Samstag, 1. Oktober 2022

Deep Learning - Bewusstsein ohne Reflexion?


aus FAZ.NET, 30. 9. 2022                                                                          zuJochen Ebmeiers Realien zu Philosophierungen

Gesunder Menschenverstand für Maschinen?

Beim Heidelberg Laureate Forum diskutieren Preisträger der Mathematik und Informatik Grenzen künstlicher Intelligenz – und was die mit verschüttetem Kaffee zu tun haben.


von Hans Böhringer

Eine zur Hälfte mit Kaffee gefüllte Tasse neigt sich, neigt sich immer weiter, schon reicht der Milchschaum bis zum Tassenrand. „Stopp“, ruft Alexei Efros, Informatikprofessor an der University of California in Berkeley und einer der weltweit führenden Köpfe der maschinellen Bildverarbeitung. An diesem Nachmittag ist er Regisseur der improvisierten Szene im Garten der Neuen Universität in ;Heidelberg. „Nun, was passiert als Nächstes?“ Die Tasse befindet sich weiter im bedrohlichen Neigungswinkel. Diese Frage müsse eine Maschine beantworten können, erklärt Efros dem Kreis der umstehenden Doktoranden und Studenten. Für Menschen ist klar: Wenn man die Tasse weiter kippt, landet der Kaffee im Gras. Kaffee ist eine Flüssigkeit, Flüssigkeiten fließen, und ohne Halt fällt alles runter. Das ist Common Sense – gesunder Menschenverstand.

Für Computer sind derlei Einsichten noch immer schwer. Es ist der große Makel der Erfolgsgeschichte des maschinellen Lernens. Lernalgorithmen haben 2016 den weltbesten Go-Spieler besiegt, sie werden für Spracherkennung und Übersetzung eingesetzt, kürzlich hat „Alpha Fold“ 200 Millionen Proteinstrukturen anhand der Aminosäuren-Abfolge vorausgesagt.

Künstliche Intelligenz
 (KI), der Oberbegriff des Forschungsgebiets, sind die inoffiziellen Themen des diesjährigen Heidelberg Laureate Forums. Initiiert von der Klaus Tschira Stiftung, ist die Veranstaltung das Pendant zur Nobelpreisträgertagung in Lindau für die Fächer Mathematik und Informatik. Eine Woche lang halten Fields-Medaillisten, Abel- und Turing-Preisträger vor Doktoranden aus aller Welt Vorträge – und diskutieren unter anderem Lösungen für das Common-Sense-Problem.

Effiziente Mustererkennung

„Sei vorsichtig mit der Behauptung, Deep Learning könne etwas nicht“, sagt Yann LeCun in einer Podiumsdiskussion des Forums über die Zukunft von Ma­chine Learning. Das habe sich meistens als Irrtum herausgestellt. Der oberste KI-Forscher bei Meta gilt als einer der „Paten“ der Deep-Learning-Revolution, er hat bereits in den Achtzigern daran geforscht, als viele das noch für einen Irrweg hielten – mittlerweile hat er den Turing-Preis bekommen, die höchste Auszeichnung der Informatik. Zentrales Element der Software ist dabei ein künstliches neuronales Netz, inspiriert vom menschlichen Gehirn. Diese neuronalen Netze können effizient mit sehr vielen Daten darauf trainiert werden, Muster in ähnlichen Daten zu erkennen. Gut klappt das meist erst, wenn das neuronale Netz in vielen Schichten vernetzt ist, also „deep“, tief, ist. Heute ist Deep Learning für den Erfolg von Maschinellem Lernen verantwortlich.

Am Ende der Podiumsdiskussion meldet sich in der ersten Reihe Joseph Sifakis, ebenfalls Turing-Preisträger. Er ist weniger optimistisch. Erst kürzlich habe die Bilderkennung eines Autos den Mond mit einer Ampel verwechselt. Sifakis forscht zu autonomem Fahren – da sind derlei Verwechslungen natürlich gefährlich. Es gebe da ein grundlegendes Problem, sagt er. LeCun auf dem Podium sieht das anders, die Diskussion wird hitzig, und die Moderatorin bittet um Fortsetzung in der Kaffeepause.

Was unterscheidet eine Tasse von einer Kanne?

Ein klassischer Ansatz für KI war, Wissen in Form von Aussagen vorzugeben: „Kaffee ist eine Flüssigkeit“ etwa. Der Vorteil ist, dass ein Programmierer verstehen kann, warum die Maschine eine bestimmte Entscheidung trifft, und dass man explizite Anweisungen vorgeben kann. Allerdings gerät man auf diese Weise schnell in Schwierigkeiten: Wie viel Kriterien muss man vorgeben, um eine Tasse von einer Kanne zu unterscheiden?

Bei neuronalen Netzen hingegen gibt man gar keine Kriterien vor, nur den Input (ein Bild) und die Outputmöglichkeiten (Ampel oder keine Ampel). Man zeigt etwa Hunderttausende Bilder aus dem Straßenverkehr, und wenn das Programm korrekt eine Ampel findet, heißt es: mehr davon. Was es aber intern damit macht, ist intransparent. Für die Möglichkeit, an riesigen Mengen konkreter Daten zu lernen, opfert man Erklärbarkeit und menschgemachte Kriterien.

