Mittwoch, 28. September 2022

Systematikers Cancel Culture.


aus nzz.ch, 28. 9. 2022

Philosophen schließen einen Kollegen von einer Tagung aus, weil er ein Manifest unterschrieben hat, das Vernunftkriterien nicht standhält.
Bei der deutschen Gesellschaft für Analytische Philosophie darf nur referieren, wer eine tadellose Lebensführung vorweisen kann. Was das heißt, entscheidet der Vorstand
.

von Maria-Sibylla Lotter

Heute gelten Philosophen auch nur als Menschen. Lang ist es her, dass die Philosophie eine der Weisheit gewidmete Lebensform war, die sich auf alle Lebensbereiche erstreckte. Oder doch nicht? Der Vorstand der Gesellschaft für Analytische Philosophie (GAP) verlangt neuerdings von deren Vortragenden den Nachweis einer tadellosen Lebensführung nach einem Katalog von erkenntnisbezogenen Tugenden, den sich zwei Vorstandsmitglieder ausgedacht haben. Wer den nicht erfüllt, «muss draussen bleiben», haben sie in der «Deutschen Zeitschrift für Philosophie» erklärt.

Ein Witz? Mitnichten. Wer heute zu einer Podiumsdiskussion der GAP eingeladen wird, muss damit rechnen, dass nicht nur seine fachlichen Beiträge, sondern auch seine politischen Lebensäusserungen daraufhin geprüft werden, ob sie tugendhaft sind. Das erstreckt sich sogar auf Unterschriften unter die geistigen Ergüsse anderer. Wer einen untugendhaften Aufruf unterschreibt, und wer hätte nicht schon irgendwann in seinem Leben irgendeinen Bullshit unterschrieben, den man lieber nicht durchliest – für den Weltfrieden?, das Klima?, gegen Transphobie? –, muss draussen bleiben.

Der Erste, den das epistemische Tugendgericht zum Draussenbleiben verurteilte, war der Gründer der Gesellschaft für Analytische Philosophie selbst: Der international geschätzte Philosoph Georg Meggle wurde auf dem Kongress der GAP Anfang September von einem Kolloquium zur Wissenschaftsfreiheit wieder ausgeladen. Meggle verfügt über eine hohe fachliche Reputation. Er hat sich wie kein anderer deutscher Philosoph für die Streitkultur in Wissenschaft und Öffentlichkeit eingesetzt.

Nicht ganz so vernünftig

Anlässlich der Versuche von Behindertenverbänden in den 1990er Jahren, Vorträge des australischen Philosophen Peter Singer zu verhindern, war es ihm gelungen, die Protestierenden in einen offenen Austausch von Argumenten einzubinden, aus dem beide Seiten lernen konnten. Da von der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie damals keine Unterstützung gekommen war, hatte Meggle die Gesellschaft für Analytische Philosophie gegründet – ausdrücklich mit dem Ziel, die freie Debatte in den Wissenschaften zu verteidigen.

Warum also jetzt die Ausladung? Weil Georg Meggle 2021 den sogenannten Neuen Krefelder Appell «Den Kriegstreibern in den Arm fallen» unterschrieben hatte. Das war für den Vorstand der GAP nicht hinnehmbar, wie er in seiner Antwort auf Proteste von Fachkollegen gegen die Ausladung erläuterte: «Im gegebenen Fall liegt [...] auf der Hand, dass der besagte Text epistemische Standards unter allen plausiblen Präzisierungen verfehlt. Indem er die Verschwörungstheorien des Great Reset und der Nine-Eleven-Verschwörung propagiert und sich hinsichtlich der Pandemiepolitik ausgerechnet auf die notorische Desinformationsquelle der ‹World Doctors Alliance› beruft, verletzt er eklatant die Forderung der epistemischen Rationalität, die Überzeugungsbildung hinreichend von den verfügbaren Belegen abhängig zu machen.»

In der Tat. Wer den Appell kennt, kann sich nur an den Kopf fassen. Wie kommt ein so anspruchsvoller Denker wie Georg Meggle dazu, seine Unterschrift unter ein wirres querdenkerisches Anti-Nato-Pamphlet zu setzen? Doch die Erfahrung zeigt: Appelle werden selten unterschrieben, weil man den Inhalt nach sorgfältigster Prüfung aus rationalen Gründen völlig bejaht. Unterschriften sind manchmal auch Resultat einer emotionalen Anwandlung. Wer wird nicht gelegentlich von undifferenzierter Wut auf den Gang der Welt überwältigt und sucht nach Vereinfachung?

