Montag, 8. Mai 2023

Groß-Eurasien: Die russische Alternative zum Abendland.

aus nzz.ch, 8. 5. 2023                                                             Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs machten Deutschland und Russland gemeinsame Sache, zum Beispiel im Polenfeldzug                                                                         zu öffentliche Angelegenheiten

Die toxische Ideen-Saat der deutschen Demokratieverächter aus den 1920er Jahren geht nun in Putins Russland auf.
Auf dem Boden der Weltkriegsniederlage entfaltete sich in Deutschland nach 1918 ein antiwestliches Gebräu aus Nationalismus und Ressentiment. Russland wurde zur Utopie von Fortschrittsgegnern und der Westen zum Inbild der Dekadenz.


von Annette Werberger

Der Artikel von Catherine Belton, Souad Mekhennet und Shane Harris in der «Washington Post» über die Versuche des Kremls, eine deutsche Antikriegs-koalition aus russlandfreundlichen linken und rechten Kräften in der bundesrepublikanischen Politik zu schmieden, offenbart, dass Deutschland weiterhin ein zentraler Bezugspunkt russischer Geopolitik ist.

Deutschland galt und gilt als wichtigster europäischer Baustein für Putins Projekt eines echten eurasischen Europa von Lissabon bis Wladiwostok. Dieses wurde von russischen Politiktechnologen und Ideologen immer wieder propagiert, um die verhassten ‹Angelsachsen› mit ihrem dekadenten Liberalismus und ihrem Rechtssystem vom europäischen Kontinent zu vertreiben. Russische Vorstellungen eines solchen «alternativen Europa» der Volksdiktaturen tragen damit die dunkle Saat des späteren Hitler-Stalin-Pakts in das 21. Jahrhundert hinein.

Russland bzw. Sowjetrussland war in den 1920er Jahren schon einmal Kristallisationspunkt für eine solche randständige, radikale Form der Europakritik, die Krisen nicht zu überwinden sucht, sondern diese schürt und ausbeutet. Der Historiker Fritz Stern hat den Hintergrund dieses politischen Denkens 1961 unvergleichlich präzise in «Kulturpessimismus als politische Gefahr» dargestellt. Er beschrieb darin eine deutsche Denktradition der Weimarer Republik, in der Russland zum Sehnsuchtsort für Demokratieverächter aufstieg. Ein antidemokratisch gedachtes Europa der zwei «Kulturnationen» Russland und Deutschland wurde gegen ein Europa der Institutionen, Parlamente und Regeln in Anschlag gebracht.

«Geopolitik des Geistes»

Die zentrale Person, die diese Ideologie des Ostens in Weimar vertrat, war Arthur Moeller van den Bruck (1876–1925), der Herausgeber der roten Dostojewski-Ausgabe bei Piper und Verfasser des berüchtigten Buchs «Das dritte Reich» von 1923. In neurechten Kreisen ist auch sein Aufsatz «An Liberalismus gehen die Völker zugrunde» von 1922 sehr beliebt.

Moeller van den Bruck war ein emphatischer «Ostländer», der den Osten mit Russland gleichsetzte. Er kam aus der Kultur- und Kunstgeschichte, politisierte sich nach dem Ersten Weltkrieg, den er wie viele Nationalisten als Betrug verstand, und wurde zu einem wichtigen Vertreter der Konservativen Revolution in Deutschland. Sein ästhetisches, formbewusstes Verständnis der Moderne tendierte dazu, geschlossene politische Zukunftsszenarien zu entwerfen. Er schrieb gewissermassen aus dem preussischen Berlin über die Welt im Habitus einer «Geopolitik des Geistes» (Stern), für die er nur wenig Wirklichkeit benötigte.

Der Publizist Arthur Moeller van den Bruck, 1876–1925.

Zu Russland kam er über Dostojewski. Dieser war Moellers Vorbild für die Idee, die «ideologische Zukunft Europas in der antiliberalen Gemeinschaftskultur Russlands» (Stern) zu sehen. Russland war zu Beginn des 20. Jahrhunderts allgemein in Mode gekommen. Plötzlich gab es überall Tolstoianer und Verehrer der russischen Mystik wie etwa Rainer Maria Rilke.

Moeller sammelte Bausteine für ein Russland als imaginäre Gegenwelt zum Westen. Dazu gehörten Dostojewskis missionarischer Nationalismus, der Europa aus westlicher Dekadenz und Antichristentum erlösen sollte, die antimoderne russische Mystik oder Versatzstücke des orthodoxen Gemeinschaftsdenkens, dem sich der Einzelne zu unterwerfen hat.

Die russische Exilkultur der monarchistischen «Weissen» prägte dieses Russlandbild später mit – darunter auch einige Texte von Professor Doktor Iwan Iljin, dem deutsch-russischen Lieblingsphilosophen von Wladimir Putin, der Ende der 1920er Jahre die russische Zeitschrift «Russische Glocke» in der Augsburgerstrasse 56 am Berliner Kurfürstendamm herausgab.

Die Idee eines völkischen Europa

Während der Westen bei Moeller für «Amerikanisierung», Individualisierung und Kapitalismus stand, brachte er in seiner auf dem Volkskörper beruhenden Russlandvorstellung sogar die junge Sowjetunion und Lenins Parteidiktatur unter. Der Bolschewismus in Russland war für ihn nur ein Übergangsphänomen auf dem Weg zu einem völkischen Europa mit deutsch-russischem Zentrum. Russland und Deutschland gehörten für Moeller zu den jungen Kulturnationen, die die Zukunft bestimmen würden. Frankreich und England hingegen waren alte Nationen, ebenso wie die jungen USA wegen ihrer Parteinahme im Weltkrieg.

Für die französischen Menschenrechte, die angelsächsische Tradition der parlamentarischen Institutionen und «Checks and Balances» hatte er nur Verachtung übrig und sah sie als ein überkommenes Modell, das dem Tode geweiht war. Für Moeller van den Bruck sass trotz seinem ideologischen Abstand zum Bolschewismus der Feind im Westen und der Freund im Osten.

Eine ähnlich ausgerichtete Parteibewegung mit deutsch-russischer Grundierung entstand parallel im Nationalbolschewismus der Weimarer Republik, in dem sich kommunistische und nationalistische Kräfte vereinigten, die in der Diktatur die Zukunft und im Liberalismus als «zersetzende Kraft» den Feind sahen.