Sifakis sieht darin das Problem. Solange man symbolisches Wissen – eine Ampel hängt nicht am Himmel – nicht mit dem konkreten Wissen – die Ähnlichkeit zu Bildern von Ampeln in den Trainingsdaten – verbinden könne, dürfe man diesen Maschinen keine Beteiligung am Autofahren zutrauen. Mit dieser Kritik ist er nicht allein: Der KI-Forscher Gary Marcus etwa plädiert dafür, symbolisch ausgedrückte Regeln mit Deep Learning zu kombinieren. Von dieser Idee hält Yann LeCun nichts, das Symbolische passe nicht in das mathematische Modell von Deep Learning. Die Frage sei doch, inwiefern man überhaupt echtes Verstehen in einem neuronalen Netz implementieren könne. Die Antwort hat er selbst: „Wir wissen, dass es geht“, und deutet auf seinen Kopf. „Wir machen es hier.“

Ein Beispiel dafür, wie das gehen könnte, liefert die kippende Kaffeetasse. Ein Machine-Learning-Algorithmus könnte mit einem Video dieses Vorgangs trainiert werden: Kurz bevor der Kaffee überläuft, wird das Video angehalten, und die Maschine muss voraussagen, was als Nächstes passiert. Das nächste Bild im Video sagt der Maschine dann, ob sie richtigliegt. Alexei Efros sieht, ähnlich wie LeCun, in diesen Trainingsexperimenten eine Möglichkeit, Maschinen physikalische Prozesse von Grund auf lernen zu lassen. Im Gegensatz zum „beaufsichtigten Training“, bei dem ein Mensch vorher die richtige Lösung angibt und die Bilder beschriftet – Mond, Ampel, Tasse, Kanne –, wäre das dann „selbst beaufsichtigtes Training“.

Letztendlich ist das eine Fortführung des Deep-Learning-Ansatzes: Lass die Maschine selbst herausfinden, wie man zur Lösung kommt. Efros findet das richtig: „Ich war immer gegen den Standpunkt: Algorithmen sind alles, Daten sind nichts“, sagt er. Solch eine Präferenz komme doch nur daher, dass Algorithmen menschgemacht seien. „Das Gegenteil ist der Fall: Daten sind alles.


Nota. - Die Maschine hat keinen Leib, 'der in der Welt ist', und besorgt sich ihre Infomatio-nen nicht selbst. Selbst - das ist der springende Punkt. Für jedes i-Pünktchen, das sie weiß, braucht sie - brauchte sie jedenfalls an ihrem Anfang - einen Programmierer außer ihr, der sie fütterte. Sie hat, so deep man die sich überlagernden Netzwerke auch staffeln mag, kein natürliches Gegenüber: so wie wir Menschen. Der Leib als Vermittlungsinstanz ist der Dreh- und Angelpunkt, der Reflexion allererst möglich macht: als derjenige, der Informa-tionen weitergibt, die er selber einholt. Anders ist ein Stellungswechsel nicht möglich. 'Mein' Ich aber kann 'sich' mal von 'meinem Körper' unterscheiden und mal 'auf seinen Stand-punkt stellen'. So und nur so kann 'ich mich auf mich selbst beziehen'. (Es ist nämlich nur, indem es zwischen den Dreien schwebt.)

Sie müssten also nicht nur unser Gehirn maschinell nachbauen, sondern den ganzen Men-schen: Frankenstein oder Mr. Hyde.
JE

Freitag, 30. September 2022

Die Frühzeit des Kupferstichs im Städel.

aus FAZ.NET, 29. 9. 2022                                                                   Noch Surrealisten wie Dalí und Ernst kopierten aus Schongauers „Antonius, von Dämonen gepeinigt“ von  1470.                                                                                                           zu Geschmackssachen

Wo Künstler über Jahrhunderte grüßen
Schwarzweißfernsehen auf Papier: Eine Schau im Frankfurter Städel geht der unterbeleuchteten Frühgeschichte des Kupferstichs bis Dürer nach.

von Stefan Trinks

Wahrscheinlich hat der nun in Rente gehende langjährige Kurator des Kupferstichkabinetts Frankfurt, Martin Sonnabend, recht mit seiner Vermutung, dass die Technik des Kupfer-stichs bald ihren sechshundertsten Geburtstag feiern kann. Wohl schon um 1430 erfunden, revolutionierte die in Kupferplatten gegrabene und zu Hunderten vervielfältigte Linien-Tiefdrucktechnik in mehrerlei Hinsicht die Kunst. Ein einmal – zugegebenermaßen aufwendig – graviertes Bild konnte nun massenhaft reproduziert werden und so papierdünn wie federleicht zu wohlfeilen Preisen in alle Welt versandt werden.

