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Donnerstag, 31. Oktober 2024

Die Landkarte in meinem Kopf.

Illustrative Darstellung eines Labyrinths in Gehirnform 
aus spektrum.de, 30.10.2024         Das Gehirn erstellt Karten der Umgebung, anhand derer wir uns orientieren. So findet man auch dann den Weg, wenn man die genaue Abfolge der Abbiegungen nicht kennt.             zu Philosophierungen, zu ... Realien;

Wie das Gehirn Gedanken und Erinnerungen codiert
Orientierung: »Der innere Kompass dient als Blaupause für höhere Kognition«
Wie codiert unser Gehirn Gedanken und Erinnerungen? Neurowissenschaftler Christian Doeller weiß: Es nutzt dafür ein an anderer Stelle bewährtes System. Jenes zur räumlichen Orientierung.

Christian DoellerChristian Doeller | Der Psychologe und Neurowissenschaftler promovierte über die neurowissenschaftlichen Grundlagen des Lernens und forschte anschließend am University College London mit John O'Keefe am Ortszellsystem von Nagetieren. 2010 wurde er zum Associate Professor am Donders Institute for Brain, Cognition and Behaviour im niederländischen Nimwegen berufen. Seit 2016 ist er Professor für Neurowissenschaften am Kalvi Institute for Systems Neuroscience in Trondheim, das von den Nobelpreisträgern May-Britt und Edvard Moser gegründet wurde. 2018 wurde Doeller zudem Direktor der Abteilung für Psychologie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und seit 2019 ist er Professor für Psychologie an der Universität Leipzig. 2023 wurde er zum Vizepräsidenten der Max-Planck-Gesellschaft ernannt.

Welchen Zweck erfüllt dieses Gitter?

Als Ergänzung zu den Ortszellen, die ganz spezielle Stellen im Raum codieren, repräsentieren die Gitterzellen eine Art Metrik der Umgebung. Da verschiedene Gitterzellen, versetzt zueinander, unterschiedliche, sich teils überlappende hexagonale Muster erzeugen, kann das Gehirn mit Hilfe von zehntausenden Neuronen dieser Art Distanzen messen und die eigene Orientierung im Raum feststellen.

Für die Entdeckung der beiden Zelltypen gab es vor zehn Jahren, 2014, den Nobelpreis. Das norwegische Ehepaar May-Britt und Edvard Moser, das 2005 die Gitterzellen fand, erhielt ihn gemeinsam mit John O'Keefe vom University College London. Sie haben mit allen dreien zusammengearbeitet.

Ja. Ab 2004 habe ich meinen Postdoc am University College in London gemacht. 2016 bin ich dann zum Kalvi Institute for Systems Neuroscience im norwegischen Trondheim gekommen und dort zum Professor berufen worden. Die Mosers hatten das Institut 20 Jahre zuvor gegründet.

Genügt die Arbeit der Orts- und Gitterzellen, um sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden?

Es gibt noch eine ganze Menge anderer räumlich sensitiver Zellen im Gehirn, die uns beim Navigieren unterstützen. Die Kompasszellen, auf Englisch »head direction cells«, etwa zeigen die Richtung an, in die der Kopf gedreht ist – und damit die Laufrichtung. Die Geschwindigkeitszellen codieren die Laufgeschwindigkeit und die Grenzzellen die Distanz zu einer Wand. Die »object vector cells« wiederum geben an, in welcher räumlichen Position wir uns relativ zu Objekten in unserer Umgebung befinden. Alle zusammen bilden das Navigationssystem des Gehirns, das eine interne kognitive Karte erzeugt.

Die Zelltypen hat man allesamt bei Ratten oder Mäusen, also Nagetieren, entdeckt. Gibt es sie auch beim Menschen? Schließlich kann man hier in der Regel nicht so genau nachsehen.

Das stimmt. Bei Mäusen und Ratten kann man mit Elektroden die Aktivität einzelner Zellen erfassen. Und bei anderen Säugetieren wie Fledermäusen und Rhesusaffen wurden mit diesem Verfahren ebenfalls Zellen des Navigationssystems gefunden. Solche Einzelzellableitungen sind bei Menschen aber in der Regel nicht möglich, außer in seltenen Ausnahmefällen: wenn man etwa bei Epilepsiepatienten versucht, mit implantierten Elektroden den Herd der Krampfanfälle zu lokalisieren. Auf diese Weise haben Fachleute tatsächlich Ortszellen im menschlichen Hippocampus entdeckt. Wir arbeiten dagegen nicht invasiv, das heißt mit funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) oder Magnetoenzephalografie (MEG). Und auch damit haben wir Hinweise auf ein vergleichbares Navigationssystem beim Menschen gefunden.

TV-Tipp

»SCOBEL – Wie wir uns orientieren«

Christian Doeller im Gespräch mit Gert Scobel und weiteren Experten. Die Sendung entstand in redaktioneller Zusammenarbeit mit »Gehirn&Geist« und dem NeuroForum Frankfurt 2024 der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung.

Auf 3sat am 14.11.2024 um 21 Uhr.

Solche nicht invasiven Messmethoden haben ja meist eine sehr geringe räumliche Auflösung. Wie können sie dennoch Erkenntnisse zur Arbeit einzelner Neurone liefern?

Die fMRT erfasst die neuronale Aktivität tatsächlich nur indirekt über die Veränderung des Sauerstoffgehalts des Bluts. Man nennt das »hämodynamisches Signal«. Die heute gängigen Tomografen bilden Volumenelemente mit einer Kantenlänge zwischen einem und drei Millimetern ab. Selbst bei der höchstmöglichen Auflösung betrachtet man daher immer die mittlere Aktivität von zehntausenden Zellen. Möchte man nun neuronale Codes messen, was in der kognitiven Neurowissenschaft gang und gäbe ist, muss man mit Modellen arbeiten. Wir überlegen uns, wie die Aktivität einer ganzen Population von Nervenzellen aussehen könnte und wie sich das im hämodynamischen Signal widerspiegelt: Was zeigt der Kernspintomograf an, wenn 10 000 Zellen gleichzeitig feuern?

»Die funktionelle Magnetresonanztomografie ist die Methode der Wahl für unsere Forschung«

Wahrscheinlich passiert das eher selten, dass alle 10 000 Zellen in einem Kubikmillimeter Hirngewebe gleichzeitig feuern, oder?

Genau das ist die Schwierigkeit: wenn die eine Zelle etwas anderes macht als die benachbarte. Dann sehen wir womöglich gar keinen Effekt. Die Gitterzellen bieten aber den Vorteil, dass sie ein regelmäßiges Feuerverhalten aufweisen, also an vorhersehbaren Stellen im Raum aktiv werden. Über alle Neurone hinweg ist die Orientierung des Gittermusters konstant, und das können wir für die Analyse nutzen. Trotz aller Herausforderungen ist die funktionelle Magnetresonanztomografie die Methode der Wahl für unsere Forschung, sozusagen unser Arbeitspferd.

Es gibt zunehmend Hinweise darauf, dass das Navigationssystem im Gehirn noch ganz andere Aufgaben hat, als uns von A nach B zu führen. Welche?

Meine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissen-schaften in Leipzig und andere Teams gehen davon aus, dass die Hippocampus-formation das Orts- und Gitterzellsystem auch für völlig andere kognitive Bereiche einsetzt.* Ein Beispiel ist das Konzeptlernen. Wenn wir Dinge anhand gemeinsa-mer Eigenschaften gedanklich in Klassen oder Konzepte zusammenfassen, nutzt das Gehirn dafür eine räumliche Codierung. Wir sprechen auch von »kognitiven Räumen«. So stellt jede Eigenschaft eine Dimension dar, entlang derer sich ein kog-nitiver Raum aufspannt. Objekte von ähnlicher Beschaffenheit liegen in dieser men-talen Karte nah beieinander und solche, die sich stark unterscheiden, weit voneinan-der entfernt.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen wir mal Autos. Unser Wissen darüber ist multidimensional, das heißt, man kann Fahrzeuge entlang ganz verschiedener Dimensionen anordnen: Gewicht, Motorstärke, Anzahl an Sitzen, Preis und so weiter. Ein Familienvater achtet beim Kauf vielleicht besonders auf den Preis und die Anzahl der Plätze. Im kognitiven Raum ist jede Merkmalskombination an einem bestimmten Ort positioniert. Ein günstiges Auto mit wenigen Sitzen ist in diesem Raum weit entfernt von einem teuren Van. Das Konzeptlernen ist aber nur eines von vielen Beispielen dafür, was die Orts- und Gitterzellen alles leisten. Wir nehmen an, dass mit ihrer Hilfe jegliche Informationen im Gehirn repräsentiert werden, die man entlang von Dimensionen darstellen kann. Der innere Kompass dient quasi als Blaupause für höhere kognitive Funktionen.