Der Nationalbolschewist Ernst Niekisch etwa versuchte, den preussischen Staat als Verbindung von deutschen und slawischen Elementen zu konzipieren. Auch Moeller schrieb zu Beginn der 1920er Jahre mehrere Aufsätze über diese mögliche Allianz. Im Juni 1921 imaginiert er in der jungkonservativen Zeitschrift «Das Gewissen» eine mögliche «Achse» zwischen Revolutionären und Konservativen gegen den individualistischen Liberalismus, der nur «durchseucht und zersetzt» und Parlamentarismus als «Schutzform» betreibe. Wenn die Linken das Nationale ernst genug nehmen könnten, würde man sich bei der Form der Diktatur schon einig werden, so sein Kalkül.

Ernst Niekisch

Thomas Mann, der die Zeitung ebenfalls las, lässt seine Figur Serenus Zeitblom im Roman «Doktor Faustus» 1947 über die 1920er Jahre erklären, dass Russland ein «Bruder im Leide» gegen die «Mächte sei, die uns den Fuss in den Nacken setzen». Thomas Mann glaubte selbst einmal an die Wahlverwandtschaft der besonderen deutsch-russischen «Menschlichkeit». In seinen «Betrachtungen eines Unpolitischen» (1918) verbindet er autoritären Russland-Kitsch mit den von Dostojewski inspirierten Thesen vom Russen als dem «menschlichsten Menschen», der schon von Natur aus christlich-kommunistisch sei und Brüderlichkeit vor Freiheit stelle. Das «patriarchale-theokratische Selbstherrschertum» wäre deswegen die geeignete russische Staatsform. Ein Gedanke, der im heutigen Russland neue Popularität erfährt.

Nationalismus und Ressentiment

Klagen über Verluste oder verlorene Traditionen gehören zur Fortschrittsverheissung der Moderne. Wenn sie zum Antrieb einer Politik des Ressentiments werden, zerstören sie freilich alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Moeller und andere deutsche Intellektuelle propagierten diese Form der revanchistischen, radikalen Antipolitik in der Zwischenkriegszeit. Man ersparte sich damit Reflexion und Fehleranalyse zur Vergangenheit.

Die Ideen dieses Dunkeldeutschlands wanderten Jahrzehnte später nach Russland. Mitte der neunziger Jahre und vor allem mit Putins Amtsantritt begann die russische Politik mit den Mitteln von Nationalismus und Ressentiment zu agieren. Radikale Kräfte in der Russischen Föderation interpretierten die Auflösung der Sowjetunion 1991 als Betrug des Westens und Demütigung. Übersetzungen von Moeller van den Brucks «Das dritte Reich» erschienen in den nuller Jahren fast parallel zu Michail Jurjews Machwerk «Das Dritte Imperium» (2006), das deutlich Anklänge an nationalbolschewistischen Ideen zeigt und in dem Berlin als westliche Hauptstadt dieses Imperiums firmiert.

Eduard Limonow 

Literatur erspürt und beschreibt oft zuerst die Empfänglichkeit von Gesellschaften für bestimmte Ideen. Auch der Schriftsteller Eduard Limonow, den viele im Westen als schrägen Punk-Autor und avantgardistisches Enfant terrible betrachteten, präfiguierte in seinen Romanen und in seinem Leben viele Entgleisungen der heutigen Propagandisten im russischen Fernsehen sowie die Gewaltexzesse der russischen Militärführung, auch wenn er sich in den letzten Jahren als Oppositioneller gab. Nach Weimarer Vorbild schuf er 1992 in der Russischen Föderation prominent die national-bolschewistische Partei samt rotbrauner Insignien, in welcher der Dichter und Militarist Sachar Prilepin und der Ideologe Alexander Dugin Mitglieder wurden.

Das Verbot der Partei richtete sich eher gegen deren Unkontrollierbarkeit als gegen die Ideen selbst. Nur die Ukrainer liessen sich von diesem in Charkiw aufgewachsenen Propagandisten des Grossrussentums nie in die Irre führen und nahmen seine antiukrainischen Aktivitäten und imperialistischen Drohungen ernst. Weil Limonow der Ukraine das Existenzrecht absprach, war er ebenda bis zu seinem Tod 2020 auch aufgrund seiner militärischen Aktivitäten verachtet. Derweil machte man im Westen Bücher und Filme über ihn, als sei er ein Pop-Star, der ein paar Kunsttabus bricht.

Das deutsch-russische Unternehmen des Nationalbolschewismus scheitert an der brutalen Realität des «Dritten Reichs», das der konservative Revolutionär Moeller, der 1925 Suizid begangen hatte, selbst nicht mehr erlebte. Verantwortung für die Wirkung dieser Ideen tragen er und seine Mitstreiter dennoch. Fritz Stern fragt deswegen am Ende seines Buches zu Recht: «Kann man der Vernunft abschwören, die Gewalt verherrlichen, das Zeitalter des unumschränkten Machthabers prophezeien, alle bestehenden Institutionen verdammen, ohne damit den Triumph der Verantwortungslosigkeit vorzubereiten?»


Annette Werberger lehrt osteuropäische Literaturen an der Europa-Universität Viadrina und forscht im BMBF-Forschungskolleg «Europäische Zeiten».


Nota. - Vor acht Jahren schrieb ich, dass sich Putin zum Gefangenen der großrussischen Chauvinisten gemacht habe und Mühe hätte, sie wieder loszuwerden. Das muss er gelesen haben, jedenfalls hat er aus seiner Not eine Tugend gemacht und sich selbst an ihre Spitze gesetzt. Die neuentstandene Gattung der Kremlastrologen hatte schon lange geunkt, er habe dort seine neue ideologische Heimat gefunden. Ob so oder so, wenn er sich nicht vollends die Hände binden und als bloßer Korken auf dem feudal-bürokratischen Sumpf-loch treiben wollte, musste er sich ein eigenes Profil geben, mit dem er Leute mobilmachen konnte, die bereit wären, gegebenenfalls ihr Leben für ihn einzusetzen - die aber mit einem kleinen Pöstchen nicht zufriedenzustellen sein würden, sondern ganz große Posten von ihm erwarteten.

Vielleicht war die Annexion der Krim ja wirklich nur ein leichtfertiges Abenteuer gewesen, als sein Ansehen im Keller war und die Sache weltpolitisch wenig riskant erschien. Doch wer A sagt, muss auch B sagen und sein "Plan" wäre ihm pragmatisch zugewachsen, und mit weniger als einem eurasischen Großreich kann er sich nicht mehr begnügen. Will sagen, mit der Ukraine jedenfalls nicht. 