Eine der frühen Aufgaben des Kupferstichs waren Spielkarten: „Vogel-Zwei“ von Meister ES (tätig um 1440/1450–um 1467) aus dem „Größeren Kartenspiel“, um 1463–1467


Soziologisch entstammen die Metallgraviermeister häufig dem Metier der Goldschmiede, historisch stößt die neue Kunst auf Papier deshalb auf riesige Nachfrage, weil inzwischen die sogenannte Devotio moderna die traditionelle Verehrung von Heiligen und der Muttergottes ausschließlich in Kirchen abgelöst hat. Im privaten Rahmen ist es ab 1400 völlig üblich, sich eines der kleinen Papierkunstwerke als – oft teilkoloriertes – Andachtsbild an die Wand zu hängen, in ein Buch einzulegen oder gar stets mit sich zu tragen. Zweitens bilden die im Vergleich zur mühseligen und erheblich teureren Ölmalerei wesentlich freieren Papierminiaturen auch die ersten Genredarstellungen, die das zeigen, was ein reiches städtisches Bürgertum sehen wollte: Wimmelbilder mit zahllosen verspielten Details der Habseligkeiten der Interieurs, die sich nicht auf den ersten Blick „leersehen“, sondern über mehrere Runden hinweg gepflegte Konversationsstücke zum Herumreichen in humanistischen Diskussionen wie auch zünftigen Zechereien bilden.

Man riecht es duften: Martin Schongauers „Weihrauchfass“.


Und drittens sind die meist im Bogenformat verbleibenden, also kleinformatigen Werke, Gebrauchsbilder im Wortsinn – viele von ihnen waren Vorlagen in Werkstätten für Gesellen, weshalb die Masse von ihnen auch nicht überlebt hat. Dem dritten Städel-Inspektor Johann David Passavant gelang es, Hauptwerke des Kupferstichs in den zwanzig Jahren seiner Tätigkeit anzukaufen, die nun in der Ausstellung des Frankfurter Kupferstichkabinetts „Vor Dürer. Kupferstich wird Kunst“ zu sehen und teils nur in zwei oder drei Exemplaren erhalten sind, teils sogar weltweit Unikate darstellen.

Mein lieber Freund und Kupferstecher


Ebenfalls pragmatisch ökonomische Gründe hat die Entwicklung von Monogrammen im fünfzehnten Jahrhundert. Nicht erst Dürer signiert ab 1500 mit seinem AD aufgrund der massenhaften portugiesischen Raubkopien seiner Grafiken; schon sein großes Vorbild Martin Schongauer in Colmar und weitere große Meister der Schwarzen Kunst wie ES, FVB, PM, W oder IM (Israhel van Meckenem) verkürzten ihre Namen. Die als Vorlagen vervielfältigten Werke sollten mit ihrem Urheber verbunden bleiben, um die Hemmschwelle des Kopierens zu vergrößern. Die Ironie dabei ist, dass damals bekannte Größen heute nur noch mit ihren anonymen Initialen bekannt sind und man selbst einem der größten unter den frühen Kupferstechern, dem „Meister ES“, keinen realen Namen mehr zuordnen kann. Da es aber schwierig ist, Schrift seitenverkehrt für das Drucken in das Kupfer zu gravieren, lag es arbeitsökonomisch nahe, den Namen auf zwei, maximal drei Buchstaben zu schrumpfen. Eine weitere Ironie bildet der Fakt, dass IM Israhel van Meckenem, mit über siebenhundert Kupferstichen einer der fleißigsten seines Metiers, vor allem mit Nachstichen wie Schongauers Weihrauchfass und Bischofskrümme berühmt wurde, wobei er letztere durch noch mehr Prunk übertraf.

Israhel van Meckenems (ca. 1440/1445–1503) nach der Vorlage des Hausbuchmeisters gestochener „Kampf zweier Wilder Männer zu Pferde“, um 1480

Die Stammeltern als technische Herausforderung.

Auftakt wie auch logisches Ende der Schau bildet Dürer mit seinem Kupferstich „Adam und Eva“ von 1504. Er zählt nicht von ungefähr zu den vier „Meisterstichen“ des Künstlers, weil er im Grad der Beherrschung der Technik sämtliche Herausforderungen bündelt. Denn was Dürer in seinem Meisterstich vorführt, ist die meisterliche Beherrschung der Imitation der gesamten belebten und unbelebten Welt. Er vermag die Natur vollgültig nachzustellen. Alle Oberflächen, sei es das Katzenfell oder die Haut der beiden Nackten, sind berührungswürdig, Proportionen und Anatomie von Mensch und Tier ohnehin. Dabei ist die Technik des Kupferstichs als Strukturierung von schwarzen Linienmustern zu weißen Papierflächen eine überaus abstrakte, denn um die dreidimensionale Plastizität der Körper zu erzeugen braucht es neben den Konturlinien auch stimmig „impressionistische“ Schraffuren und Oberflächenstrukturen. Das nackte Stammelternpaar scheint von der gesamten Tierwelt umgeben, anders aber als bei Noah und seiner Arche zeigt Dürer die Tiere nicht paarweise, vielmehr als Konterparte: die fette Katze, die bereits viele Mäuse im Magen zu verdauen scheint, postiert er lauernd gegenüber einer weiteren Maus. Mit ihrem Schwanz umwindet die Katze das Bein der Eva wie die Schlange der Versuchung den Baum.

anz zwischen Bändern: Israhel van Meckenems „Der Gaukler und die Frau“ aus der Folge des Alltagslebens, um 1490.