»Studien haben gezeigt, dass das Gehirn soziale Beziehungen ebenfalls in kognitiven Karten codiert«

Studien zufolge sollen sogar soziale Beziehungen im Gehirn räumlich codiert sein. Wie muss man sich das vorstellen?

Genau wie Fahrzeuge kann man auch seine Mitmenschen je nach Eigenschaft und sozialem Verhältnis entlang von Dimensionen anordnen. Bei Kollegen sind es beispielsweise die hierarchische Position im Unternehmen und die Nähe zum eigenen Tätigkeitsbereich. Bei Freunden achten wir vielleicht mehr darauf, wie eng das Verhältnis ist und wie sehr sich die Interessen ähneln. Studien haben gezeigt, dass das Gehirn solche sozialen Beziehungen ebenfalls in kognitiven Karten codiert.

Was ist so vorteilhaft an diesem Organisationsprinzip, dass es sich im Lauf der Evolution durchgesetzt hat?

Das Orts- und Gitterzellsystem hat den entscheidenden Vorteil, dass es komplexe, multidimensionale Informationen – also solche mit ganz vielen verschiedenen Eigenschaften – in Räumen mit wenigen Dimensionen repräsentiert. So kann das Gehirn sehr viele Elemente und deren Verhältnis zueinander abspeichern. Zugleich ist das System sehr dynamisch. Ursprünglich diente es dazu, dass sich Tiere in ihrer Umgebung zurechtfinden. Und hierbei ist Flexibilität natürlich entscheidend. Die Ortszellen etwa repräsentieren einen ganz spezifischen Ort in einer bestimmten Umgebung. Zelle A feuert beispielsweise an der Tür eines Raums und Zelle B am Fenster. Gehen wir nun aber in einen anderen Raum, bildet sich im Gehirn sofort eine neue Karte. Jetzt ist Zelle A plötzlich in der Zimmermitte aktiv und Zelle B womöglich gar nicht mehr. Dafür schaltet sich hier eine Zelle C hinzu, die wiederum einen anderen Ort in dem Raum codiert. Eine derartige Anpassungsfähigkeit ist auch nützlich für höhere kognitive Aufgaben, die mit räumlicher Navigation nichts zu tun haben, etwa das Konzeptlernen. Außerdem ermöglicht es dieses Organisationsprinzip, Gelerntes zu generalisieren, also auf neue Situationen zu übertragen, was ebenfalls entscheidend fürs Überleben ist.

Wahrnehmung – Zusammenspiel von Sinnen und Gehirn

Wie funktioniert das?

Für die Generalisierung von Wissen sind die Ortszellen bestens geeignet, weil sie strukturelle, ja beinahe semantische Informationen codieren. Ich gehe hier in Leipzig fast immer in denselben Supermarkt. Wenn ich aber mal in einem anderen bin, weiß ich trotzdem, wo ich welche Produkte finde. Warum? Weil fast alle Supermärkte nach dem gleichen Prinzip aufgebaut sind: Das Obst befindet sich in der Regel kurz hinter dem Eingang, der Käse im Kühlregal im hinteren Bereich des Ladens und die Kaugummis an der Kasse. Diese strukturellen Informationen sind in meinem Gitterzellsystem gespeichert. Und das gilt auch für nicht räumliches Wissen: Wenn ich mich beispielsweise mit Verwandtschaftsverhältnissen auskenne, brauche ich nicht viele Informationen über einen Menschen, um zu folgern, dass seine Mutter gleichzeitig die Großmutter seiner Nichte ist.

Was bedeutet das für die Art und Weise, wie wir lernen? Viele sind davon überzeugt, dass wir uns Lernstoff am besten anhand von Bildern und Fotos einprägen können. Sind Diagramme und Zeitleisten womöglich besser geeignet, weil sie Beziehungen in Raum und Zeit veranschaulichen, ähnlich wie unser Gehirn?

Ich denke tatsächlich, dass eine räumliche Anordnung von Lerninhalten für dieses interne Kartensystem besonders gut geeignet ist. Manchmal macht man das ja sogar intuitiv: Wir arrangieren Vokabeln räumlich nach ihrer Bedeutung oder zeichnen komplexe Zusammenhänge grafisch auf, um Beziehungen zu erkennen.

»Das Gehirn bietet meist mehrere parallele Verarbeitungswege, um das Gleiche zu erreichen«

Manche Menschen können sich besser im Raum orientieren, andere schlechter. Wenn wir das innere Navigationssystem auch für höhere kognitive Aufgaben nutzen, drängt sich die Frage auf, ob Personen mit gutem Orientierungssinn entsprechend leichter neue Konzepte lernen oder soziale Gefüge durchschauen.

Leider ist die Studienlage dazu noch nicht so klar. Aber ich nehme an, dass Sie Recht haben: Je effizienter das Gitterzellsystem allgemein strukturelle Informationen repräsentiert, desto besser sollte ich auch in der Lage sein, dieses Wissen zu übertragen – ob beim Navigieren durch eine neue Umgebung oder beim Erschließen von Verwandtschaftsverhältnissen. Wie alles in der Neurowissenschaft ist das natürlich sehr kompliziert. Denn es ist selten nur ein einzelnes System für eine bestimmte Funktion zuständig; das Gehirn bietet meist mehrere parallele Verarbeitungswege, um das Gleiche zu erreichen. Im Fall der Navigation gibt es zum Beispiel noch weitere neuronale Strukturen jenseits des Hippocampus, die uns von A nach B kommen lassen.

Ganz ohne kognitive Karte?

Ja. Man kann einerseits den Weg vom Parkplatz zum Museum finden, indem man eine kognitive Karte der Stadt aufbaut. Man kann sich aber auch einfach merken: zweimal rechts, dreimal links, dann bin ich am Ziel. Dafür braucht man keine Orts- und Gitterzellen. Sobald aber plötzlich eine Baustelle den Weg versperrt und ich eine Umleitung finden muss, bin ich mit der Strategie, mir die Abbiegungen zu merken, aufgeschmissen. Dann brauche ich wieder eine mentale Karte.

Aktuell wird sehr viel Aufwand in die Entwicklung künstlicher Intelligenz gesteckt. Man orientiert sich dabei gerne an der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns. Kann das Wissen, dass es Informationen in kognitiven Räumen abspeichert, hier helfen?

Vielfach haben sich KI-Entwickler vom menschlichen Gehirn inspirieren lassen. Dennoch gibt es einige Bereiche der Kognition, die nicht so einfach zu simulieren sind. Vor allem jene neuronalen Prozesse, die den höchsten kognitiven Funktionen zu Grunde liegen, können der KI-Forschung aber als Vorbild dienen – etwa das Gitterzellsystem, wenn es darum geht, Gelerntes zu generalisieren und auf neue Situationen zu übertragen. Man darf allerdings nicht vergessen, dass es sich hier um technische Wissenschaften handelt. Wenn die beste künstliche Intelligenz biologisch unplausibel operiert, dann werden die großen Unternehmen diesen Weg sicherlich trotzdem weiterverfolgen.

Der Sitz der Ortszellen ist auch jener, der von der Alzheimerdemenz als Erstes betroffen ist. Könnte man die Erkenntnisse zum inneren Navigationssystem nutzen, um die Krankheit früher zu diagnostizieren?

Tatsächlich versuchen wir das. Es gibt Hinweise aus dem Tiermodell, dass die Orts- und Gitterzellen bei Mäusen mit Morbus Alzheimer weniger effizient arbeiten. Ortszellen codieren den Raum sehr präzise, das heißt, ein Neuron feuert nur innerhalb eines Zehn-Zentimeter-Bereichs. Bei den Alzheimermäusen ist diese Grenze unschärfer. Das ist ein bisschen so, wie wenn eine kurzsichtige Person die Brille abnimmt. Das Gleiche gilt für die Gitterzellen. Unsere Arbeitsgruppe hat zudem menschliche Probanden untersucht, die laut Genanalysen ein erhöhtes Risiko für Alzheimer aufweisen. Bei ihnen fiel das Signal der Gitterzellen allgemein schwächer aus – zumindest deuteten indirekte MRT-Messungen darauf hin. Andere Teams untersuchen gerade das Gitterzellsystem von Patienten, die bereits an Alzheimer erkrankt sind. Vielleicht handelt es sich hier um einen frühen Biomarker, mit dem man die Krankheit zeitig erkennen kann. Die Forschung dazu ist in vollem Gange, wir wissen also noch nicht, ob das funktioniert.

Wird das Orts- und Gitterzellsystem mit dem Alter generell weniger leistungsfähig?

Das scheint in gewissem Maße so zu sein. Allgemein wird man mit dem Alter etwas vergesslicher und findet weniger gut den Weg von A nach B. Zumindest gibt es eine leichte Verlagerung im Gehirn: Man nutzt offenbar für die Orientierung zunehmend weniger das Hippocampussystem, dafür aber vermehrt Strategien, für die andere Hirnbereiche zuständig sind. Ob das auch für die höhere Kognition gilt, ist aber noch unklar. 