Damit wird er nie durchkommen, das glaub ich auch. Hitler ist schließlich auch nicht durchgekommen, aber heute weiß jeder: Spätestens bei der Resttschechei hätte man ihn stoppen müssen.

PS. Dass sich übrigens China am Ussuri-Fluss, 'den sie Wussuli nennen', dauerhaft aufhalten lassen will, kann ich mir kaum vorstellen.
JE


Sonntag, 7. Mai 2023

Putins Sackgasse.

                                                    zu öffentliche Angelegenheiten

"Der Krieg stärkt Putins Macht – es wird mit ihm keinen Frieden geben, weil er einen solchen gar nicht will.
Die Befürworter von raschen Friedensverhandlungen zwischen Kiew und Moskau gehen von der Prämisse aus, dass Putin Friede anstrebt. Tatsächlich aber führt er einen Vernichtungskrieg, und der Krieg sichert seine Herrschaft auf eine für ihn unabdingbare Art und Weise."

Rudolf G. Adam in Neue Zürcher Zeitung, 6. 5. 2023

Vor Jahr und Tag habe ich vorausgesagt, dass Putin eine aggressive Außenpolitik verfolgen wird, weil er gar nicht anders kann. Die Mechanik der bonapartistischen Regierungsweise lässt gar keine andere Wahl: Der Oberste Schiedsrichter ist an die Macht gekommen und, was wichtiger ist, hält sich an der Macht, weil die gesellschaftlichen Kräfte im Innern zu heterogen und zu zersplittert sind, um gesellschaftlich, nicht parlamentarisch mehrheitsfä-hige Allianzen aushandeln zu können, die sich - und sei's nur vorübergehend - auf einen gemeinsamen Plan verständigen können. Die Mechanik des Systems beruht darauf, sie stets in Bewegung zu halten und gegeneinander in Stellung zu bringen und an oberster Stelle dafür zu sorgen, dass sie einander nahezu ausgleichen, so dass ein Schiedsrichter auftreten muss und kann, als halte er die Gesellschaft in Bewegung, indem er ihr eine Richtung weist.


Das Arsenal kleinerer innerer Konflikte ist begrenzt, weil größere Zusammenstöße ja vermieden werden müssen, und so kann die Bewegung, jedenfalls auf Dauer, nur nach außen gerichtet werden kann. 

Dass er allen Ernstes einen souveränen Nachbarstaat mit Panzern überfallen würde, habe ich für so unmöglich gehalten wie irgendwer. Aber dass Russland unter ihm jedenfalls keinen Frieden geben würde, war mir klar. 

Die Sowjetunion war in ihren letzten Jahrzehnten kein Friedenslager, aber immerhin eine hochgerüstete  Kraft der Stagnation, ein Hort der Reaktion eher als ein ausgleichender Faktor. Russland unter Putin ist dagegen der Kriegstreiber, als den die antikommunistische Propaganda die Sowjetunion bis zu Schluss dargestellt hat.

*

Wenn Rudolf Adam meint, dass Putin gar keinen Frieden wollen kann, weil er den Krieg braucht, kann man ihm nur zustimmen. Der Haken ist der: selbst einen Siegfrieden nicht! Siege aber braucht er, wenigstens ab und zu, sonst kann er die Gesellschaft nicht in der Bewegung halten, die sie für ein dauerhaftes Gleichgewicht braucht. Er wird früher oder später scheitern. Und wir müssen alles daran setzen, dass es früher geschieht als später, und nicht erst, wenn die russische Armee ausgeblutet und die Ukraine verwüstet ist.



Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE   

Samstag, 6. Mai 2023

Philosophus fuisses.

aus spektrum.de, 6. 5. 2023                                                                             zuJochen Ebmeiers Realien zu Philosophierungen  

Ein Doktortitel macht noch keinen Philosophen
Im Gegensatz zu vielen anderen Berufsbezeichnungen ist bei Philosophinnen und Philosophen heiß umstritten, wer sich wann so nennen darf. Die Debatte zeigt, was Menschen in dem Fach sehen, meint unser Kolumnist.

von Matthias Warkus

Die Älteren von Ihnen werden sich noch erinnern: Bis 1999 durften sich in Deutschland auch Menschen ohne einschlägiges Studium und Weiterbildung auf dem Gebiet der Psychotherapie »Psychotherapeut« nennen. Dies wurde allgemein als ein Problem empfunden und nach langem Hin und Her gesetzlich verboten. Seitdem ist »Psychotherapeut« eine geschützte Berufsbezeichnung wie etwa »Architekt« oder »Rechtsanwalt«. Es ist sehr genau definiert, wer sich so nennen darf und welche Arten von Psychotherapeuten es gibt.

»Philosoph« beziehungsweise »Philosophin« ist hingegen keine geschützte Bezeichnung. Das bräuchte eigentlich niemanden weiter zu stören. Philosophinnen üben nach landläufiger Auffassung keinen Heilberuf aus. Sie entwerfen keine Häuser und tun auch sonst allem Anschein nach nichts Praktisches, bei dem man viel kaputt machen könnte. Viele andere Tätigkeitsbezeichnungen – etwa Germanist, Physikerin oder Pädagoge – sind ebenfalls nicht geschützt und das scheint nur selten jemanden zu ärgern. Ab und an gibt es vielleicht ein wenig Gegrummel, wenn bestimmte Bezeichnungen zum Beispiel aus Marketinggründen überzogen scheinen. Ich habe beispielsweise mal kleinere Diskussionen darüber mitbekommen, wer sich wann und mit welchem Recht »Evolutionsbiologin« nennen darf.

Bei dem Wort Philosoph hingegen scheint die Frage, wer sich in Ermangelung einer offiziellen Regelung so nennen darf, die Gemüter erheblich zu erhitzen. Das habe ich persönlich erlebt und auch medial gibt es immer wieder Debatten darüber, zum Beispiel, wenn es um die Personalie Richard David Precht geht, bei dem es viele stört, dass er in der Regel als Philosoph vorgestellt wird, obwohl er seinen Doktor nicht in Philosophie gemacht hat.

Eine Twitter-Umfrage der Journalistin Margarete Stokowski zur Frage, ob »Leute, die einen Uni-Abschluss in Philosophie haben«, Philosophin oder Philosoph genannt werden könnten, sammelte vor einigen Jahren binnen eines Tages 4250 Stimmen ein (und das Ergebnis war übrigens ein knappes Nein). 