Obwohl vor dem Sündenfall noch Frieden herrschen sollte unter den Tieren, wirkt es, als wolle Dürer mit dem gespannten Auflauern der Tiere andeuten, dass alles nur auf den Startschuss des lapsus humani generis wartet. Einzig der Steinbock auf dem Felsvorsprung weit hinten ist für sich und blickt friedlich in die Natur. Er ist ein direktes Zitat des Stichs „Versuchung Christi“ des LCz (lange für den Bamberger Lorenz Catzheimer gehalten), der Dürer in Nürnberg vielfach inspiriert hat. Solches Grüßen der Künstler über die Jahrhunderte hinweg kann nur ein außergewöhnlich reicher Bestand wie jener des Frankfurter Kupferstichkabinetts aufzeigen.

Der muskulöse Stammvater ist der antike Apoll von Belvedere, die Eva eine umgewandelte römische Venus: Albrecht Dürers Meisterstich „Adam und Eva“ von 1504.


Am fesselndsten ist dieses Reisen von Formen über Städte und Länder hinaus auf dem größten bildmäßigen Kupferstich des fünfzehnten Jahrhunderts, Schongauers Kreuztragung: Filmisch rollt sich der Horrortrupp vom wüstenheiß grell überblendeten Jerusalem rechts im Tal hin zu der grau verschatteten Schädelstätte Golgotha ab. Exakt über Christi Haupt, der an einer Felsstufe stürzte, verfinstert sich der Himmel. Fast zweihundert Jahre später greift Rembrandt die dramatische Lichtregie in seiner wichtigsten Grafik, dem Hundertguldenblatt der Kreuzigung auf. Der besondere Stolz seiner Grafiksammlung waren: Schongauers Stiche.

Vor Dürer. Kupferstich wird Kunst. Städel, Frankfurt; bis 22. Januar 2023. Der Katalog kostet im Museum 39,90 Euro. 

 Nota. - Weil uns eine schwarz-weiß gedruckte Zeitung gewöhnlicher vorkommt als ein Kunstband in Kupfertiefdruck und weil wir selber zuerst mit einem Linien ziehenden einfarbigen Stift gekritzelt haben, erscheint uns die Zeichnung als die elementarste Form der bildlichen Darstellung. Im Kunstunterricht erfährt man vielleicht zwar, dass Die Linie erst in der Renaissance zu Rang und Würden gekommen ist. Aber dass dem Normalmen-schen zuvor die Linie nicht einmal als ein ästhetischer Grundbaustein aufgefallen ist, liegt daran, dass es sich um eine gewaltige Abstraktionsleistung handelte, als Schwarzweiß-Zeichnungen nicht mehr, wie zuvor, von den Malern als bloße Vorarbeiten für Öl- und Tempera-Bilder, sondern von einem größeren Publikum als eigene Kunstwerke wahrge-nommen (und erworben) wurden.

Dass war das Verdienst einer technischen Errungenschaft - des Kupferstichs. Ab einem bestimmten Punkt ist die Vereinfachung die höhere Kunst als die Perfektion. In der chine-sischen Kunst ist das vor Ewigkeiten bemerkt worden, und die brauchten dafür nicht einmal den Umweg über Wand- und Tafelbilder. 
JE

Donnerstag, 29. September 2022

Das sicherste Mittel, ihn zu weiterem Zocken zu verleiten...


...wäre, jetzt zurückzuweichen.






Meloni.

                                                           zu öffentliche Angelegenheiten

Faschismus ist nicht eine Form, die man über diesen oder vielleicht auch jenen Inhalt stülpen kann. Faschismus war ein Phänomen des 20. Jahrhunderts: Als in Folge der russischen Revolution und des halbverlorenen Krieges der italienische Staat zerrüttet und die Arbeiterbewegung zwar stark, aber zu revolutionärer Offensive nicht fähig war, trat ein längst bekannter Uomo nuovo in das Vakuum, indem er das desorientierte Kleinbürgertum und das anarchisch gewalttätige Lumpenproleratiat gegen die Schwatzbude und das raffende Kapital auf die Straße zog.

In Europa war die Entscheidung zwischen Revolution und Konterrevolution noch nicht gefallen, aber der kampflose Sieg Mussolinis hatte sie ein gutes Stück vorangetrieben. Faschismus wurde populär als ein "dritter Weg" zwischen kapitalistischer Krise und Diktatur eines Proletariats, das sich zur Ergreifung der politischen Macht nicht zusammenraffen konnte. Das Desaster trat elf Jahre nach Mussolinis Sieg ein, als in Deutschland die Nationalsozialisten zur Herrschaft kamen.

Herrschen konnten sie nicht, indem sie bloß die Spitzen der politischen Personals austauschten. Rechtsstaat und repräsentative Ordnung mussten abgeschafft und dem siegreichen Pöbel der öffentliche Raum als Beute hingeworfen werden.