 

*Nota. - Der hermeneutisch orientierte Philosoph Paul Gf. Yorck von Wartenburg hat den Begriff der Bewusstseinsstellung zur Unterscheidung der Kulturepochen eingeführt. Er stellt namentlich die "okulare" Bewusstseins-stellung der Inder und Griechen der "Verräumlichung" des Bewusstseins in der europäischen Neuzeit gegenüber, für die er Descartes verantwortlich macht; dazwischen läge das "christlich-antike Amalgam" des katholische Mittelalters. Wie weit seine Epochen-Einteilung trägt, ist ein Thema für sich. Seine Phänomenologie der modernen Räumlichkeit ist dagegen ganz plau-sibel. 

Die Frage wäre nun: Würden Christian Doellers Untersuchungen zu kog-nitiven Räumen dieselben Ergebnisse zeitigen, wenn er sie in außereuropä-ischen und vormodernen Kulturen durchführte? Nach Gf. Yorck sollten sie das eigentlich nicht.
JE

 

Sonntag, 20. Oktober 2024

Was ist ein philosophischer Text?

Ein bunt gestaltetes Fresko zeigt etwa zwei dutzend Personen in einem tempelartigen Gebäude der Antike. In der Mitte im Hintergrund ist am Ende eines Ganges blauer Himmel zu sehen. Im Vordergrund davor bilden zwei Personen in antiken Gewändern das Zentrum der Szene. Beide tragen je ein voluminöses Buch in der Hand. aus spektrum.de, 15. 10. 2024                              Platon und Aristoteles stehen im Zentrum von Raffaels 1510/11 ent-standenem Fresko »Die Schule von Athen« im Vatikan. Platon, in eine rote Toga gekleidet, hält seinen »Timaios«-Dialog unterm Arm, Aristoteles seine als Abhandlung verfasste »Nikomachische Ethik« in der Hand.                                 zu Philosophierungen

Das Wie der Philosophie

Abhandlung, Essay, Aphorismus? Wie man philosophisch argumentiert, ist nicht nur Geschmackssache. Dahinter steckt eine pikante Frage an die Philosophie, erklärt unser Kolumnist.


von Matthias Warkus

Was ist Philosophie? Dies ist eine der ältesten philosophischen Fragen – und bis heute ist sie heiß diskutiert. Einfacher beantworten lässt sich, woraus Philosophie sozusagen materiell besteht, was ihr Medium ist. Antwort: Texte, Literatur, Bücher.

Lässt man nun vor dem geistigen Auge ein philosophisches Buch erscheinen, wird es tendenziell eher dick als dünn sein, und auf jeden Fall schwierig zu lesen. Eine handelsübliche heutige Taschenbuchausgabe der 1781 erschienenen »Kritik der rei-nen Vernunft« von Immanuel Kant beispielsweise bringt es auf 995 Seiten. Bücher wie Georg Wilhelm Friedrich Hegels »Phänomenologie des Geistes« (1807) erfreu-en sich des Rufs, dass Seminargruppen zu Semesterbeginn vorne mit der Lektüre anfangen und sich bei Semesterende immer noch mit den ersten paar Seiten be-schäftigen. Vom formalen Aufbau her sind solche philosophischen Monografien in der Regel Abhandlungen, also Sachtexte, die sich mit einem Thema auseinanderset-zen und dabei in relativ großen argumentativen Bögen versuchen, bestimmte Be-hauptungen zu belegen oder zu entkräften.

Es gibt aber erstaunlich viel philosophische Literatur, die durchaus anders funktio-niert. Zuallererst findet gerade seit dem 20. Jahrhundert außerordentlich viel Philo-sophie – ganz genauso wie andere Wissenschaft – im Medium von Aufsätzen statt, die in Zeitschriften oder Sammelbänden erscheinen und typischerweise um die 20 Seiten lang sind. Auch solche Aufsätze sind jedoch strukturell normalerweise Abhandlungen. Und sie sind nicht notwendigerweise einfacher zu lesen als Mono-grafien. Denn oft sind die sehr voraussetzungsreich – wie bei Forschungsbeiträgen nicht anders zu erwarten.

Nicht jeder philosophische Text muss aber eine Abhandlung sein. Die Werke Platons beispielsweise sind mit wenigen Ausnahmen Dialoge, in denen verschie-dene Figuren auftreten, deren Meinungen aufeinanderprallen oder die von Sokrates argumentativ aufs Glatteis geführt werden. Auch hier geht es begreiflicherweise um Argumente. Manchmal hat das Ganze freilich die Tendenz, in die Abhandlung ab-zudriften, wenn Sokrates ins Dozieren gerät: Es ist eine beliebte Kritik an den so-kratischen Dialogen – und gut zum Parodieren geeignet –, dass über weite Strecken gar kein wirklicher Dialog stattfindet, sondern die Gesprächspartner nur ab und zu verständig bejahen, was der schlaue Sokrates von sich gibt. 

 

 

Aber es gibt noch ganz andere Texte. Wer nur ein bisschen literaturwissenschaftlich informiert ist, kommt sicher selbst darauf: richtig – die Essays! Neben der »trocke-nen«, mehr oder minder langen, systematischen Abhandlung gibt es, seit der franzö-sische Humanist Michel de Montaigne im 16. Jahrhundert das Genre etablierte, auch den eher subjektiven, assoziativeren und mehr auf eleganten Stil und Lesever-gnügen hin konzipierten Essay. Das Problem mit dieser Gattung ist, dass man, wenn man mit Literaturwissenschaftlern redet, schnell erfährt, dass es keinerlei Definition von Essay gibt, auf die sich alle einigen können. An der Universität gibt es die Tendenz dazu, als Essays kurze Arbeiten zu bezeichnen, die eine Frage stellen und auf wenigen Seiten beantworten, ohne sich umfangreich auf Literatur oder Quellen zu beziehen. Wenn man einmal einen Essay von Montaigne aufgeschlagen hat, sieht man schnell, dass der damit nicht viel zu tun hat. Noch nicht einmal kurz müssen die Dinger sein – der »Langessay« mit gerne mal über 200 Seiten ist ein etabliertes Buchgenre.

Philosophie muss nicht dröge daherkommen

Wenigstens haben wir Philosophen etabliert, dass Philosophie nicht unbedingt nur dröge abhandelnd daherkommen muss. Manche zum Kanon der philosophischen Literatur zählenden Werke haben geradezu Roman- oder Eposcharakter, etwa Søren Kierkegaards »Entweder – Oder« (1843) oder Friedrich Nietzsches »Also sprach Zarathustra« (1883–85 in vier Teilen erschienen).

Geht man noch weiter weg vom Argumentativ-Wissenschaftlichen und gegebe-nenfalls auch noch weiter in die Kürze, landet man im Extremfall beim Aphoris-mus. Es gibt eine Reihe wirkungsmächtiger philosophischer Miniaturensammlun-gen, etwa das 1647 erschienene »Handorakel« des Spaniers Baltasar Gracián oder die ungeheuer erfolgreichen »Minima Moralia« von Theodor W. Adorno von 1951. In einem einzelnen Satz oder einem extrem kurzen Text lässt sich zwar kein Argu-ment mehr entfalten, aber dafür umso mehr ein Denk- oder Diskussionsanstoß vorbringen.

Dass Philosophie nicht nur im Medium der Abhandlung, sondern auch in anderen Textformen stattfinden kann (und am Ende sogar über das geschriebene Wort hinaus etwa auf der Bühne oder im Film), birgt eine Herausforderung in sich: Wie passt es zur Wissenschaftlichkeit der Philosophie, dass sie hier und da literarisch, aphoristisch, subjektiv, assoziativ wird? Manche gelangen konsequent zu dem Schluss, dass Literatur zumindest in gewissen Hinsichten philosophisch mehr hergäbe als die Philosophie selbst. Das sehe ich nun etwas skeptisch. Aber es scheint mir recht klar, dass die Diskussion darüber, in welchen Formen sie legi-timerweise stattfinden kann und soll, genauso Teil der Philosophie ist wie die Diskussionen darüber, was sie genau ist und was das alles mit Wissenschaftlichkeit zu tun hat

 

Nota. - Darin hat er allemal Recht: dass in der Philophie an der Form ihres Vortrags nur wenig gelegen ist. Denn dabei geht es nicht um die Sache selber, sondern um Verständlichkeit. Und dabei geht es außer dem, der verstanden werden will, auch um den, der verstehen soll - und vielleicht gar nicht will. Wittgenstein vermutete, dass Philosophie in einem engeren Sinn eigentlich nur gedichtet werden kann; aber wer wollte sich darauf schon einlassen?

Insofern ist obigem Text nicht viel hinzuzufügen - nämlich nicht im Allgemeinen.
JE 


Mittwoch, 16. Oktober 2024

Krise des Westens - ein Problem der Psychostruktur...

