Montag, 8. Mai 2023

Groß-Eurasien: Die russische Alternative zum Abendland.

aus nzz.ch, 8. 5. 2023                                                             Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs machten Deutschland und Russland gemeinsame Sache, zum Beispiel im Polenfeldzug                                                                         zu öffentliche Angelegenheiten

Die toxische Ideen-Saat der deutschen Demokratieverächter aus den 1920er Jahren geht nun in Putins Russland auf.
Auf dem Boden der Weltkriegsniederlage entfaltete sich in Deutschland nach 1918 ein antiwestliches Gebräu aus Nationalismus und Ressentiment. Russland wurde zur Utopie von Fortschrittsgegnern und der Westen zum Inbild der Dekadenz.


von Annette Werberger

Der Artikel von Catherine Belton, Souad Mekhennet und Shane Harris in der «Washington Post» über die Versuche des Kremls, eine deutsche Antikriegs-koalition aus russlandfreundlichen linken und rechten Kräften in der bundesrepublikanischen Politik zu schmieden, offenbart, dass Deutschland weiterhin ein zentraler Bezugspunkt russischer Geopolitik ist.

Deutschland galt und gilt als wichtigster europäischer Baustein für Putins Projekt eines echten eurasischen Europa von Lissabon bis Wladiwostok. Dieses wurde von russischen Politiktechnologen und Ideologen immer wieder propagiert, um die verhassten ‹Angelsachsen› mit ihrem dekadenten Liberalismus und ihrem Rechtssystem vom europäischen Kontinent zu vertreiben. Russische Vorstellungen eines solchen «alternativen Europa» der Volksdiktaturen tragen damit die dunkle Saat des späteren Hitler-Stalin-Pakts in das 21. Jahrhundert hinein.

Russland bzw. Sowjetrussland war in den 1920er Jahren schon einmal Kristallisationspunkt für eine solche randständige, radikale Form der Europakritik, die Krisen nicht zu überwinden sucht, sondern diese schürt und ausbeutet. Der Historiker Fritz Stern hat den Hintergrund dieses politischen Denkens 1961 unvergleichlich präzise in «Kulturpessimismus als politische Gefahr» dargestellt. Er beschrieb darin eine deutsche Denktradition der Weimarer Republik, in der Russland zum Sehnsuchtsort für Demokratieverächter aufstieg. Ein antidemokratisch gedachtes Europa der zwei «Kulturnationen» Russland und Deutschland wurde gegen ein Europa der Institutionen, Parlamente und Regeln in Anschlag gebracht.

«Geopolitik des Geistes»

Die zentrale Person, die diese Ideologie des Ostens in Weimar vertrat, war Arthur Moeller van den Bruck (1876–1925), der Herausgeber der roten Dostojewski-Ausgabe bei Piper und Verfasser des berüchtigten Buchs «Das dritte Reich» von 1923. In neurechten Kreisen ist auch sein Aufsatz «An Liberalismus gehen die Völker zugrunde» von 1922 sehr beliebt.

Moeller van den Bruck war ein emphatischer «Ostländer», der den Osten mit Russland gleichsetzte. Er kam aus der Kultur- und Kunstgeschichte, politisierte sich nach dem Ersten Weltkrieg, den er wie viele Nationalisten als Betrug verstand, und wurde zu einem wichtigen Vertreter der Konservativen Revolution in Deutschland. Sein ästhetisches, formbewusstes Verständnis der Moderne tendierte dazu, geschlossene politische Zukunftsszenarien zu entwerfen. Er schrieb gewissermassen aus dem preussischen Berlin über die Welt im Habitus einer «Geopolitik des Geistes» (Stern), für die er nur wenig Wirklichkeit benötigte.

Der Publizist Arthur Moeller van den Bruck, 1876–1925.

Zu Russland kam er über Dostojewski. Dieser war Moellers Vorbild für die Idee, die «ideologische Zukunft Europas in der antiliberalen Gemeinschaftskultur Russlands» (Stern) zu sehen. Russland war zu Beginn des 20. Jahrhunderts allgemein in Mode gekommen. Plötzlich gab es überall Tolstoianer und Verehrer der russischen Mystik wie etwa Rainer Maria Rilke.

Moeller sammelte Bausteine für ein Russland als imaginäre Gegenwelt zum Westen. Dazu gehörten Dostojewskis missionarischer Nationalismus, der Europa aus westlicher Dekadenz und Antichristentum erlösen sollte, die antimoderne russische Mystik oder Versatzstücke des orthodoxen Gemeinschaftsdenkens, dem sich der Einzelne zu unterwerfen hat.