Der Kernpunkt war aber: die Auslöschung der Arbeiterbewegung, um das Gespenst der Roten Revolution ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Der Nationalsozialismus verfolgte dabei einen höheren Zweck: das Ergebnis des Ersten Weltkrieges umzukehren, und Mussolini, der allein nicht einmal mit Abessinien fertigwurde, kroch gern unter Hitlers Schild. Totalitär wurde der Faschismus als totale Mobilmachung für den Zweiten Weltkrieg.

Und nicht zu vergessen: Möglich wurde die Katastrophe durch den Verrat derer, die am ehesten zum Widerstand berufen waren und die ersten Opfer wurden: die Führungen der Arbeiterbewegung. Von der Sozialdemokratie war nichts anderes zu erwarten, nachdem sie erst den Krieg unterstützt und dann der Konterrevolution die Tür geöffnet hatte. Darum war eine Kommunistische Internationale entstanden, die nach dem Versagen der KPD im Oktober 1923 rasant zum willigen Instrument Stalins und seines bürokratischen Machtkartells wurde, das den "Sozialismus in einem Land" zu einem Totalitarismus eigener Art ausbaute.

*

Nichts davon ist in Europa heute gegeben, nicht einmal in Italien. Zu allererst: Die Zeit, als die Treuesten der Treuen noch immer leiser sagen konnten, wir leben in der Epoche der Weltrevolution, ist ein für allemal vorbei. Schon das Reden von einer Arbeiterbewegung wäre ohne Sinn. Was es gibt, ist eine Krise des Systems der politischen Parteien, wie es sich in den Jahrzehntes nach dem Vertrags von Jalta etabliert hatte. Das macht das Regieren weniger bequem als zu Zeiten des Kalten Kriegs, als die Welt noch in Ordnung war. Aus den folgenden Fährnissen sind nicht erst die Fratelli d'Italia hervorgegangen, sondern zuvor die Cinque Estelle und Salvinis Lega, na, und der unverwüstliche Cavaliere höchstselbst.

Unter diesem Gesichtspunkt ist gar nicht Melonis Erfolg das wichtigste Ergebnis der italienische Wahlen, sondern der atemberaubende gemeinsame Absturz von Salvini und Berlusconi: Die wollten die Italiener ganz und gar nicht mehr, und dass man der pp. Linken das Staatsruder besser auch nicht anvertraut, hatten sie oft genug bewiesen. Alle denen gegenüber erscheint nun Meloni als eine Nuova Donna; ganz jungfräulich allerdings auch sie nicht.

Es geht erstmal alles weiter wie gehabt.





Mittwoch, 28. September 2022

Systematikers Cancel Culture.


aus nzz.ch, 28. 9. 2022

Philosophen schließen einen Kollegen von einer Tagung aus, weil er ein Manifest unterschrieben hat, das Vernunftkriterien nicht standhält.
Bei der deutschen Gesellschaft für Analytische Philosophie darf nur referieren, wer eine tadellose Lebensführung vorweisen kann. Was das heißt, entscheidet der Vorstand
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von Maria-Sibylla Lotter

Heute gelten Philosophen auch nur als Menschen. Lang ist es her, dass die Philosophie eine der Weisheit gewidmete Lebensform war, die sich auf alle Lebensbereiche erstreckte. Oder doch nicht? Der Vorstand der Gesellschaft für Analytische Philosophie (GAP) verlangt neuerdings von deren Vortragenden den Nachweis einer tadellosen Lebensführung nach einem Katalog von erkenntnisbezogenen Tugenden, den sich zwei Vorstandsmitglieder ausgedacht haben. Wer den nicht erfüllt, «muss draussen bleiben», haben sie in der «Deutschen Zeitschrift für Philosophie» erklärt.

Ein Witz? Mitnichten. Wer heute zu einer Podiumsdiskussion der GAP eingeladen wird, muss damit rechnen, dass nicht nur seine fachlichen Beiträge, sondern auch seine politischen Lebensäusserungen daraufhin geprüft werden, ob sie tugendhaft sind. Das erstreckt sich sogar auf Unterschriften unter die geistigen Ergüsse anderer. Wer einen untugendhaften Aufruf unterschreibt, und wer hätte nicht schon irgendwann in seinem Leben irgendeinen Bullshit unterschrieben, den man lieber nicht durchliest – für den Weltfrieden?, das Klima?, gegen Transphobie? –, muss draussen bleiben.

Der Erste, den das epistemische Tugendgericht zum Draussenbleiben verurteilte, war der Gründer der Gesellschaft für Analytische Philosophie selbst: Der international geschätzte Philosoph Georg Meggle wurde auf dem Kongress der GAP Anfang September von einem Kolloquium zur Wissenschaftsfreiheit wieder ausgeladen. Meggle verfügt über eine hohe fachliche Reputation. Er hat sich wie kein anderer deutscher Philosoph für die Streitkultur in Wissenschaft und Öffentlichkeit eingesetzt.