Ebenfalls auf Twitter stellte die Germanistikprofessorin Andrea Geier 2020 die Überlegung in den Raum, Philosophieprofessorinnen und -professoren sollten vielleicht besser nicht als Philosophen, sondern als »Philosophiewissenschaftler« bezeichnet werden. (Precht, Stokowski und Geier haben übrigens alle drei – neben anderen Fächern – Philosophie studiert.)


Wie man es macht, ist es falsch


Was ist nun das potenziell Anstößige daran, wenn sich jemand Philosoph nennt? Mir scheint es hier zwei unterschiedliche Konstellationen zu geben, in denen sich Unmut einstellt:

Im ersten Fall geht es darum, dass jemand den Status des Philosophen beansprucht oder zu beanspruchen scheint, obwohl er keine hinreichenden akademischen Qualifikationsnachweise vorlegen kann. Zu meinen Studienzeiten sagten wir scherzhaft, Philosoph dürfe man sich ab der bestandenen Zwischenprüfung nennen. Heute scheint mir häufig das Fehlen einer einschlägigen Promotion bemängelt zu werden, zum Beispiel bei Precht oder Rüdiger Safranski, die beide literaturwissenschaftliche Doktorarbeiten geschrieben haben. Teilweise wird darüber hinaus auch verlangt, jemand müsse aktiv zu dem Thema forschen, also an einem philosophischen Institut arbeiten und/oder einschlägige Fachpublikationen haben, um sich Philosophin nennen zu können.

Im zweiten Fall wird hingegen bemängelt, dass jemand den Status der Philosophin beansprucht oder zu beanspruchen scheint, gerade weil er oder sie hinreichende akademische Qualifikationsnachweise hat, aber eben angeblich nur diese. Hierum geht es auch bei der vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen Philosoph und Philosophiewissenschaftler: Sie unterstellt, dass Philosophie etwas anderes ist als »nur« akademisches Forschen über Philosophie.Im zweiten Fall wird hingegen bemängelt, dass jemand den Status der Philosophin beansprucht oder zu beanspruchen scheint, gerade weil er oder sie hinreichende akademische Qualifikationsnachweise hat, aber eben angeblich nur diese. Hierum geht es auch bei der vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen Philosoph und Philosophiewissenschaftler: Sie unterstellt, dass Philosophie etwas anderes ist als »nur« akademisches Forschen über Philosophie.

Doch was macht einen Philosophen dann aus, wenn es nicht die fachwissenschaftliche Tätigkeit ist? Es gibt eine populäre, aber durchaus bis in die höchsten Etagen des Medienbetriebes verbreitete Vorstellung, dass »richtige« Philosophie noch etwas anderes sein müsse, etwas Kreatives, »Magisches«, was der Tätigkeit an einem philosophischen Hochschulinstitut nicht notwendigerweise innewohne. Diese Vorstellung ist deswegen so wirkungsvoll, weil sie von mehreren Seiten kräftig befeuert wird: einmal durch die Erinnerung an große historische Figuren wie etwa Diogenes und Sokrates, die im Dienste der Philosophie Armut oder gar den Tod in Kauf nahmen. Doch auch durch die landläufige Redensart vom »Philosophieren« als unverbindliches Nachdenken, was ja jeder nach entsprechender Inspiration zum Beispiel durch ein gutes Glas Wein könne. Und durch die beliebte, aber nicht ganz treffende Behauptung, viele, wenn nicht gar die meisten großen klassischen Texte der Philosophie seien nicht im akademischen Betrieb entstanden.

Diese beiden Formen des Vorwurfs nehmen Menschen, die sich mit Philosophie beschäftigen, sauber in die Zange. Nahezu jedem, der sich Philosoph nennt, kann man das eine oder das andere vorwerfen. Warum gibt man die Bezeichnung dann nicht ganz auf oder zumindest die Streitigkeiten darüber, wie sie zu verwenden ist?

Meine Vermutung dazu ist eigentlich ganz schmeichelhaft für unser Fach: Obwohl das philosophische Wissen in der breiten Öffentlichkeit in Deutschland wenig ausgeprägt ist, herrscht die Überzeugung, dass Philosophie etwas Wichtiges und Aufregendes ist. Jemand, der bereits in seiner Selbstbezeichnung die Vereinsfarben des Fachs hochhält, muss also jemand Besonderes sein oder zumindest etwas Besonderes können, was nicht nur seines- oder ihresgleichen interessiert. Ich persönlich betrachte das Wissen um dieses Interesse als Verpflichtung, mir stets Mühe damit zu geben, schlechten Klischees entgegenzutreten. Ob das funktioniert beziehungsweise ob ich die Bezeichnung Philosoph wirklich verdiene, müssen andere beurteilen.Im zweiten Fall wird hingegen bemängelt, dass jemand den Status der Philosophin beansprucht oder zu beanspruchen scheint, gerade weil er oder sie hinreichende akademische Qualifikationsnachweise hat, aber eben angeblich nur diese. Hierum geht es auch bei der vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen Philosoph und Philosophiewissenschaftler: Sie unterstellt, dass Philosophie etwas anderes ist als »nur« akademisches Forschen über Philosophie.

Doch was macht einen Philosophen dann aus, wenn es nicht die fachwissenschaftliche Tätigkeit ist? Es gibt eine populäre, aber durchaus bis in die höchsten Etagen des Medienbetriebes verbreitete Vorstellung, dass »richtige« Philosophie noch etwas anderes sein müsse, etwas Kreatives, »Magisches«, was der Tätigkeit an einem philosophischen Hochschulinstitut nicht notwendigerweise innewohne. Diese Vorstellung ist deswegen so wirkungsvoll, weil sie von mehreren Seiten kräftig befeuert wird: einmal durch die Erinnerung an große historische Figuren wie etwa Diogenes und Sokrates, die im Dienste der Philosophie Armut oder gar den Tod in Kauf nahmen. Doch auch durch die landläufige Redensart vom »Philosophieren« als unverbindliches Nachdenken, was ja jeder nach entsprechender Inspiration zum Beispiel durch ein gutes Glas Wein könne. Und durch die beliebte, aber nicht ganz treffende Behauptung, viele, wenn nicht gar die meisten großen klassischen Texte der Philosophie seien nicht im akademischen Betrieb entstanden.