Auch die Vernunft ist eine Sklavin

Von Menschen in all ihrem Treiben wissenschaftliche Rationalität und Exaktheit zu verlangen, kann nicht gutgehen. Der Gesetzgeber wusste das glücklicherweise: Unser Recht auf Meinungsfreiheit im öffentlichen Raum erstreckt sich im Unterschied zur Wissenschaftsfreiheit auch auf Blödsinn. Selbstverständlich sollte man in einer Demokratie gegenseitig Rationalität einfordern, sonst kann sie nicht funktionieren – da kann man dem Vorstand der GAP nur zustimmen. Aber eine Unterschrift unter einem wirren Pamphlet ist kein Grund, das Gespräch mit einer Person abzubrechen. Umso weniger, wenn sie so viel für eine rationale Debattenkultur geleistet hat wie Meggle.

Warum glaubt man, ausgerechnet den Gründer der GAP wegen politischer Irrationalität vom Gespräch ausschliessen zu müssen, als hätte er die Pest und könnte ansteckend sein? Vielleicht weil man unrealistische und irgendwie auch unmenschliche Erwartungen an die Rationalität einzelner Denker hegt. David Hume, der Philosoph der schottischen Aufklärung, kannte das Phänomen. Er führt es auf eine in der menschlichen Vernunft angelegte Selbstüberschätzung zurück: Der Philosoph, sagt Hume, glaubt die Dinge rein rational zu beurteilen. Im Unterschied zu seinen Mitmenschen, bei denen er sieht, dass ihre Erklärungen dazu dienen, das zu rechtfertigen, wonach ihr Herz strebt

In Wirklichkeit, so Hume, ist die Vernunft jedoch bei allen die Sklavin der Affekte. Philosophen machen da keine Ausnahme. Neuere empirische und neurologische Untersuchungen stützen diese These. Muss man deswegen an der menschlichen Vernunft verzweifeln? Keineswegs. Denn die Vorurteile und Verwirrungen anderer Menschen können wir erkennen, nur die eigenen nicht. Die anderen können einem aber auf die Sprünge helfen.

Die menschliche Vernunft, heisst das, funktioniert nicht monologisch, sondern nur im freien Austausch mit anderen, wie schon Kant feststellte. Unser geistiger Horizont verengt und erweitert sich mit der Debattenkultur. Deshalb sind wir auf Meinungsfreiheit im öffentlichen Raum und auf eine freie, tabulose Debatte in den Wissenschaften angewiesen. Eine Unterschrift unter einem wirren Traktat sollte nicht Anlass eines Ausschlusses vom Gespräch sein. Sie sollte Anlass für eine kontroverse politische Debatte werden.

Vor zwanzig Jahren, bevor die Menschen immer tugendhafter wurden, wäre die Unterschrift ausgerechnet des Ehrenpräsidenten einer Philosophengesellschaft unter einem wüsten Appell Stoff zum Tratsch und für Witze gewesen – aber Anlass für die öffentliche Zurechtweisung des Kollegen und seine Ausladung von einem Kongress? Daran hätte man nicht im Traum gedacht. In diesem lange vergangenen Zeitalter nahm man es mit Humor, dass Menschen auch Blödsinn verzapfen. Oder unterschreiben. Und man ging selbstverständlich davon aus, dass Philosophen Interessantes zu Kolloquien beitragen können, auch wenn sie nur Menschen sind.


Maria-Sibylla Lotter ist Professorin für Ethik und Ästhetik an der Ruhr-Universität Bochum


Nota. - Ein Philosoph darf einen ungesunden Lebensstil pflegen und sogar einen sexisti-schen Witz erzählen, wenn er nicht grad auf seinem Pult steht oder einem Podium sitzt. Und umgekehrt ist ein öffentlicher Entertainer nicht schon zu weltpolitischen Betrachtun-gen qualifiziert, weil er sich einen Philosophen nennt.

Im übrigen bin ich angetan davon, dass wir in Deutschland eine Universität haben, die den Mut aufbringt, Ethik und Ästhetik beim selben Lehrstuhl anzusiedeln. Dies umso mehr, als die Professorin, die ihn besetzt, das Wort Humor in einem thematischen Zusammenhang gebraucht. Bochum, du hast meinen Glückwunsch!
JE



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