Die russische Exilkultur der monarchistischen «Weissen» prägte dieses Russlandbild später mit – darunter auch einige Texte von Professor Doktor Iwan Iljin, dem deutsch-russischen Lieblingsphilosophen von Wladimir Putin, der Ende der 1920er Jahre die russische Zeitschrift «Russische Glocke» in der Augsburgerstrasse 56 am Berliner Kurfürstendamm herausgab.

Die Idee eines völkischen Europa

Während der Westen bei Moeller für «Amerikanisierung», Individualisierung und Kapitalismus stand, brachte er in seiner auf dem Volkskörper beruhenden Russlandvorstellung sogar die junge Sowjetunion und Lenins Parteidiktatur unter. Der Bolschewismus in Russland war für ihn nur ein Übergangsphänomen auf dem Weg zu einem völkischen Europa mit deutsch-russischem Zentrum. Russland und Deutschland gehörten für Moeller zu den jungen Kulturnationen, die die Zukunft bestimmen würden. Frankreich und England hingegen waren alte Nationen, ebenso wie die jungen USA wegen ihrer Parteinahme im Weltkrieg.

Für die französischen Menschenrechte, die angelsächsische Tradition der parlamentarischen Institutionen und «Checks and Balances» hatte er nur Verachtung übrig und sah sie als ein überkommenes Modell, das dem Tode geweiht war. Für Moeller van den Bruck sass trotz seinem ideologischen Abstand zum Bolschewismus der Feind im Westen und der Freund im Osten.

Eine ähnlich ausgerichtete Parteibewegung mit deutsch-russischer Grundierung entstand parallel im Nationalbolschewismus der Weimarer Republik, in dem sich kommunistische und nationalistische Kräfte vereinigten, die in der Diktatur die Zukunft und im Liberalismus als «zersetzende Kraft» den Feind sahen.

Der Nationalbolschewist Ernst Niekisch etwa versuchte, den preussischen Staat als Verbindung von deutschen und slawischen Elementen zu konzipieren. Auch Moeller schrieb zu Beginn der 1920er Jahre mehrere Aufsätze über diese mögliche Allianz. Im Juni 1921 imaginiert er in der jungkonservativen Zeitschrift «Das Gewissen» eine mögliche «Achse» zwischen Revolutionären und Konservativen gegen den individualistischen Liberalismus, der nur «durchseucht und zersetzt» und Parlamentarismus als «Schutzform» betreibe. Wenn die Linken das Nationale ernst genug nehmen könnten, würde man sich bei der Form der Diktatur schon einig werden, so sein Kalkül.

Ernst Niekisch

Thomas Mann, der die Zeitung ebenfalls las, lässt seine Figur Serenus Zeitblom im Roman «Doktor Faustus» 1947 über die 1920er Jahre erklären, dass Russland ein «Bruder im Leide» gegen die «Mächte sei, die uns den Fuss in den Nacken setzen». Thomas Mann glaubte selbst einmal an die Wahlverwandtschaft der besonderen deutsch-russischen «Menschlichkeit». In seinen «Betrachtungen eines Unpolitischen» (1918) verbindet er autoritären Russland-Kitsch mit den von Dostojewski inspirierten Thesen vom Russen als dem «menschlichsten Menschen», der schon von Natur aus christlich-kommunistisch sei und Brüderlichkeit vor Freiheit stelle. Das «patriarchale-theokratische Selbstherrschertum» wäre deswegen die geeignete russische Staatsform. Ein Gedanke, der im heutigen Russland neue Popularität erfährt.

Nationalismus und Ressentiment

Klagen über Verluste oder verlorene Traditionen gehören zur Fortschrittsverheissung der Moderne. Wenn sie zum Antrieb einer Politik des Ressentiments werden, zerstören sie freilich alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Moeller und andere deutsche Intellektuelle propagierten diese Form der revanchistischen, radikalen Antipolitik in der Zwischenkriegszeit. Man ersparte sich damit Reflexion und Fehleranalyse zur Vergangenheit.

Die Ideen dieses Dunkeldeutschlands wanderten Jahrzehnte später nach Russland. Mitte der neunziger Jahre und vor allem mit Putins Amtsantritt begann die russische Politik mit den Mitteln von Nationalismus und Ressentiment zu agieren. Radikale Kräfte in der Russischen Föderation interpretierten die Auflösung der Sowjetunion 1991 als Betrug des Westens und Demütigung. Übersetzungen von Moeller van den Brucks «Das dritte Reich» erschienen in den nuller Jahren fast parallel zu Michail Jurjews Machwerk «Das Dritte Imperium» (2006), das deutlich Anklänge an nationalbolschewistischen Ideen zeigt und in dem Berlin als westliche Hauptstadt dieses Imperiums firmiert.