Diese beiden Formen des Vorwurfs nehmen Menschen, die sich mit Philosophie beschäftigen, sauber in die Zange. Nahezu jedem, der sich Philosoph nennt, kann man das eine oder das andere vorwerfen. Warum gibt man die Bezeichnung dann nicht ganz auf oder zumindest die Streitigkeiten darüber, wie sie zu verwenden ist?

Meine Vermutung dazu ist eigentlich ganz schmeichelhaft für unser Fach: Obwohl das philosophische Wissen in der breiten Öffentlichkeit in Deutschland wenig ausgeprägt ist, herrscht die Überzeugung, dass Philosophie etwas Wichtiges und Aufregendes ist. Jemand, der bereits in seiner Selbstbezeichnung die Vereinsfarben des Fachs hochhält, muss also jemand Besonderes sein oder zumindest etwas Besonderes können, was nicht nur seines- oder ihresgleichen interessiert. Ich persönlich betrachte das Wissen um dieses Interesse als Verpflichtung, mir stets Mühe damit zu geben, schlechten Klischees entgegenzutreten. Ob das funktioniert beziehungsweise ob ich die Bezeichnung Philosoph wirklich verdiene, müssen andere beurteilen.

Nota. - Das ist unerwartet seicht, Herr Warkus. Descartes, Spinoza und Leibniz waren keine Akademiker, die Vorsokratiker schon gar nicht. Denn dass Philosophie überhaupt ein Fach ist, war noch längst nicht ausgemacht - und dass oder wie sie sich von andern Fächern unterscheidet.

Dass sie inzwischen ein Fach geworden ist, ist vielmehr befremdlich genug. Und wäre nicht geschehen, hätte sie nicht im Laufe der Jahrhunderte alle andern Zweige des Wissens als Wissenschaften aus sich ausgeschieden.

In Ihrem Beitrag klingt freilich die Sorge um das Ansehen eines Berufsbilds durch. Die kann aber nur die eine ihrer Seiten angehen. 

Die endgültige Lösung des Problems findet sich bei einem kühnen Neuerer, der aber inzwische auch schon über zwei Jahrhunderte tot ist:

... Bis dahin ist aber der Begriff von Philosophie nur ein Schulbegriff, nämlich von einem System der Erkenntnis, die nur als Wissenschaft gesucht wird, ohne etwas mehr als die systematische Einheit dieses Wissens, mithin die logische Vollkommenheit der Erkenntnis zum Zwecke zu haben. 

Es gibt aber noch einen Weltbegriff (conceptus cosmicus), der dieser Benennung jederzeit zum Grunde gelegen hat, vornehmlich wenn man ihn gleichsam personifizierte und in dem Ideal des Philosophen sich als ein Urbild vorstellte. In dieser Absicht ist Philosophie die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae), und der Philosoph ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft. In solcher Bedeutung wäre es sehr ruhmredig, sich selbst einen Philosophen zu nennen, und sich anzumaßen, dem Urbilde, das nur in der Idee liegt, gleichgekommen zu sein.

JE

"Bauchhirn".


aus Die Presse, Wien, 6. 5. 2023                                                                                                  zuJochen Ebmeiers Realien

Der Bauch denkt immer mit

Ob wir entspannen können, depressiv oder gut gelaunt sind, hängt auch mit den Darmbakterien zusammen – sie haben einen starken Einfluss auf den Vagus-nerv. Forschende der Med-Uni Graz untersuchen das Zusammenspiel.  

Er ist ein wahrer Alleskönner. Ein gut funktionierender Vagusnerv sorgt etwa für innere Ruhe, Wohlbefinden, guten Schlaf oder eine bessere Wundheilung. Funktioniert dieser wichtige Hirnnerv nicht optimal, kann das gesundheitsschädigend und beispielsweise das Risiko, an einer Depression zu erkranken, erhöht sein. Der Vagusnerv zieht sich vom Hirn bis in den Rumpf, verbindet alle Organe mit dem Gehirn – und ist vor allem ein ganz wichtiger Teil der sogenannten Darm-Gehirn-Achse. Das ist in Wissenschaftskreisen nicht neu. Ungeklärt war bis vor Kurzem allerdings: Welche Darmbakterien* sind es denn nun, die den Vagusnerv positiv beeinflussen, sodass er sein gutes Werk für uns tun kann? An der Med-Uni Graz hat man diese Frage kürzlich beantwortet.

„Wir haben 2022 erstmalig erhoben, welche Darmbakterien beim Menschen mit einer guten Funktion des Vagusnervs in Verbindung stehen“, berichtet Sabrina Mörkl von der Klinischen Abteilung für Psychologie, Psychosomatik und Psychotherapie. Dazu wurden 73 Personen in eine Studie einbezogen, die im Journal Dialogs in Clinical Neuroscience veröffentlicht wurde.

Was bei Depressionen fehlt

Die gefundenen Bakterienfamilien haben so sperrige Namen wie Clostridia, Clostridiales, Lachnospira, Ruminococcaceae, Faecalibacterium, Lactobacillales, Bacilli, Streptococcaceae und Streptococcus. Sie produzieren jedenfalls kurzkettige Fettsäuren, die für eine gute Funktion des Vagusnervs offensichtlich sehr wichtig sind. „Depressive haben übrigens viel weniger von genau diesen positiven Darmbakterien“, sagt Mörkl.

In der Studie fand man zudem heraus, dass Probandinnen und Probanden, deren Darmflora mit vielen verschiedenen Bakterienstämmen gesegnet war, auch einen fitten Vagusnerv aufwiesen. Sie litten viel seltener und weniger an sogenannter Silent Inflammation, also stillen, unbemerkten Entzündungen, die u. a. das Immunsystem schwächen und zu Asthma, Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und sogar Krebs führen können.

Warum manche Menschen mehr von den erwähnten guten Bakterien haben, andere weniger, hängt von unendlich vielen Faktoren ab, von denen viele noch nicht bekannt sind. „Was wir wissen, ist, dass unter anderem Alter, hoher Body-Mass-Index oder eine niedrige Artenvielfalt der Darmbakterien das Geschehen negativ beeinflussen“, erläutert Mörkl.

