialisierung. Die Prävalenz der rechten Hand ist der
darwinistischen Allzweckwaffe, nämlich «reinem Zufall, zuzuschreiben». Andere
Autoren erklären aus der asymmetrischen Struktur der Aminosäuren und dem Ablauf
der Eiweisssynthese sowie der daraus folgenden Dominanz der rechten Hand die
Assoziation der rechten Seite mit Stärke und das gesamte Entstehen der rechten
Ordnung.
90 Prozent der Menschen sind Rechtshänder. Als Quelle der
kulturellen Unterscheidung erkannte Hertz jedenfalls den «Gegensatz von sakral
und profan». Hier treten wir freilich in den Bereich des Mythos ein. Die
universale Orientierung ist demnach eine gegebene und aufgegebene, eine
Orientierung auf das Heilige, auf Gott hin, die der Conditio humana
eingeschrieben und protohistorisch ist. Sie entsteht immer wieder neu und
spontan und entzieht sich damit politischen Moden und allen Umwertungsversuchen.
Sie verweist vielmehr auf den Homo religiosus, der sich nach dem Hellen und
Schönen ausrichtet und sehnt und nach Erlösung strebt. Er hegt die Hoffnung,
dereinst zur Rechten Gottes gerufen zu werden, dort, wo der Menschensohn ist. So
hat ihn der erste Märtyrer Stephanus beim Blick in den Himmel während seiner
Steinigung gesehen.
Peter Hoeres lehrt neueste Geschichte an der
Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
- Der Untergang der Linken
Links und rechts.
Über die Bürokratie.
Der Niedergang der Arbeitsgesellschaft und die Kritik der Politischen Ökonomie.
Nota. - Die letzte Verteidigungslinie
der Arbeitsgesellschaft war die Angestelltenzivilisation. Die war
Mitte-schlechthin; rechts die Reaktion, links die Lunatic fringe. Wer in
den Adenau-erjahren von Revolution redete, wurde ausgelacht; höchstens. "Die Unterscheidung von
Links und Rechts ist überholt." Sollte heißen, die Angestelltenzivilisation hat die Klassen-gesellschaft obsolet gemacht, keine Revolution droht, nicht Orwells Farm der Tiere und auch nicht 1984. Aber Huxleys Breave New World, Gleichmacherei und allgemeine Infan-tilisierung, brummelte das konservative Feuilleton.
Wie konnte links dann doch zum herrschenden Zeitgeist werden - ausgerechnet bei der nachwachsenden Generation der Gebildeten? Das war doch nicht das Aufbegehren eines deklassierten Kleinbürgertums, das verzweifelt Anlehnung bei einer neu aufstrebenden Arbeiterbewegng gesucht hätte! Das war im Gegenteil der Königsweg zur Ausbildung eines ganz neuen Typus von Massenintelligenz, den der technische Fortschritt erforderte, den die überkommenen Hochschulen nicht ausbilden konnten, aber die massenhaft in die eilig ge-gründeten Reformuniversitäten in den Provinzen strömte, wo sie sich gegen den verblei-benden "Muff von tausend Jahren" eine eigene Identität schaffen musste. Eine der wenigen verbliebenen Errungenschaften des Pariser Mai ist die Faculté de Vincennes. Und in ihrer Masse ergossen sich ihre Ströme natürlich nicht in die Fertigung, sondern in die allüberall sich in die Breite blähenden Verwaltungen. In dem Maße, wie sich ihr langer Marsch den obersten Rängen näherte, wurden die prätendierten Sieger im Volkskrieg umgänglicher und ließen sich auf manche einstweilige Zwischenlösung ein.