Nicht ganz so vernünftig

Anlässlich der Versuche von Behindertenverbänden in den 1990er Jahren, Vorträge des australischen Philosophen Peter Singer zu verhindern, war es ihm gelungen, die Protestierenden in einen offenen Austausch von Argumenten einzubinden, aus dem beide Seiten lernen konnten. Da von der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie damals keine Unterstützung gekommen war, hatte Meggle die Gesellschaft für Analytische Philosophie gegründet – ausdrücklich mit dem Ziel, die freie Debatte in den Wissenschaften zu verteidigen.

Warum also jetzt die Ausladung? Weil Georg Meggle 2021 den sogenannten Neuen Krefelder Appell «Den Kriegstreibern in den Arm fallen» unterschrieben hatte. Das war für den Vorstand der GAP nicht hinnehmbar, wie er in seiner Antwort auf Proteste von Fachkollegen gegen die Ausladung erläuterte: «Im gegebenen Fall liegt [...] auf der Hand, dass der besagte Text epistemische Standards unter allen plausiblen Präzisierungen verfehlt. Indem er die Verschwörungstheorien des Great Reset und der Nine-Eleven-Verschwörung propagiert und sich hinsichtlich der Pandemiepolitik ausgerechnet auf die notorische Desinformationsquelle der ‹World Doctors Alliance› beruft, verletzt er eklatant die Forderung der epistemischen Rationalität, die Überzeugungsbildung hinreichend von den verfügbaren Belegen abhängig zu machen.»

In der Tat. Wer den Appell kennt, kann sich nur an den Kopf fassen. Wie kommt ein so anspruchsvoller Denker wie Georg Meggle dazu, seine Unterschrift unter ein wirres querdenkerisches Anti-Nato-Pamphlet zu setzen? Doch die Erfahrung zeigt: Appelle werden selten unterschrieben, weil man den Inhalt nach sorgfältigster Prüfung aus rationalen Gründen völlig bejaht. Unterschriften sind manchmal auch Resultat einer emotionalen Anwandlung. Wer wird nicht gelegentlich von undifferenzierter Wut auf den Gang der Welt überwältigt und sucht nach Vereinfachung?

Auch die Vernunft ist eine Sklavin

Von Menschen in all ihrem Treiben wissenschaftliche Rationalität und Exaktheit zu verlangen, kann nicht gutgehen. Der Gesetzgeber wusste das glücklicherweise: Unser Recht auf Meinungsfreiheit im öffentlichen Raum erstreckt sich im Unterschied zur Wissenschaftsfreiheit auch auf Blödsinn. Selbstverständlich sollte man in einer Demokratie gegenseitig Rationalität einfordern, sonst kann sie nicht funktionieren – da kann man dem Vorstand der GAP nur zustimmen. Aber eine Unterschrift unter einem wirren Pamphlet ist kein Grund, das Gespräch mit einer Person abzubrechen. Umso weniger, wenn sie so viel für eine rationale Debattenkultur geleistet hat wie Meggle.

Warum glaubt man, ausgerechnet den Gründer der GAP wegen politischer Irrationalität vom Gespräch ausschliessen zu müssen, als hätte er die Pest und könnte ansteckend sein? Vielleicht weil man unrealistische und irgendwie auch unmenschliche Erwartungen an die Rationalität einzelner Denker hegt. David Hume, der Philosoph der schottischen Aufklärung, kannte das Phänomen. Er führt es auf eine in der menschlichen Vernunft angelegte Selbstüberschätzung zurück: Der Philosoph, sagt Hume, glaubt die Dinge rein rational zu beurteilen. Im Unterschied zu seinen Mitmenschen, bei denen er sieht, dass ihre Erklärungen dazu dienen, das zu rechtfertigen, wonach ihr Herz strebt

In Wirklichkeit, so Hume, ist die Vernunft jedoch bei allen die Sklavin der Affekte. Philosophen machen da keine Ausnahme. Neuere empirische und neurologische Untersuchungen stützen diese These. Muss man deswegen an der menschlichen Vernunft verzweifeln? Keineswegs. Denn die Vorurteile und Verwirrungen anderer Menschen können wir erkennen, nur die eigenen nicht. Die anderen können einem aber auf die Sprünge helfen.

Die menschliche Vernunft, heisst das, funktioniert nicht monologisch, sondern nur im freien Austausch mit anderen, wie schon Kant feststellte. Unser geistiger Horizont verengt und erweitert sich mit der Debattenkultur. Deshalb sind wir auf Meinungsfreiheit im öffentlichen Raum und auf eine freie, tabulose Debatte in den Wissenschaften angewiesen. Eine Unterschrift unter einem wirren Traktat sollte nicht Anlass eines Ausschlusses vom Gespräch sein. Sie sollte Anlass für eine kontroverse politische Debatte werden.

Vor zwanzig Jahren, bevor die Menschen immer tugendhafter wurden, wäre die Unterschrift ausgerechnet des Ehrenpräsidenten einer Philosophengesellschaft unter einem wüsten Appell Stoff zum Tratsch und für Witze gewesen – aber Anlass für die öffentliche Zurechtweisung des Kollegen und seine Ausladung von einem Kongress? Daran hätte man nicht im Traum gedacht. In diesem lange vergangenen Zeitalter nahm man es mit Humor, dass Menschen auch Blödsinn verzapfen. Oder unterschreiben. Und man ging selbstverständlich davon aus, dass Philosophen Interessantes zu Kolloquien beitragen können, auch wenn sie nur Menschen sind.