Die Ernährung ist nicht in die Studie eingeflossen, hat aber wohl einen nicht zu verachtenden Stellenwert. V. a. Ballaststoffe wären da zu erwähnen. Schließlich sind sie die Hauptquelle für die Energie der Darmbakterien, die genau daraus die für den Vagusnerv so wichtigen kurzkettigen Fettsäuren produzieren. Aber auch Probiotika sind gutes Futter für das Darmmikrobiom und dessen Einfluss auf Gesundheit und Krankheit. Es gab bereits Versuche, Probiotika als additive Therapie bei Depressionen einzusetzen, die aber scheiterten. Vielleicht, weil man irgendwelche Probiotika nahm, ohne auf deren spezifische Bakterienzusammensetzung zu achten? Darum versucht man es in Graz nun anders. „Wir machen derzeit eine Studie an depressiven Patienten mit jenen Probiotika, die viele Bakterienstämme beinhalten, die kurzkettige Fettsäuren produzieren“, sagt Mörkl.

Im Juni wird man mehr wissen und vielleicht eine neue zusätzliche Therapiemöglichkeit für Menschen mit Depression haben. (cr)

*) Die Darmflora (Darmmikrobiom) ist die Gesamtheit aller Darmbakterien. Schätzungsweise sind es zehn Billionen an der Zahl und 500 bis 1000 verschiedene Arten.


Freitag, 5. Mai 2023

Vor-Verständnis.


aus spektrum.de, 05.05.2023            
Kognitive Verzerrungen sind systematische Fehler im Denken und Wahrnehmen, die dazu führen können, dass unsere Urteile und Entscheidungen ungenau oder irrational sind.                zuJochen Ebmeiers Realien zu Philosophierungen

Viele Denkfehler folgen demselben Prinzip
Menschen verarbeiten neue Informationen oft so, dass sie in ihr eigenes Weltbild passen. Dieser »Bestätigungsfehler« ist womöglich ursächlich für viele kognitive Verzerrungen.


von Anton Benz

Der Mensch als rationaler Denker? Längst passé! Inzwischen gibt es hunderte Bezeichnungen für die Denkfallen, denen wir Tag für Tag unterliegen. Sie füllen Wikipedia-Listen und ganze Bücher. Doch möglicherweise sind sie gar nicht so ungleich, wie die verschiedenen Namen nahelegen. Aileen Oeberst und Roland Imhoff von der Fernuniversität Hagen argumentieren, dass zumindest 17 der als unterschiedlich gehandelten kognitiven Verzerrungen auf eine einzige zurückzuführen seien: den Bestätigungsfehler.
Menschen neigen nämlich dazu, Informationen so zu verarbeiten, dass sie ihre eigenen Überzeugungen bestätigen. Deshalb kann man sich auch Standpunkte, die das eigene Weltbild stützen, besser einprägen als Gegenargumente. Aileen Oeberst und Roland Imhoff behaupten nun, die von ihnen aufgelisteten – scheinbar verschiedenen – kognitiven Verzerrungen seien allesamt eine Kombination aus Bestätigungsfehler und einer bestimmten Grundüberzeugung. Letztere prägen unser Denken, auch wenn wir uns ihnen häufig nicht gewahr sind. Der Bestätigungsfehler fördert, dass wir sie unhinterfragt lassen, was sich wiederum in Denkfehlern niederschlägt.

Die beiden Forschenden beschreiben sechs solcher fundamentalen Glaubenssätze. So schließt man etwa häufig von sich auf andere, zum Beispiel wenn es um deren Wahrnehmung geht. Gepaart mit dem Bestätigungsfehler ergibt sich den Psychologen zufolge so der »Rampenlicht-Effekt«, nach dem wir davon ausgehen, ein unangenehmer Kaffeefleck müsse allen sofort ins Auge springen, obwohl er den ganzen Tag unbemerkt bleibt. Nach demselben Prinzip funktioniere beispielsweise der bislang unabhängig davon erforschte »falsche Konsensfehler«, also den Hang zu überschätzen, wie viele Menschen unsere Überzeugungen teilen. Ob der Rampenlicht-Effekt und der falsche Konsensfehler tatsächlich demselben Glaubenssatz unterliegen (»Meine Erfahrung ist eine vernünftige Referenz«) lässt sich empirisch untersuchen, so die Autoren. Ihre Argumentation würde bestätigt, wenn beide Denkfallen gehäuft gemeinsam auftreten.


Nota. - Das ist aber nun einmal unvermeidlich. Diskursives Denken - und nur das nennen wir vernünftig - geschieht, indem ich ein Unbekanntes auf ein Bekanntes beziehe und mit ihm vergleiche. "Was heißt beweisen? Es heißt doch wohl bei dem, der sich einen deutlichen Begriff davon macht, die Wahrheit eines Satzes an einen andern anknüpfen. Ich leite die Wahrheit eines Satzes auf einen anderen über", sagt meine Gewährsmann Fichte. Mit andern Worten, den Anfang der Kette kann ich mir durch nichts erweisen: Ich muss ihn einfach "für wahr halten", oder glauben.

Wobei ich zu meinem individuellen Uranfang gar nicht zurück könnte, selbst wenn ich es wollte: So weit reicht mein Gedächtnis nicht. Also werde ich zurückkehren zu dem erstbe-sten Vertrauten, das ich wiedererkenne, und sagen: "Ja, das war's!" Mit andern Worten, ir-gendwo stoße ich auf etwas, dem meine neugewonnene Information ähnlich sieht und bin mit meinem Wissen zufrieden. Na, manch einer gibt sich nicht zufrieden, und spätestens wenn er dieses Verfahren bei einem Mitmenschen beobachtet, wird er sagen: "Na so geht das aber nicht!" So selbstzufrieden einer immer ist, ist er doch immer mit welchen umge-ben, die, wenn schon nicht sich selbst, so doch die andern kritisieren. Denn die Vernunft hat es mit List so eingerichtet, dass diskursives Denken stets in Gesellschaft stattfindet; dort ist es nämlich entstanden.
JE

Donnerstag, 4. Mai 2023

Ehre, wem Ehre gebührt!

Das Ding in Libyen hat er ver-siebt, und den Rückzug aus dem Irak, für den er gewählt worden war, hat er überstürzt, um in Af-ghanistan groß aufzutrumpfen - mit bekanntem Er-folg. 

Den Rückzug Amerikas aus seiner Welt-rolle hat er eingeleitet - und da-bei in Kauf genommen, dass Putin in Syrien beide Beine auf den Boden bekam.

Und dafür wird er gefeiert?