Von einem «Ende der Geschichte» kann keine Rede sein. «Der runde Turm» von Giovanni Battista Piranesi.Piranesi, Der runde Turm
aus nzz.ch, 15. 10. 2024                                                                                              zu öffentliche Angelegenheiten

Die westliche Wert- und Weltordnung erodiert auf vielen Ebenen – die Zeit zum Gegensteuern läuft ab
Der Westen befindet sich in einer intellektuellen und geistigen Krise: Wissen wird nicht mehr verinnerlicht, Wahrheiten werden erfühlt, Selbstwiderspruch stört nicht mehr, Diskursverweigerung nimmt zu. Es sieht nicht gut aus für den Fortbestand von Freiheit und Demokratie.
 
von Dietmar Hansch
 
Der Fortschritt der Menschheitsgeschichte basiert auf dem allmählichen Erstarken der Rationalität. In der Moderne gewann der Geist der Vernunft die Oberhand über die archaischen Instinkte, die unser Verhalten im Dienste von Art- und Machterhal-tung seit Urzeiten prägten. Dank der Aufklärung und mit den Mitteln von Revolu-tion und Reform gelang es den europäischen Gesellschaften zunehmend, Eigen- und Gruppeninteressen den Prinzipien von Moral und Gesetz zu unterstellen.

Die Epochenwende von 1989 brachte mit dem Ende des real existierenden Sozia-lismus einen Triumph des Freiheits- und Gerechtigkeitsgedankens, was manche veranlasste, vom «Ende der Geschichte» zu sprechen. Danach schien das Prinzip der wissenschaftsbasierten, rechtsstaatlich verfassten liberalen Demokratie weltweit konkurrenzlos gesiegt zu haben.

Flexible Zusammenschlüsse

Während der vormoderne Mensch fest in die Netzwerke von Clans und Stämmen integriert war und sein Verhalten streng nach deren Erfordernissen ausrichtete, de-finiert sich der moderne Mensch als Individuum, das seine persönlichen Fähigkeiten zu entwickeln trachtet, einen analytischen Geist ausbildet und sein Verhalten ratio-nalen Prinzipien unterwirft. Diese modernen Individuen lösen sich in der Neuzeit aus den starren, auf genetischer Verwandtschaft basierenden Sozialstrukturen, wer-den mobil und bilden zunehmend Institutionen durch flexiblen und freiwilligen Zusammenschluss nach den Erfordernissen des Geistes, in Form von Städten, Zünften, Universitäten, Unternehmen, modernen Staaten.

Dieser Prozess wurde entscheidend gefördert durch die Ehe- und Familienpolitik der katholischen Kirche: Verbot von Viel- und Verwandtenehe, Förderung der mo-nogamen Kernfamilie mit entsprechenden Erbschafts- und flexiblen Wohnsitznor-men, Förderung einer geistig-religiös begründeten Identität. Ebenso bedeutsam war die Förderung von Alphabetisierung und allgemeiner Lesekultur durch den Prote-stantismus: Jeder Christ war angehalten, die Bibel selbst zu lesen.

All dies und der langsam in Gang kommende technologische Fortschritt traten in ein Verhältnis wechselseitiger Verstärkung – mit tiefgreifenden Konsequenzen für Gehirnfunktion und Psychologie. Selbstdisziplin und Arbeitsethik verbesserten sich. Die Regeln von Logik und Wissenschaftlichkeit wurden erkannt und gelernt.

Es gelang zunehmend, den Denkraum von ausserrationalen Einflüssen wie Instink-ten und Emotionen abzuschirmen. Durch Wissensaneignung entstanden umfassen-de innere Modelle, welche die äussere Lebenswelt in immer mehr Facetten abbil-deten und komplexe Abwägungsentscheidungen in Bezug auf das Gesellschafts-ganze ermöglichten. Theoretische und diskursive Kompetenz entwickelten sich: Dem entwuchs das Bewusstsein, dass der Einzelne perspektivisch beschränkt ist und die Welt immer nur in unvollständigen mentalen Modellen zu erfassen vermag, die niemals ein absolut wahres Abbild der gesamten Realität liefern.

So wurde es möglich, sich in den anderen hineinzuversetzen, um im gewaltfreien Diskurs kreativ mit Meinungen umzugehen und sachlichen Erkenntnisfortschritt zu erzielen.

In dieser Entwicklung kam immer mehr zum Tragen, was die Psychologie als Kohä-renzgefühl bezeichnet. Menschen geniessen kohärente Abläufe desto mehr, je kom-plexer und stimmiger sie geraten. Finden lässt sich das beispielsweise im Erleben einer Gruppe, die im Gleichtakt und unter pulsierendem Licht zu Musik tanzt. Das gilt auch im Geistigen: Philosophen geniessen die Eleganz ihrer Gedankenfiguren, Physiker erleben ihre Theorien als schön. Solch subjektive Kohärenzorientierung hat sich oft als guter intuitiver Wegweiser in Richtung objektiver Wahrheit erwiesen.

Im entwickelten Geist entsteht so eine intrinsische Motivation, die eigene Kohärenz immer weiter zu steigern, Unverbundenes zu verbinden und Widersprüche auszu-schalten. Kognitive Dissonanzen dagegen sind schwer auszuhalten. Von einem Sinnzusammenhang getragen zu sein, füllt den Menschen aus, macht ihn glücklich, ja sogar gesund.

Zeitalter der Unaufmerksamkeit

Die Pflege dieses Geistes hat nun zwei ganz zentrale psychostrukturelle Voraus-setzungen, die mit Mühe und Anstrengung verbunden sind. Es muss in grossem Umfang Wissen eingelernt und verinnerlicht werden. Weiter müssen die eingelern-ten Wissensteile im Inneren angepasst und kohärent integriert werden, was oft eigenkreative Ergänzungen erfordert.

Diese mühevolle und langwierige innere Arbeit kann nur gelingen unter der Bedin-gung existenzieller Abgesichertheit, der Verfügbarkeit von Zeit und der Pflege von Konzentration. Solches zu garantieren, ist die Aufgabe von Lehrkräften und Bil-dungseinrichtungen auf allen Stufen.

Allerdings ist es seit dem Siegeszug der Massen- und Konsumkultur, vor allem aber seit dem Aufkommen des Internets um diese Bedingungen nicht mehr zum Besten bestellt. Die Explosion digitaler Inhalte aller Art führt zu einer dramatischen Ver-knappung der Ressource Aufmerksamkeit. Klicks bedeuten im Cyberspace Geld, und diese werden durch Überreizung, Zuspitzung und Emotionalisierung generiert, was zu einem Tsunami von Ablenkung führt. Bewusst werden niedere biologische Instinkte angesprochen, was Kinder und Jugendliche in die Tiktok-Sucht treibt. Auf der Strecke bleiben die Seele und der Geist.

Doch auch wer sich bemüht, seriös mit dem Internet umzugehen, begibt sich in Gefahr: Die äussere Allverfügbarkeit des Wissens untergräbt die Lernmotivation, immer weniger Wissen wird eingelernt und verinnerlicht, Hektik und Ablenkung tun das ihre, um die innere Kohärenzbildungsarbeit zu behindern.

Wohlstandsverwöhnung schlägt Anstrengungsbereitschaft. Die zunehmend fehl-ende gesamthafte innere Repräsentation der Welt führt zu thematischen Veren-gungen und zur Unfähigkeit, komplexe Abwägungen in Graustufen zu treffen. Beides fördert die Neigung zum weltanschaulichen Extremismus.

Die Folgen haben sich schleichend in den letzten zwanzig Jahren entwickelt, sie sind mittlerweile dramatisch, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen: Auf-merksamkeitsspanne, Konzentrationsfähigkeit und Selbstbeherrschung nehmen ab. Das Verständnis komplexer Texte sinkt, Jüngeren geht sogar die Grundfähigkeit für Lesen, Rechnen und Schreiben ab. Psychische Störungen nehmen seit längerem stark zu.

In den Geisteswissenschaften siegt zusehends Ideologie über Wissenschaft, Schwarz-Weiss-Denken hält Einzug, was einen Rückfall in den vormodernen Geist darstellt. Die Verabsolutierung von Opfer- bzw. Tätergruppen etwa bedeutet eine Abkehr vom universalistischen Individualismus und die Hinwendung zu Tribalis-mus, Clan- und Stammesdenken. Einzelaspekte, so sie denn politisch genehm sind, werden aus dem Kontext gerissen und fanatisch überhöht – etwa Fragen der Ge-schlechtlichkeit oder der Sprache. Auch die Klimabewegung leidet unter einer ex-tremistischen Verengung auf das Thema CO2-Reduktion, das in den Kontext ganz-heitlicher Kosten-Nutzen-Rechnungen gehört, um es mit den Folgen in anderen Bereichen abzugleichen: Energieressourcen, Wirtschaftsentwicklung, Armutsbe-kämpfung, Gesundheitsversorgung.