Maria-Sibylla Lotter ist Professorin für Ethik und Ästhetik an der Ruhr-Universität Bochum


Nota. - Ein Philosoph darf einen ungesunden Lebensstil pflegen und sogar einen sexisti-schen Witz erzählen, wenn er nicht grad auf seinem Pult steht oder einem Podium sitzt. Und umgekehrt ist ein öffentlicher Entertainer nicht schon zu weltpolitischen Betrachtun-gen qualifiziert, weil er sich einen Philosophen nennt.

Im übrigen bin ich angetan davon, dass wir in Deutschland eine Universität haben, die den Mut aufbringt, Ethik und Ästhetik beim selben Lehrstuhl anzusiedeln. Dies umso mehr, als die Professorin, die ihn besetzt, das Wort Humor in einem thematischen Zusammenhang gebraucht. Bochum, du hast meinen Glückwunsch!
JE



Dienstag, 27. September 2022

Friedrich Gilly begründet Spreeathen

aus Tagesspiegel.de, 25. 9. 2022                                                                                             zu Geschmackssachen

Vordenker und Vorabeiter für Schinkel
Das neue Preußen, klassisch klar: Das Knoblochhaus zeigt die Entwürfe von Friedrich Gilly


Von  Bernhard Schulz

Kometengleich verliefen Leben und Laufbahn von Friedrich Gilly. 1772 geboren, schloss er bereits als 18-Jähriger die Architektenausbildung ab und trat in den preußischen Staatsdienst ein. Ausgedehnte Studienreisen folgten. Mit 27 Jahren wurde er zum Professor für Optik und Perspektive an der neubegründeten Bauakademie berufen. Im selben Jahr 1799 hatte er geheiratet. Doch jäh brach seine Lebenskurve ab. Der Anfang 1800 geborene Sohn starb noch im Säuglingsalter, und von der Kur, die Gilly im Juli antrat, kehrte er nicht mehr zurück. Er verstarb am 3. August 1800 in Karlsbad an Tuberkulose, der Krankheit aus ungesunden Gemäuern

„Kubus, Licht und Schatten“

Ganz im Gegensatz dazu, nämlich in die biedermeierliche Behaglichkeit des Knoblochhauses, ist jetzt die kleine, aber geradezu übervolle Ausstellung eingepasst, die unter dem Titel „Kubus, Licht und Schatten“ an das Werk des Baumeisters erinnert. Gebaut hat der jüngere Gilly – sein Vater David war ebenfalls Architekt – fast nichts. Es lag noch vor ihm; eine glanzvolle Zukunft als einem Erneuerer der Baukunst. So sahen ihn die bestürzten Zeitgenossen, so wurde sein Bildnis gleich nach seinem Tod von Schadow in Marmor verewigt. So verstand ihn vor allem der junge Karl Friedrich Schinkel, der durch einen Entwurf Gillys für ein Denkmal Friedrichs des Großen zum Beruf des Architekten bestimmt wurde.

Dieses Blatt von 1796 mit dem Entwurf eines gewaltigen Denkmalsbauwerks für den zehn Jahre zuvor verstorbenen Preußenkönig machte auf der Jahresausstellung der Berliner Kunstakademie Furore. Da war ein junger Baumeister, der – indem er an das schon im Untergang begriffene alte Preußen erinnerte, ein neues, klassisch-klares Preußen heraufbeschwor – jenem Geist verwandt, der die französische Revolutionsarchitektur dieser bewegten Tage beflügelte.


Öffnungszeiten:
Knoblochhaus, Poststraße 23, bis 16. Oktober; Di-Do 12-18, Fr-So 10-18 Uhr


Das immerhin ein Meter dreißig breite Blatt, das einen griechischen Tempel auf weit ausgreifendem Unterbau zeigt, wie er auf dem Leipziger Platz hätte stehen sollen, wurde unversehens zum Vermächtnis Gillys. In einer eigens konstruierten Vitrine sorgsam geschützt, ist das Blatt das Hauptwerk der Ausstellung im Knoblochhaus, einer der Außenstellen der Stiftung Stadtmuseum. In Bleistift und Feder angelegt und farbig aquarelliert, kann das empfindliche Papier nur alle paar Jahre aus seinem Lagerschrank im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen hervorgeholt werden.

Die Ausstellung ist auf zu kleinem Raum gedrängt, um den weiteren Arbeiten Gillys zu angemessener Wirkung zu verhelfen. Gilly war ungemein produktiv; nur ist eben nichts gebaut worden, von einem antikischen Familiengrab abgesehen. Die Ausstellung, erarbeitet von Jan Mende, ist gleichwohl in fünf Kapitel gegliedert und bezieht Gilly in die Gedankenwelt seiner Zeit ein, die von Griechen-Verherrlichung, Licht-Metaphorik, aber auch von Gotik-Mystizismus bewegt war. So hat Gilly ein Hochofen-Gebäude gezeichnet, einerseits frühindustriell-fortschrittlich, andererseits bedrohlich wie ein Tor zur Unterwelt.