Eduard Limonow 

Literatur erspürt und beschreibt oft zuerst die Empfänglichkeit von Gesellschaften für bestimmte Ideen. Auch der Schriftsteller Eduard Limonow, den viele im Westen als schrägen Punk-Autor und avantgardistisches Enfant terrible betrachteten, präfiguierte in seinen Romanen und in seinem Leben viele Entgleisungen der heutigen Propagandisten im russischen Fernsehen sowie die Gewaltexzesse der russischen Militärführung, auch wenn er sich in den letzten Jahren als Oppositioneller gab. Nach Weimarer Vorbild schuf er 1992 in der Russischen Föderation prominent die national-bolschewistische Partei samt rotbrauner Insignien, in welcher der Dichter und Militarist Sachar Prilepin und der Ideologe Alexander Dugin Mitglieder wurden.

Das Verbot der Partei richtete sich eher gegen deren Unkontrollierbarkeit als gegen die Ideen selbst. Nur die Ukrainer liessen sich von diesem in Charkiw aufgewachsenen Propagandisten des Grossrussentums nie in die Irre führen und nahmen seine antiukrainischen Aktivitäten und imperialistischen Drohungen ernst. Weil Limonow der Ukraine das Existenzrecht absprach, war er ebenda bis zu seinem Tod 2020 auch aufgrund seiner militärischen Aktivitäten verachtet. Derweil machte man im Westen Bücher und Filme über ihn, als sei er ein Pop-Star, der ein paar Kunsttabus bricht.

Das deutsch-russische Unternehmen des Nationalbolschewismus scheitert an der brutalen Realität des «Dritten Reichs», das der konservative Revolutionär Moeller, der 1925 Suizid begangen hatte, selbst nicht mehr erlebte. Verantwortung für die Wirkung dieser Ideen tragen er und seine Mitstreiter dennoch. Fritz Stern fragt deswegen am Ende seines Buches zu Recht: «Kann man der Vernunft abschwören, die Gewalt verherrlichen, das Zeitalter des unumschränkten Machthabers prophezeien, alle bestehenden Institutionen verdammen, ohne damit den Triumph der Verantwortungslosigkeit vorzubereiten?»


Annette Werberger lehrt osteuropäische Literaturen an der Europa-Universität Viadrina und forscht im BMBF-Forschungskolleg «Europäische Zeiten».


Nota. - Vor acht Jahren schrieb ich, dass sich Putin zum Gefangenen der großrussischen Chauvinisten gemacht habe und Mühe hätte, sie wieder loszuwerden. Das muss er gelesen haben, jedenfalls hat er aus seiner Not eine Tugend gemacht und sich selbst an ihre Spitze gesetzt. Die neuentstandene Gattung der Kremlastrologen hatte schon lange geunkt, er habe dort seine neue ideologische Heimat gefunden. Ob so oder so, wenn er sich nicht vollends die Hände binden und als bloßer Korken auf dem feudal-bürokratischen Sumpf-loch treiben wollte, musste er sich ein eigenes Profil geben, mit dem er Leute mobilmachen konnte, die bereit wären, gegebenenfalls ihr Leben für ihn einzusetzen - die aber mit einem kleinen Pöstchen nicht zufriedenzustellen sein würden, sondern ganz große Posten von ihm erwarteten.

Vielleicht war die Annexion der Krim ja wirklich nur ein leichtfertiges Abenteuer gewesen, als sein Ansehen im Keller war und die Sache weltpolitisch wenig riskant erschien. Doch wer A sagt, muss auch B sagen und sein "Plan" wäre ihm pragmatisch zugewachsen, und mit weniger als einem eurasischen Großreich kann er sich nicht mehr begnügen. Will sagen, mit der Ukraine jedenfalls nicht. 

Damit wird er nie durchkommen, das glaub ich auch. Hitler ist schließlich auch nicht durchgekommen, aber heute weiß jeder: Spätestens bei der Resttschechei hätte man ihn stoppen müssen.

PS. Dass sich übrigens China am Ussuri-Fluss, 'den sie Wussuli nennen', dauerhaft aufhalten lassen will, kann ich mir kaum vorstellen.
JE


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