Verloren geht die Diskursfähigkeit, und es blüht der Narzissmus. Argumente wer-den durch Gefühle ersetzt. Was sich gut anfühlt, ist wahr, wer es anders sieht, wird beschimpft und ausgegrenzt. Während man für sich selber grösstes Verständnis einfordert, versagt man dem anderen die Empathie. Die Fähigkeit, seine Gefühls-welt von innen her, durch das Einnehmen von Gegenperspektiven, zu modulieren, geht verloren. Entsprechend laut wird der Ruf nach Schutz durch Regulierung und Gesetz.

Kognitive Dissonanz

In den unterkomplexen Innenwelten werden offenkundige Selbstwidersprüche entweder nicht mehr wahrgenommen oder nicht als störend empfunden: Im Na-men von Antidiskriminierung werden gezielt neue Gruppen diskriminiert; Queere stellen sich an die Seite von Terrororganisationen, die sie steinigen würden; fremde Kulturen werden vergöttert, die eigene Kultur wird verachtet; Antisemitismus kann es nur rechts geben, und Frauenrechte gelten überall, nur nicht in Iran und Afghani-stan; demokratisch gewählte Parteien werden im Namen der Demokratie aus dem politischen Prozess verbannt. Gar nicht zu reden von dem, was in den dunklen bis abgründig bösen Tiefen des Internets abläuft.

Die Kultur des Westens erodiert auf vielen Ebenen, und das verbindende Element ist die Selbstzerstörung des modernen Geistes, der die Bedingungen seines Gedei-hens nicht ausreichend zu begreifen und abzusichern versteht. In der Weltpolitik erleben wir schleichend den Zusammenbruch der regelbasierten Weltordnung. Vor-moderne Kräfte wittern Morgenluft: vom fundamentalistischen Islam über den chi-nesischen Ultranationalismus bis zum revanchistischen russischen Imperialismus. Sie alle riechen die Schwäche des Westens und haben längst einen hybriden Krieg gestartet, dessen Wahrnehmung sich viele im Westen aus Bequemlichkeit und Schwäche lieber verweigern.

Von einem «Ende der Geschichte» kann keine Rede sein. Die aufgeklärte westliche Welt muss vielmehr aufpassen, nicht selbst Geschichte zu werden. Um dem vorzu-beugen, muss der Westen sich auf seine Herkunft besinnen. Nur wenn wir verstehen, warum wir so erfolgreich geworden sind, besteht die Chance auf eine geistige Renaissance und eine Rückkehr in die Zukunft.

Dietmar Hansch ist Arzt, Psychotherapeut und Publizist. Bis 2023 leitete er den Schwerpunkt Angsterkrankungen an der Privatklinik Hohenegg in Meilen.

 

Nota.Das geht ganz nüchtern an und man erwartet einen Beitrag des gesunden Menschenverstands. Doch nach und nach beginnts zu schwindeln, man denkt, man geräte in eine Parodie, und wer schon etwas betagter ist, fühlt sich vielleicht an den gottlob kurzlebigen Hoax von Lloyd de Mause's Psychohistory erinnert. 

Es beginnt mit einer ganz plausiblen Phänomenologie des souveränen bürgerlichen Subjekts, doch schon, wer sich zum Lesen ein klein' bisschen Zeit nimmt, fragt sich: Wie und warum? Springt das Subjekt wie ein Virus nach und nach von einem Indi-viduum auf das andere über, war das Zeitalter der Vernunft sozusagen ein epidemi-ologisches Ereignis? Es wird zwar an einer Stelle ein überindividueller Akteur bei-läufig erwähnt - die katholische Kirche -, aber als gesellschaftliche Instanz wird auch sie nicht identifziert. Es ist wie bei Max Weber: Die bürgerliche Mentalität erschafft eine bürgerliche Gesellschaft.

Und die war gut, wissen Sie noch? Überall gesunder Menschenverstand, da war die Welt noch in Ordnung. Die Zeit des Kalten Kriegs, nehm ich an, denn mit dem En-de des Realexistierenden fing das Elend an: Mit dem Siegeszug der Massen- und Kon-sumkultur, vor allem aber mit dem Aufkommen des Internets ging alles den Bach runter: Wohlstandsverwöhnung schlägt Anstrengungsbereitschaft, die Kultur des Westens erodiert auf vielen Ebenen, und das verbindende Element ist die Selbstzer-störung des modernen Geistes, der die Bedingungen seines Gedeihens nicht ausrei-chend zu begreifen und abzusichern versteht...

Ich reibe mir die Augen: Hatte sich der "moderne Geist" zwischendurch zu einem über individuellen autonomen Subjekt gemausert? Was ist aus ihm geworden, dass er nun sich selbst zerstört? Hat er sich seiner Schäfchen nicht genügend angenom-men, haben sie selber gar nicht Schuld?

*

Ach, er ist ja Psychologe... Dass die bürgerliche Gesellschaft das bürgerliche Subjekt hervorgebracht hat und dass es nunmal nicht über deren Schatten springen kann, darf er einkommensbedingt gar nicht in Erwägung ziehen.

Fehlt nur noch, dass er uns allen seine therapeutische Unterstützung andient.
JE

Dienstag, 15. Oktober 2024

Wo bleiben heute die großen Denker?

Fragonard, Le philosophe
aus Die Presse, Wien, 14. 10. 2024               Wo bleiben heute die großen Denker?                         zu Philosophierungen

„Die öffentlichen Intellektuellen haben sich überlebt“
Geert Keil erklärt, wie Philosophen heute arbeiten. Über Willensfreiheit, den Fluch des Englischen, unverständliche Mystiker, den Rassisten Kant, den Antisemiten Heidegger – und das Problem mit den Faktencheckern. 

von Karl Gaulhofer

Die Presse: „Uns gehen die mitreißenden Denker aus“, wurde jüngst in der „NZZ“ geklagt. „Wo bleiben die Nachfolger von Foucault und Habermas?“, also Philoso-phen, die unsere Weltbilder mitbestimmen und in gesellschaftliche Debatten hinein-wirken. Ist die Zeit der epochemachenden Meisterdenker vorbei?

Geert Keil: Sie ist aus guten Gründen vorbei. Um zu den großen politischen Themen der Gegenwart Stellung zu nehmen, vom Nahostkonflikt bis zur Klimaforschung, braucht man ein riesiges Maß an sachlicher Expertise. Wir haben auch einen Strukturwandel in der öffentlichen Kommunikation, wo heute sehr viele Sprecher ihr Wissen oder auch Nichtwissen einspeisen können. Dass es dann noch Leute gibt, die das alles zusammenführen und sich als öffentliche Intellektuelle mit Durchblick und überlegener Urteilskraft aufspielen – nein, solche Figuren haben sich überlebt.

Die Philosophie wirkt heute wie alle Disziplinen: Man schreibt kurze Artikel in Fachjournalen zu sehr speziellen Problemen. Wo bleiben die großen Fragen, der Blick aufs große Ganze?

Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Nehmen wir ein Beispiel: Ich selbst habe viel zu Willensfreiheit gearbeitet – das ist ja nun zweifellos eine große, alte und öffentlichkeitswirksame Frage. Dazu passt der schöne Spruch: Es gibt kein noch so kompliziertes Problem, das nicht, wenn man es richtig angeht, noch komplizierter würde. Es gehört zu den Hauptbeschäftigungen der Philosophie, Antworten auf trügerisch einfache Fragen zu verweigern. Hat der Mensch einen freien Willen oder hat die Hirnforschung diese Annahme widerlegt? Das ist eine schlecht gestellte Entweder-oder-Frage, darauf antworten wir nicht. Stattdessen stellen wir Vorfragen, oft begrifflicher Art: Was sollen wir unter Willensfreiheit sinnvollerweise verstehen? An welchem Verständnis hat sich die Hirnforschung abgearbeitet? Wir zerlegen also eine große Frage. Das wird dann kleinteilig, und das ist auch gut so, obwohl es weniger spannend klingt. Unser Job ist ja, etwas Neues herauszukriegen, und das heißt in der Regel: etwas Kleines herauskriegen. Zusätzlich sollte es Leute geben, die diese zerlegten Teile wieder zusammensetzen und ab und zu ein Sachbuch schreiben, für eine größere Öffentlichkeit. Auch das geschieht bereits.

Aber große Würfe sind selten geworden.

Große neue Ideen klingen oft aufregend. Aber ob sie tatsächlich eine Einsicht enthalten, ist eine andere Frage. Man kann die grobe Regel aufstellen: Je vollmundiger eine These auf den Markt geworfen wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie falsch ist. Denken Sie an Slogans wie „Tatsachen sind konstruiert“ oder „Alle Wahrheiten sind von Menschen gemacht“ – das kommt von Debattenteilnehmern, die noch nie einen Grundkurs in Erkenntnistheorie besucht haben.

Ist die Philosophie eine Wissenschaft?