Das war vor gur einem halben Jahrhundert. Inzwischen ist die Weltrevolution endgültig ab-gesagt. Soweit sie politisch gemeint ist. Tatsächlich ist mit der stetigen Ersetzung mensch-licher Arbeitskraft durch Künstliche Intelligenz & Co. das kapitalistische Wetgesetz im Be-griff, dich selbst aufzuheben. Was an seine Stelle treten wird, ist einstweilen nicht abzuse-hen, aber es wird über kurz oder lang abgesehen werden müssen. Denn eins ist klar: Man wird nicht zusehen können, wie er sich naturwüchsig, wie Marx sagen würde, von selbst ergibt. Das hätte schon beim Übergang von der Ackerbau- zur Industriezivilisation in eine Katastrpohe führen können, als die Destruktivkräfte der Menschen nicht ein Zehntel so weit entwickelt waren wie heute.
Eine schreckliche, aber ebenso grandiose Perspektive, nicht wahr? Denn mit besagten Kräf-ten muss man nicht nur, sondern kann man Pläne machen. Es wird, wie immer, darum ge-hen, die Kräfte und Mittel der Reproduktion so zu verteilen, dass einerseits die Produktiv-ität weiter und übrigens ausgeglichener wachsen kann, und gleichzeitig die Gesellschaft im Gleichgewicht bleibt. Das stellt die frühere Gegenüberstellung von Links und Rechts und von konservativ und progressiv auf den Kopf.
Die Arbeit, die immer weniger von Menschen, sondern von Maschinen besorgt wird, kann nicht weiter der Maßstab dafür sein, wie viel ein Mensch zu seinem Lebensunterhalt be-kommt - zwischen beiden besteht auf die Dauer kein sachliches Verhältnis mehr, das in ir-gendeiner Weise für irgendetwas bestimmend wirken könnte. Es wird zugleich einen steti-gen dynamischen Überschuss an maschineller Arbeitskraft geben, der es gar nicht nötig macht, die Verteilung der Güter in irgendeiner Weise von verausgabter Arbeitkraft abhän-gen zu lassen. Wenn alle einen auskömmlichen Sockelbetrag zum Leben erhalten, können die, die noch immer arbeiten wollen, sich ihre Arbeit nach ihrer Mühseligkeit entgelten las-sen, aber das werden wenige sein. Die, die auch arbeiten, aber dabei ihre eigene Produktivi-tät entfalten wollen, werden in Kauf nehmen, dass dafür weniger bekommen. Denn für ihr Grundeinkommen ist gesorgt.
Keiner kann einem solchen Modell im Ernst das gegenwärtige krisengeschüttelte, "natur-wüchsige" kapitalistische System vorziehen. Das sagt ja auch keiner; alle sagen "schön wärs!" Es geht aber nicht! Es geht nicht, wenn die Verantwortlichen all ihren Scharfsinn darauf verwenden, dass und warum "es nicht geht", sondern darauf, Wege zu finden, wie es geht.
Und hab ichs nicht gesagt? Bei links und rechts sind auf einmal die Seiten verkehrt. Die Gewerkschaften, die außer den Interessen ihrer Mitglieder auch ihre Oganisationen vertei-digen, sind dagegen. Und wer sonst vor allen andern? Die Angestellten der wuchernden Verwaltungen - der öffentlichen zumal - lassen sich ganz mühelos erübrigen,* und die verbliebene Linke säße auf dem Trocknen.
Was bleibt von "der Linken"? Arbeiten an der Substanz? Da schnitten sie sich ins eigne Fleisch. Links ist, wo der Krakeel am größten ist. Es bleibt der Aufruhr als theatralische Inszenierung. Mehr ist in der mediatischen Gesellschaft dieser Tage anscheinend gar nicht mehr nötig. 'Rechts' sieht es ja nicht besser aus: Deren Gewalttätigkeit ist zwar plumper, aber darum nicht weniger theatralisch, der NSU hat vor Morden nicht zurückgeschreckt. Aber was taugt ein Terror, der verborgen bleibt? Die waren nicht weniger narzisstisch als die Händekleber dieser Tage. Die Realität der Einen wie der Andern ist virtuell, nämlich rein medial. Wirk lich sind sie nur negativ, nämlich indem sie von den ernsten Dingen ablenken.
*)
Da gehören auch die Beschäftigten der Bildungsindustrie zu. Erübrigt
werden können sie nicht; doch unter den so veränderten Bedingungen
vorteilhaft ersetzt.
JE
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