Im frühen 20. Jahrhundert erlebte Gilly eine Renaissance, als seine kompromisslosen Konstruktionen die frühe Moderne begeisterten. Ihren Nachhall finden die Zeichnungen von Pfeilern, Kuben und Pylonen in den Entwürfen eines Peter Behrens oder Mies van der Rohe.

Inwiefern es sich dabei um ein produktives Missverständnis handelt, ist eine andere Frage; Gilly war Lehrer für Perspektive und legte seine Blätter als bloßes Studienmaterial an. Was er selbst hätte bauen wollen, war klassisch-antikisch-monumental, von dorischer Härte, aber von der Romantik der „Zauberflöte“ umweht. In Schinkel fand Gilly seinen kongenialen Vollender und schließlich Weiterdenker.







Montag, 26. September 2022

Ägyptische Malerei.

aus spektrum.de, 26. 9. 2022                                                                          zu Geschmackssachen; zu Jochen Ebmeiers Realien

»Bildliche Narrativität»

Eine analysierte Art des Sehens
Die altägyptische Kunst ist leicht zugänglich, da man durch ihren Naturalismus einen schnellen Zugang zum Inhalt bekommt. Doch die Bildwerke enthalten oft weitaus mehr Details. Eine Rezension

von Robin Gerst

Das ägyptische Neue Reich (etwa 1550–1070 v. Chr.) ist bekannt für seine vielen Monumente. Noch heute sprechen die Reliefs der Tempel von den Taten der Herrschenden. Diese Mode färbte auf die Oberschicht ab, die ihr Leben und den Tod mitsamt den Meriten in aufwändigen Malereien an den Wänden ihrer Gräber verewigen ließ.

Deren Bildsprache und Inhalte sowie die Techniken und die Mechanismen, mit denen Geschichte und Geschehen wiedergeben wurden, untersucht der Ägyptologe Frederik Rogner. Das Buch stellt die aufbereitete Promotionsarbeit des Autors dar. Das sollte man im Hinterkopf behalten, denn Stil und Anspruch des Werks richten sich eher an ein Fachpublikum: Einige Passagen fallen sehr komplex und theoretisch aus. Methodisch verwendet der Ägyptologe Techniken der Literaturwissenschaft und der Kunstgeschichte. Mit diesen entwickelt er Modelle, die er nutzt, um die Flachbilder in den Privatgräbern der Elite des Neuen Reichs zu beschreiben. Anschließend untersucht er die Bilder und die verwendeten Erzähl- und Gestaltungstechniken, die er letztlich mit den Darstellungen in Tempeln und Königsgräbern vergleicht.

Vor allem der methodologische Abschnitt ist nicht einfach zu verstehen. Hier setzt der Verfasser ein gewisses Maß an Vorwissen sowohl in der Ägyptologie wie in den Medienwissenschaften und der Kunstgeschichte voraus. Eingängiger ist der Abschnitt, in dem er die Mechanismen vorstellt, mit denen die antiken Künstler Bildinhalte wirksam machten. Hier fühlt man sich direkt angesprochen und blättert gerne das eine oder andere Mal zurück oder vor, um die kleinen Gestaltungstricks der Maler zu reflektieren: Bewegung bei Erntearbeiten, Perspektive durch Versatz oder Räumlichkeit durch bildübergreifendes Zeichnen. Ebenfalls interessant sind die Abbildungen von konkreten Ereignissen, etwa Reisen oder Ehrungen. Ähnlich wie in einem Comic werden hier Handlungen mit identischen Akteuren in Bildfolgen dargestellt.

In mehr als 200 Illustrationen – mal Gesamtansichten aus den Gräbern, mal Ausschnitte einzelner Bilder – sind diese in Szene gesetzt. In den zugehörigen Textabschnitten erörtert Rogner dabei sowohl die Technik der Herstellung als auch die mediale Wirkung auf den Betrachter. In vielen Fällen ist es erstaunlich, wie einfach sich bestimmte Effekte erzielen lassen und wie unreflektiert das manchmal bei einem selbst automatisch geschieht.

Rogner gelingt es, den Blick auch auf kleine, ansprechende Details zu lenken: etwa wenn Varianz in einer Gruppe von Menschen erzeugt wird, indem einige Männer Bartstoppeln oder eine Halbglatze haben. Interessant ist etwa, wie viel lebendiger und dynamischer die Bilder wirken, wenn etwa bei sitzenden Personen ein Fuß unter dem Rock hervorschaut oder der Bauch Falten wirft.

Das faszinierte nicht nur den modernen Betrachter. Offenbar wurden die Gräber auch in der Vergangenheit besucht und rezipiert, denn es wurden antike Graffiti gefunden, die auf die Bilder Bezug nehmen.

So geschieht es, dass der Leser seine eigene Betrachtungsweise überdenkt und sich damit auseinandersetzt, wie Bilder im Neuen Reich wirken. Dies lässt sich allerdings ebenso auf andere narrative Systeme der Archäologie übertragen.


Es riecht nach was.

aus spektrum.de,  14. 10. 2024                                                                          zu Jochen Ebmeiers Realien Wahrn...