Wir sollten Wissenschaft als Erkenntnissuche sehen, die methodisch kontrolliert, fehlbar und ergebnisoffen ist. Dazu trägt die akademische Philosophie sicherlich bei. Die besten zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Methoden können auch philosophische sein. Bei manchen Forschungsfragen, die sich naturwissenschaftlich nicht beantworten lassen, sind sie sogar die einzigen.

Auch in der Philosophie dominieren heute Texte auf Englisch. Geraten da nicht alle, die sich in dieser Sprache nicht so elaboriert ausdrücken können, ins Hintertreffen?

Ja, das tun sie, zwangsläufig. Wer kein Native Speaker ist, hat einen echten Nachteil. Ich verliere sicherlich 15 Prozent an Qualität, wenn ich auf Englisch schreibe – und wer kann sich das schon leisten? Aber die Entwicklung liegt nicht in unserer Hand. Irgendeine Lingua franca braucht es, früher war es Latein. Um 1910 mussten Sie als Physiker oder Chemiker Deutsch können – die wichtigen Journale waren alle in deutscher Sprache. Sicher ist es durch die Nazizeit etwas schneller gegangen, dass Deutsch seine Rolle als globale Wissenschaftssprache verloren hat. Aber es war unvermeidlich. Und die Philosophen leiden darunter stärker als etwa die Mediziner. Die Fähigkeit, eine stilistisch gewandte Prosa zu schreiben, ist bei uns wichtiger. Dazu gibt es auch linguistische Untersuchungen: Die Fachsprache der Medizin kommt mit wenigen Dutzend Verben aus. Das wäre für mich furchtbar.

Sie waren Präsident der deutschen Gesellschaft für Analytische Philosophie, der heute weltweit dominierenden Richtung. Was zeichnet sie aus?

Analytische Philosophen möchten nicht durch Assoziationen philosophieren, sondern mit Argumenten. Sie versuchen, sich klar auszudrücken. Dazu gehört auch die Analyse von Begriffen. In der analytischen Philosophie wird das auf Frege, Russell, Wittgenstein zurückgeführt. Aber natürlich sind das Tugenden, um die sich auch schon Aristoteles, Hume oder Kant bemüht haben. Insofern fehlt mir der Gegenbegriff. Man spricht von der „kontinentalen Philosophie“, also vom europäischen Festland – aber die wird sich doch nicht dadurch auszeichnen, dass sie sich nicht um Argumente schert? Die Unterscheidung hat stark an Bedeutung verloren.

Gibt es nicht mehrere gleich gute Wege des Philosophierens?

Es gibt zum Beispiel auch Mystiker. Aber man kann nicht alles zugleich haben. Mir gefällt die Sottise von Lichtenberg über den Mystiker Jakob Böhme: Seine „unsterblichen Werke“ seien „wie ein Picknick, wo der eine die Worte mitbringt und der andere den Sinn“. Diese Spitze mache ich mir zu eigen: Wenn die Gegenstände schon sehr schwierig sind – und das sind sie in der Philosophie durchgängig – dann sollten wir uns bemühen, sie in möglichst klarer, einfacher Sprache darzulegen.

In „Ihrer“ analytischen Philosophie herrscht oft Geschichtsvergessenheit: Man stellt sich eine systematische Frage und ignoriert, dass sie schon viele vor uns umgetrieben hat. Man erfindet das Rad neu, und es wird dann oft eckig …

Da ist einiges dran. Ich selbst sehe Aristoteles, Descartes oder Kant als Gesprächspartner für die Klärung von Fragen, die mich interessieren. Das ist immer lohnend, weil die wahnsinnig schlau waren, die meisten auch schlauer als wir. Wäre ja sehr unwahrscheinlich, dass die Mehrzahl der klugen Gedanken von den Leuten stammen, die jetzt gerade leben. Ein Kollege, der sehr seriös historisch arbeitet, hat einmal gesagt: „Der durchschnittliche Philosophieprofessor bewegt sich in der Geschichte wie ein Fallschirmjäger: Er springt über unbekanntem Gelände ab, ballert ein bisschen rum und verschwindet wieder, mit einem Zitat von Duns Scotus im Gepäck.“ Das finde ich sehr treffend, viele von uns haben diese Mentalität. Wir projizieren: Wir stülpen früheren Denkern unsere Fragen über. Dabei hatten sie andere Fragen, die nur oberflächlich gleich klingen.

Es heißt, Kant sei ein Rassist gewesen. Sollen wir ihn trotzdem noch lesen?

Kant war nach heutigen Standards ein Rassist, die entsprechenden Passagen sind schlimm. Wir haben aber keinen Grund zur Selbstgerechtigkeit: Kant hat sich durch Selberdenken aus mehr Vorurteilen herausgearbeitet als so gut wie alle von uns. Nur: Selberdenken schützt nicht vor groben moralischen Fehlurteilen, auch uns nicht. Seine blinden Flecken sehen wir jetzt, unsere eigenen noch nicht.

Und den Antisemiten Heidegger?

Heideggers Urteilsschwäche ist von einem ganz anderen Kaliber als die von Kant. Was da in den „Schwarzen Heften“ über das „Weltjudentum“ steht – die schiere Anzahl der infamen Verdrehungen, die Heidegger in einem einzigen Satz unterbringt, das kann einem die Sprache verschlagen. Und sein Antisemitismus spielt indirekt, aber wesentlich in seine Philosophie hinein. Er hat die Moderne in allen ihren Erscheinungsformen verachtet: die Technik, das Finanzwesen, das kalkulierende Denken, den Kosmopolitismus, die Demokratie. Eine toxische Mischung, nicht nur in Bezug auf antisemitische Stereotype. Lassen Sie mich etwas übertreiben: Heideggers Werk besteht wesentlich aus philosophisch verbrämten Ressentiments. Dass die Zeitlichkeit unserer Existenz bedeutsam ist, kann man auch ohne seine Lektüre herausbekommen. Und dass es mir Sorge bereiten sollte, dass ich sterben muss, wusste ich auch schon vorher. ...

 

Nota. -  Dies schrieb ich bei einer ähnlichen Gelegenheit:

Nicht die mitreißenden Denker fehlen, sondern mitreißende Gedanken. Das ist nicht trivial. Gedanken müssen in der Luft liegen, um Erfolg zu haben - dann werden sich schon welche finden, die sie publikumswirksam vorzutragen wissen. Wenn aber die Ideen sich als Mehltau niederschlagen, geraten auch die Vorträger in Vergessenheit. Wenn Foucault unlängst wieder Aufmerksamkeit fand, lag das nicht an seinen Ideen.

Mitreißende Denker werden durch mitreißende Gedanken generiert, nach denen muss man schauen, nicht nach den eigenen Chancen auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Und mitreißende Gedanken werden nicht generiert, indem man aufs Mitreißen schaut, sondern auf die Gedan-ken, und eben nicht auf das, was in der Luft liegt.

Hier könnte ich aufhören. Aber das ist nicht bloß ein Zirkel, sondern eine Spirale. Denn was in der Luft liegt, kann auch der Smog von ein paar Jahrzehnten sein - oder Jahrhunderten. Man muss wohl schon auf die Luft achten, und sei es nur, um sie auf-zu-klären. Womit sonst aber als  - Ideen?

Und nicht muss man darauf schauen, ob sie denn neu sind, neuer als das jüngst Verschimmelte. Manchmal wirkt ein Zurück zu den Quellen Wunder.

Unsere Quelle ist das Scheitern der kopernikanischen Revolution vor schon gut zweihundert Jahren, das Versickern und Versanden der Vernunftkritik. Danach ist viel passiert, aber die Wunde schwärt immer noch. Als hätte es die Kant'sche Kritik nie gegeben, brach nach dem Hegel'schen Desaster wieder treuherzige Positivität aus, jeder durfte mal sein Glück versuchen. Lebensphilosophie, Technizismus und Organik, Spiritismus und Naturmystik. Die Neukanti-aner schufen der Deutschen Hochschulphilosophie ihren Raum, aber die blieb summa sum-marum hölzernes Bücherwissen. 
 
Metaphysik fand derweil in Makro- und Mikrophysik ihre heimlichen Schlupflöcher. Der origi-nelle, aber improvisierte Versuch Husserls, mit der Phänomenologie eine neue Kritizität zu be-gründen, wurde umgehend von Heidegger verballhornt, und die Vernunft kam in Verruf. 
 
So nahm das zwanzigste Jahrhundert seinen bekannten Lauf. Nach dem großen Krieg fiel der Philosophie eine restaurative Rolle zu. Geisteswissenschaft und Hermeneutik brachten den ge-sunden Menschenverstand zu neuen Ehren, und die Frankfurter Schule goss darüber ihren be-schwipsenden Jargon. 
 
Der Status quo ante war wiederhergestellt. Es folgten Dekonstruktivismus und Postmoderne und Anything goes. Philosophie ward eine Sache des Feuilletons, doch kein Hahn krähte noch nach ihr. Sie blieb übrig als universitäres Orchideenfach, das sich so eben noch gegen den kw-Vermerk behauptet.
 