Ach so, ja: The Ethnic Thing har er kein bisschen (kein bisschen) entschärft. 



oben: heute in Berlin

Mittwoch, 3. Mai 2023

"Von Natur aus anders."


aus nzz.ch, 2. 5. 2023          Buben lassen die Barbie eher links liegen oder benutzen sie manchmal wie eine Pistole.,,,          zu Männlich

«Ist das Geschlecht ein soziales Konstrukt?» – «Wer das behauptet, muss sich fragen, was er unter ‹Forschung› versteht»
Die Psychologin Doris Bischof-Köhler hat sich ihr Leben lang mit den Unter-schieden zwischen Frauen und Männern beschäftigt. Sie kritisiert die heutige Genderdebatte: Diese verleugne die Biologie, und Gegenstimmen würden mundtot gemacht.


Interview von Birgit Schmid

Sie haben sich als Genderforscherin einen Namen gemacht, soeben ist Ihr Standardwerk «Von Natur aus anders» über die Psychologie der Geschlechtsunterschiede in fünfter Auflage erschienen. Wie viele Geschlechter gibt es?

Die Antwort darauf ist alles andere als einfach. Man sollte die Zahl der Geschlechter jedoch bei zwei belassen. Das entspricht dem genetisch angelegten Bauplan aller vielzelligen Organismen, und der Mensch macht da keine Ausnahme. Aber selbstverständlich gibt es, wie überall in der Natur, bei der Realisierung dieses Bauplans Abweichungen, die die Evolution begleiten, ohne eine besondere Funktion zu haben, ja die biologisch sogar dysfunktional sein können, da sie nicht zur Fortpflanzung führen. Dieser Umstand birgt ein Diskriminierungspotenzial, das nicht aus der Welt zu schaffen ist, schon gar nicht durch ein gutgemeintes oder auch militant verordnetes Narrativ von einer Vielzahl der Geschlechter.

Nonbinäre und Transmenschen dürften diese Sicht tatsächlich als ausgrenzend empfinden.

Es ist die moralische Pflicht der Gesellschaft, hier gegenzusteuern. Aber das sollte in einer Haltung geschehen, die sich nicht anmasst, die Naturordnung neu zu erfinden.

Ihre Haltung gilt heute als reduktionistisch. Universitäten könnten sich scheuen, Sie bei ihnen referieren zu lassen. Erlebten Sie je Einschüchterungsversuche?

«Reduktionismus» ist ein Totschlagargument. Ich warte bis heute, dass mir jemand erklärt, was das eigentlich heisst und warum es falsch ist. Was Anfeindungen anbelangt – im Zuge meiner Vorlesungs- und Vortragstätigkeit habe ich sie natürlich oft zu spüren bekommen. Neben ebenso entschiedener Zustimmung. Ausgeladen wurde ich noch nie. Die Tatsache, dass Universitäten heute vor so etwas nicht mehr zurückschrecken, bestätigt meine immer schon gehegten Zweifel am kulturellen Fortschritt. Aber deshalb vor offenkundiger Ideologie zu kapitulieren und nicht mehr zu sagen, was ich nach hinreichend sorgfältiger Prüfung für wahr halte, kann ja wohl auch nicht die Lösung sein.

Um Diskriminierung zu bekämpfen, postuliert die akademische Genderforschung, dass Geschlechtsunterschiede nicht angeboren, sondern ein Resultat der Sozialisation seien. Was denken Sie, wenn Sie hören, Geschlecht sei ein soziales Konstrukt?

Wer ein solches Postulat aufstellt, muss sich fragen, was er unter «Forschung» versteht. Er hält es nicht für nötig, auch nur darüber nachzudenken, warum die wichtigsten Geschlechtsunterschiede, die angeblich die Gesellschaft erfunden hat, auch im Tierreich so weit verbreitet sind. Vielleicht wären Gleichberechtigung und Gleichbewertung einfacher zu erreichen, wenn man alle Unterschiede aus der Welt schaffen könnte. Aber nicht einmal das ist sicher. Jedenfalls ist der guten Sache kein Dienst erwiesen, wenn man sich in die eigene Tasche lügt. Ich verstehe bis heute nicht, wie man meinen kann, Wunschdenken würde wahr, wenn man es nur lautstark verkündet und alle Gegenstimmen mundtot macht.

Kürzlich war ich mit einem 18-monatigen Jungen unterwegs – von den Baggern auf einer Baustelle war er kaum wegzubringen. Seine Eltern lassen ihn auch mit Puppen spielen, was er aber nie so hingebungsvoll tut. Sind es bloß äußere Einflüsse, die bereits das Interesse von Kleinkindern so lenken?

Das Baggerbeispiel hat mich schon vor Jahren beschäftigt, als ein Reporter in einem Interview mir das Gleiche von seinem kleinen Neffen berichtete. Wir haben uns darauf geeinigt, dass da wohl wirklich Veranlagung eine Rolle spielt, was dann zu einigen unqualifizierten Kommentaren von Kolleginnen führte: ob ich denn meinte, es gebe ein Gen für die Vorliebe für Bagger. Ich weiss nicht, ob sie es wirklich nicht verstanden haben oder nur auf eine billige Pointe aus waren; womit man jedenfalls durchaus zu rechnen hat, ist eine genetisch angelegte Faszination durch einen bestimmten Typ von funktionalen Bewegungsabläufen.

Können Sie das erläutern?

Wenn man Buben und Mädchen bittet, einen Ball zu beschreiben, dann sagen die Mädchen eher, er sei rund, und die Buben, man könne damit werfen. Der Unterschied hat sich wahrscheinlich in Anpassung an die frühmenschliche Arbeitsteilung herausgebildet, aber da kann man nur spekulieren. Ein schönes Beispiel hat mir ein Mitarbeiter berichtet: Das Elternpaar, nicht verheiratet, aufgeschlossen für geschlechtsneutrale Erziehung, schenkte dem Sohn auch eine Puppe. Dieser nahm sie mit in die Badewanne und benutzte sie als Spritzpistole – sie hatte eine Öffnung im Rücken. Einzelne Anekdoten dieser Art beweisen natürlich nichts; empirische Forschung knüpft ein dichtes Netz aus vielen ineinandergreifenden Argumenten, die sich auf ganz unterschiedliche Datenbasis stützen. Sie kommen nicht von heute auf morgen zustande und lassen sich daher auch nicht auf so bequeme Weise erledigen.

In einem skandinavischen Kindergarten sollten die Kinder geschlechtsneutral erzogen werden bis hin zur Vermeidung der Personalpronomen «sie» und «er». Kann das funktionieren?