Da stehen wir nun. Gegenwartsphilosophie ist akademisch und zerfällt in zwei breite aber nicht reißende Ströme, die miteinander nur an den Rändern in Berührung kommen, im großen Gan-zen aber jede in bleiern ruhigem Fluß vor sich hin murmelt, bibliometrische Journale füllt und von der restlichen Welt nicht beachtet wird: hier das unerschütterliche Lager der kontinentalen historisch-philologieschen Spitzenklöpper, da die bewegten Meuten der systematisch-analyti-schen Flohknicker, die frohgemut nochmal ganz von vorne anfangen wollen.

Würde es etwas ändern, wenn auf einer der beiden Seiten ein Phönix aufstiege und überall Applaus fände? 
 
Ein frisches Gesicht, ein klingender Name werden erst was hermachen, wenn sie was Neues zur Sprache bringen. Wir leiden seit zweihundert Jahren an jener schwärenden Wunde, die nur darauf wartet, erfragt zu werden, um fast spontan zu ihrer Selbstheilung zu finden. Und nach so langer Verschleppung wäre das was Neues.
21. 8. 24


Mittwoch, 21. August 2024

Geistige Flaute?

Dilthey
aus nzz.ch, 19. 8. 2028                                                                                                             
zu Philosophierungen

Zu viel Identitätspolitik, zu wenig Charakter: Der Glaube an die Gei-steswissenschaften schwindet. Auch weil die mitreissenden Denker der Gegenwart fehlen
Butler, Foucault, Rorty oder Habermas brauchen Nachfolger. Die jüngeren Generationen haben bisher keine hervorgebracht. Woran liegt das?
 
von Hans Ulrich Gumbrecht
 
Seit der deutsche Philosoph Wilhelm Dilthey ihnen an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert einen gemeinsamen Namen gab, haben die als Geisteswissenschaften bekannten akademischen Disziplinen einen Diskurs von der eigenen Krise kulti-viert. Diese erstaunliche Bewegung mag sich zunächst aus dem scharfen Kontrast gegenüber den Naturwissenschaften ergeben haben.

Während die Erforschung der Natur solch grenzenloses Ansehen vor allem genoss, weil ihre Ergebnisse der etablierten Industrie wie der entstehenden Technologie neue Ziele und Verfahren der Produktion lieferten, schien die Wirkung der Geistes-wissenschaften auf Prozesse individueller Bildung beschränkt. Doch die permanen-te Selbstverpflichtung, gegen einen Eindruck von Unterlegenheit eigene Leistungs-potenziale herauszustellen, wurde für die Geisteswissenschaften langfristig zu einem Erfolgsrezept.

Der Kampf um Anerkennung hat ihnen einen sicheren Status in der Öffentlichkeit eingebracht – und über Jahrzehnte wohl auch eine Beliebtheit bei Studenten.

Ohne den andauernden Kampf um die Anerkennung besonderer Funktionen hät-ten sie wohl nie diesen öffentlichen Status und ihre lange bestehende Beliebtheit bei Studierenden gewonnen. Mittlerweile ist jedoch eine paradoxale Entwicklung einge-treten, die angesichts handfester Krisensymptome den traditionellen Pessimismus in bequeme Selbstzufriedenheit umgekehrt hat.

Lob auf die absteigenden Disziplinen

Unter lokal je spezifischen Bedingungen sind die Belegzahlen der Geisteswissen-schaften international seit 2010 um mehr als vierzig Prozent gesunken, und keine gegenläufige Tendenz ist abzusehen. Verwaltungen wie zuständige Ministerien sehen die Verluste als «strukturell» an und reagieren mit herabgestuften Finanz-zuweisungen auf allen Ebenen.

Ausgerechnet in dieser Situation tauchen eigentümlich triumphalistische Töne zum Lob der absteigenden Disziplinen auf. Gemäss einem Bericht des Magazins «The New Yorker» wollen Englischprofessoren entdeckt haben, dass, entgegen den vor-herrschenden Erwartungen, College-Studenten, die sich auf Literatur, Philosophie oder Geschichte konzentrieren, langfristig grössere Einkommen erzielen als die Absolventen der sogenannten STEM-Fächer (Science, Technology, Electronics, Mathematics).

Eine entsprechende Verschiebung soll sich auch hinsichtlich der Qualifikationsvor-aussetzungen für einflussreiche politische Ämter abzeichnen, und europäische Au-toritäten wie der Philosoph Markus Gabriel schlagen kurzerhand ihren Fächern Führungskompetenz bei der Lösung praktisch-politischer Probleme zu.

Die mitreissenden Denker fehlen

Nur wenige Aussenbeobachter trauen im Ernst einem derart gehobenen Selbst-gefühl, doch sie schenken den Geisteswissenschaften gerne taktvolles Bedauern, wie es angeschlagenen Helden der Vergangenheit gebührt. Nie zur Rede kommt dabei allerdings der eine ins Auge springende Anlass für abnehmende Studenten-zahlen und schwindende Unterstützung, weil ihm offenbar der Verdacht anhängt, sachfremd oder gar populistisch zu sein.

Den Geisteswissenschaften von heute fehlen mitreissende Protagonisten, Denker, deren Vorlesungen Erlebniswert haben, deren Meinungen öffentliche Kontroversen auslösen und deren Bücher zu Bestsellern werden. Gestalten aus ihrer goldenen Epoche wie Hélène Cixous oder Judith Butler, wie Michel Foucault, Richard Rorty oder Jürgen Habermas haben keine Nachfolger in den jüngeren Generationen ge-funden – und sich sympathischerweise darüber kaum Gedanken gemacht. Hier aber liegt ein Grund der gegenwärtigen Krise in den Geisteswissenschaften, den nie-mand im Visier hatte und mit dem ihre angestrengte neue Euphorie nicht zu-rechtkommt.

Die Zahl herausragender individueller Begabungen im Denken und Schreiben hat keine dramatischen Veränderungen durchlaufen. Also können wir aus historischer Perspektive zu erklären versuchen, unter welchen Voraussetzungen weithin sicht-bare Gestalten die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer grossen Zeit der Geisteswissenschaften gemacht haben. Zudem: Warum gelingt es ihren Fächern heute nicht, aus dem Schatten jener Vergangenheit herauszutreten?

Aufbruch der Brüder Grimm

Lange vor Diltheys programmatischen Schriften waren nach 1800 unter dem Ein-druck der bürgerlichen Revolutionen erste Lehrstühle für Nationalliteraturen, klassische Philologie oder Kunstgeschichte entstanden. Ihren Inhabern war daran gelegen, die Versprechen der Aufklärung von einer besseren Zukunft im Rückgriff auf kulturelle Traditionen der Vergangenheit zu illustrieren und als motivierenden Horizont der Existenz am Leben zu halten.

Die Brüder Grimm verkörperten diesen Aufbruchsmoment durch die Konvergenz ihrer Arbeit als philologisch ausgebildete Herausgeber volkstümlicher Erzählungen mit dem Engagement für demokratische Formen der Politik in der Gruppe der «Göttinger Sieben», Professoren wie ihnen war es zu verdanken, dass Literatur und ihre Geschichte während des neunzehnten Jahrhunderts fortschreitend die Funk-tion der Religion als Sinnrahmen europäischer Gesellschaften übernahmen.

An solche Traditionen konnten ihre Kollegen im Zeitalter der Ideologien zwischen den beiden Weltkriegen kaum anschliessen, ohne sich auf problematisch politische Rollen im Spannungsfeld zwischen Kommunismus und Faschismus einzulassen. Erst nach einer Phase der Reaktion mit demonstrativer Nüchternheit und aus-schliesslicher Konzentration auf kulturelle Gegenstände der Vergangenheit. Dazu gehören die Methoden der immanenten Interpretation und die Theorien des Strukturalismus.

Nach 1960 setzte eine Epoche unerhörter Produktivität und Resonanz für die Geisteswissenschaften ein, der herausragende Gestalten ihren singulären Glanz gaben. Drei Veränderungen waren eingetreten, welche ihnen auf die Bühne der Öffentlichkeit halfen.<

Vor allem hatten der Kollaps des Faschismus und die Distanz gegenüber dem Kommunismus in den westlichen Ländern zusammen mit fortschreitender Säku-larisierung auf Kosten der Religion ein Vakuum der Orientierung hinterlassen. Dieses besetzten neben existenzialistischen Intellektuellen nun auch Professoren durch ihre Ideen.

Es gab eine Sehnsucht nach ebenso gut begründeten wie attraktiven Weltentwürfen. Zugleich war die Überzeugung lebendiger als je zuvor, dass verbindliche Wahrheit durch systematisches Denken und einfühlende Interpretationen zu erreichen sei.