Das ist ein guter Beitrag zum Thema «Menschenversuche», bei denen Sozialpädagogen offenbar viel unverfrorener vorgehen als Biologen. Ist ein so massiver Eingriff zu rechtfertigen? Und was wäre im Erfolgsfall damit bewiesen? Der springende Punkt ist aber: Was genau geschehen ist, welchen Erfolg es hatte, welche Spätfolgen eingetreten sind – das alles wurde nie untersucht. Der Kindergarten hat die Erlaubnis zu einer Kontrolle verweigert.

Gab es nicht schon in der Vergangenheit solche Versuche?

Sicher gab es die. Denken Sie an die sogenannten Kinderläden. Das waren Einrichtungen in leerstehenden Tante-Emma-Läden, die im Zusammenhang mit der 1968er Bewegung entstanden sind. Deren Intention war allerdings eine andere, es gab dort eben gerade keinen Drill, auch keinen «sanften Zwang». Die Kinder sollten einfach frei von Rollenstereotypen aufwachsen. Davon erhoffte man sich, dass eine konfliktfreiere Problemlösung gefördert würde sowie dass Geschlechtsunterschiede vor allem in der Aggressivität zum Verschwinden gebracht würden. Es gibt gut dokumentierte Untersuchungen, die die dortige antiautoritäre Erziehung mit der in traditionellen Kindergärten verglichen.

Und was kam dabei heraus?

Zum Entsetzen der Untersucher trat genau das Gegenteil dessen ein, was man erwartet hatte: In den Kinderläden blieben die Jungen wild und ungebärdig und übertrafen in dieser Hinsicht sogar die Jungen aus den traditionellen Kindergärten, während die kleineren Mädchen mehr dazu neigten, sich zurückzuziehen, als ihre traditionell erzogenen Altersgenossinnen. Erst die etwas älteren hatten gelernt, sich zur Wehr zu setzen. Es handelte sich um eine ziemlich grosse Stichprobe, nahezu alle Kinderläden waren dabei. Deshalb liess sich das Ergebnis auch nicht einfach beiseiteschieben. Die Sozialisation kann nicht alles bewirken, wenn man die anlagebedingten Vorbedingungen nicht bedenkt.

Noch immer wählen Frauen viel seltener technische Berufe wie Ingenieur, während Männer sich weniger für Care-Arbeit interessieren. Biologie oder kulturell bedingte Vorlieben?

Natürlich spielt beides eine Rolle. Allerdings ist die Diskrepanz nicht so gross. Frauen haben wohl wirklich seltener eine besondere Vorliebe für technische Berufe. Wählen sie einen solchen aus, dann durchaus auch deshalb, weil sie sich ein gutes Einkommen oder Prestige versprechen. Bei den Männern wiederum sollte man ein hormonal fundiertes fürsorgliches Potenzial nicht unterschätzen. Sobald sie Vater werden, steigen bei ihnen das weibliche Hormon Progesteron und das sogenannte Bindungshormon Oxytocin an, und Testosteron fällt ab.

Geschlecht scheint heute eine subjektive Entscheidung. Egal, welches Geschlecht einem bei Geburt zugewiesen wurde: Jeder soll als Frau oder Mann leben können, wenn er das will. Wo liegt das Problem?

Die Bundesregierung hat gerade das Transsexuellengesetz mit allen seinen Hindernissen abgeschafft und durch das Selbstbestimmungsgesetz ersetzt. Jeder Mensch, der mit seinem Geschlecht unzufrieden ist, kann von nun an ohne medizinischen Nachweis frei entscheiden, welches Geschlecht er annehmen will. Es genügt ein Gang aufs Einwohnermeldeamt. Einen kleinen Haken hat das Ganze allerdings, der Feministinnen auf den Plan ruft. Wie kann man verhindern, dass ein Mann sich mit seiner ganzen toxischen Männlichkeit in strikt abgegrenzte weibliche Zirkel einschleicht, indem er angibt, er sei eine Frau. Als Aussenstehender wartet man gespannt auf die weitere Entwicklung.

Warum ist es gut, dass Frauen und Männer «von Natur aus anders» sind?


Es kommt nicht darauf an, ob man das gut findet oder nicht. Es ist eine Tatsachenfrage, die nur empirisch zu beantworten ist und sich im Übrigen auch gar nicht für eine Wertung anbietet. Entscheidend ist etwas anderes.

Nämlich?


Üblicherweise besteht die Ansicht, man müsse Männer und Frauen gleich machen, weil dies der einzige Weg sei, Gendergerechtigkeit zu erreichen, und das werde verhindert, wenn ihre Verschiedenheit natürlich bedingt sei. Hier liegt ganz ohne Zweifel ein Fehlschluss vor. Es ist richtig: Wenn die bestehenden Unterschiede nur gesellschaftliche Ursachen hätten, dann müsste man die Lehrpläne, die Normen und die Sprache und was weiss ich sonst noch eben ändern. Einige Volkspädagogen sind da ja recht experimentierfreudig, indem sie den Kindern die Verwendung von Personalpronomina abgewöhnen wollen

Und wenn es eben doch natürliche Unterschiede gibt?

Dann werden alle Anstrengungen nichts nützen. Man schafft Probleme nicht aus der Welt, indem man sie für nichtexistent erklärt. Wenn Gendergerechtigkeit einkehren soll, wird man Lösungen finden müssen, die auf Gleichmacherei verzichten. Ich leugne nicht, dass das schwierig ist. Aber wir haben keine andere Wahl. Es müssen sich doch Strukturen finden lassen, die es beiden Geschlechtern ermöglichen, gemeinsam ein sinnvolles und befriedigendes Leben zu führen, auch wenn sie von Natur aus anders sind. Gegenseitige Achtung sollte trotz Anderssein keine Utopie sein. Das ist es jedenfalls, was man sich für das Zusammenleben von Frauen und Männern wünscht.

Die deutsche Psychologin Doris Bischof-Köhler (87) forschte und unterrichtete an den Universitäten Zürich und München. Zu ihren Schwerpunktthemen gehören die frühe Entwicklung im Kindesalter und Geschlechterunterschiede. Sie schrieb zahlreiche Bücher, darunter das Standardwerk «Von Natur aus anders», das 2022 in überarbeiteter Version in fünfter Auflage erschienen ist (Kohlhammer-Verlag). 2003 wurde sie mit dem Deutschen Psychologie-Preis ausgezeichnet. Mit ihrem Mann, dem Psychologen Norbert Bischof, hat sie drei Töchter. – Das Interview wurde schriftlich geführt.

Es riecht nach was.

aus spektrum.de,  14. 10. 2024                                                                          zu Jochen Ebmeiers Realien Wahrn...