Ein Theoriegebäude wie den Neomarxismus von Theodor W. Adorno oder die Textauslegungen einer Autorität der Literaturwissenschaft wie des Zürcher Germa-nisten Emil Staiger zu kritisieren, hiess damals nicht, grundsätzlich an der Möglich-keit von Wahrheit zu zweifeln. Selbst Antagonisten gingen davon aus, dass sich am Ende scharfer Auseinandersetzungen die wahre Position zum Gewinn der Gesell-schaft durchsetzen würde.

Schliesslich löste auch die Frage leidenschaftliche Debatten aus, ob Wirklichkeits-beschreibungen immer vom Standpunkt ihrer Autoren abhängen mussten (also «Konstruktionen» waren) oder einen absoluten («realistischen») Stellenwert in Anspruch nehmen konnten.

Prominente, manchmal abgehobene Intellektuelle

Solche von den Geisteswissenschaften ausgehende Fragen galten auch in der nichtakademischen Welt als «praxisrelevant» (ein Lieblingswort jener Jahre). Zwei ineinander verwobene öffentliche Debatten entfalteten sich. Im Vordergrund stand die Konkurrenz zwischen «progressiven» und «konservativen» Vorstellungen vom gemeinsamen Leben. Oder jene zwischen Zukunftsvisionen wie der auf umgreifen-den Konsens abgestellten «Theorie des kommunikativen Handelns» von Jürgen Habermas und auf der anderen Seite Büchern wie Hans Blumenbergs «Legitimität der Neuzeit», die Errungenschaften und Chancen der historisch entstandenen Welt hervorhoben.

Doch auch die Skepsis gegenüber dem Wirklichkeitsstatus und die Frage nach möglichen Konsequenzen fanden ein breites Interesse, das den Fokus der Feuilletons auf geistige Diagnosen der Gegenwart verschob. Ihren Horizont markierten Positionen wie Jean-François Lyotards Begriff von der «Postmoderne» als Grenze zu einer neuen Erkenntnispraxis, die der Geschichte ihre Autorität nahm. Genauso Jacques Derridas «Dekonstruktion» als Kritik des Glaubens an adäquater menschlicher Selbstbeobachtung und Michel Foucaults Analysen zur Dekadenzgeschichte einer überoptimistischen Konzeption von der Menschheit.

Vor dem Hintergrund ihrer akademischen Karrieren bildeten solche Autoren vor allem in Frankreich eine neue Rolle des prominenten und manchmal abgehobenen Intellektuellen aus. Zu Foucaults in mehrere Säle übertragenen Vorlesungen am Collège de France versammelten sich Tausende faszinierte Hörer, denen es nicht um Studienbelege ging; von der ersten persönlichen Begegnung zwischen Habermas und Derrida berichteten die Tageszeitungen auf ihren Titelseiten mit Fotos, die Derrida wie einen weltlichen Propheten aussehen liessen; und Lyotards «Condition postmoderne» musste man einfach gelesen haben, um mitreden zu können.

Heute erreichen auch Geisteswissenschafter von vergleichbarem intellektuellen Kaliber nie solch intensive Aufmerksamkeit, und selbst die Aura der verbliebenen Protagonisten aus dem goldenen Zeitalter ist verloschen. Dies mag mit der Tat-sache zu tun haben, dass sich ihre Disziplinen seit Beginn des Millenniums immer mehr und inzwischen beinahe ausschliesslich auf Phänomene kollektiver Identität konzentrieren, die mit universalem Publikumsinteresse nur schwer vermittelbar sind.

Wenn die Perspektiven von Geschlechteridentität vielleicht noch gelegentlich die «je anderen» Gruppen angehen mögen, so neigen Diskussionen über nationale, soziale und kulturelle Identitäten dazu, sich in Zirkeln von Selbst-Affirmation oder Selbst-Variation zu isolieren.

Neben übergreifenden Themen ist den Geisteswissenschaften aber auch das Ver-trauen ihrer Studierenden und Leser auf Einsichten verlorengegangen, zu denen allein das Denken führen kann. Selbst unter Bildungsbürgern sind mittlerweile an die Stelle von Begriffen und Theorien als Medium zur Erfassung von Wirklichkeit elektronisch ermittelte Statistiken getreten. Ihre trocken-definitiven Zahlen lassen brillanten Spekulationen kaum noch Raum.


Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert Guérard Professor in Literature, emeritus, an der Stanford University, Distinguished Professor of Romance Literatures an der Hebrew University, Jerusalem, und Distinguished Emeritus Professor an der Universität Bonn.
 
 
Nota. - Nicht die mitreißenden Denker fehlen, sondern mitreißende Gedanken. Das ist nicht trivial. Gedanken müssen in der Luft liegen, um Erfolg zu haben - dann werden sich schon welche finden, die sie publikumswirksam vorzutragen wissen. Wenn aber die Ideen sich als Mehltau niederschlagen, geraten auch die Vorträger in Vergessenheit. Wenn Foucault unlängst wieder Aufmerksamkeit fand, lag das nicht an seinen Ideen.

Mitreißende Denker werden durch mitreißende Gedanken generiert, nach denen muss man schauen, nicht nach den eigenen Chancen auf dem Jahrmarkt der Eitel-keiten. Und mitreißende Gedanken werden nicht generiert, indem man aufs Mit-reißen schaut, sondern auf die Gedanken, und eben nicht auf das, was in der Luft liegt.

Hier könnte ich aufhören. Aber das ist nicht bloß ein Zirkel, sondern eine Spirale. Denn was in der Luft liegt, kann auch der Smog von ein paar Jahrzehnten sein - oder Jahrhunderten. Man muss wohl schon auf die Luft achten, und sei es nur, um sie auf-zu-klären. Womit sonst aber als  - Ideen?

Und nicht muss man darauf schauen, ob sie denn neu sind, neuer als das jüngst Verschimmelte. Manchmal wirkt ein Zurück zu den Quellen Wunder.

Unsere Quelle ist das Scheitern der kopernikanischen Revolution vor schon gut zweihundert Jahren, das Versickern und Versanden der Vernunftkritik. Danach ist viel passiert, aber die Wunde schwärt immer noch. Als hätte es die Kant'sche Kritik nie gegeben, brach nach dem Hegel'schen Desaster wieder treuherzige Positivität aus, jeder durfte mal sein Glück versuchen. Lebensphilosophie, Technizismus und Organik, Spiritismus und Naturmystik. Die Neukantianer schufen der Deutschen Hochschulphilosophie ihren Raum, aber die blieb summa summarum hölzernes Bücherwissen. 
 
Metaphysik fand derweil in Makro- und Mikrophysik ihre heimlichen Schlupflöcher. Der originelle, aber improvisierte Versuch Husserls, mit der Phänomenologie eine neue Kritizität zu begründen, wurde umgehend von Heidegger verballhornt, und die Vernunft kam in Verruf. 
 
So nahm das zwanzigste Jahrhundert seinen bekannten Lauf. Nach dem großen Krieg fiel der Philosophie eine restaurative Rolle zu. Geisteswissenschaft und Her-meneutik brachten den gesunden Menschenverstand zu neuen Ehren, und die Frankfurter Schule goss darüber ihren beschwipsenden Jargon. 
 
Der Status quo ante war wiederhergestellt. Es folgten Dekonstruktivismus und Postmoderne und Anything goes. Philosophie ward eine Sache des Feuilletons, doch kein Hahn krähte noch nach ihr. Sie blieb übrig als universitäres Orchide-enfach, das sich so eben noch gegen den kw-Vermerk behauptet.
 
Da stehen wir nun. Gegenwartsphilosophie ist akademisch und zerfällt in zwei breite aber nicht reißende Ströme, die miteinander nur an den Rändern in Berüh-rung kommen, im großen Ganzen aber jede in bleiern ruhigem Fluß vor sich hin murmelt, bibliometrische Journale füllt und von der restlichen Welt nicht beachtet wird: hier das unerschütterliche Lager der kontinentalen historisch-philologieschen Spitzenklöpper, da die bewegten Meuten der systematisch-analytischen Flohknicker, die frohgemut nochmal ganz von vorne anfangen wollen.

Würde es etwas ändern, wenn auf einer der beiden Seiten eine Phönix aufstiege und überall Applaus fände? 
 
Ein frisches Gesicht, ein klingender Name werden erst was hermachen, wenn sie was Neues zur Sprache bringen. Wir leiden seit zweihundert Jahren an jener schwä-renden Wunde, die nur darauf wartet, erfragt zu werden, um fast spontan zu ihrer Selbstheilung zu finden. Und nach so langer Verschleppung wäre das was Neues.

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Nachtrag. - Vor ein paar Tagen fand sich in der FAZ ein Beitrag von André Kieserling über das, Was im Bewerbungsverfahren an der Uni wirklich zählt. Er fasst ihn einleitend so zusammen: "Auch bei der Personalauswahl an Universitäten kommt es nicht nur auf Fachwissen an. Platzhirsche haben keine Chance. Nettes Mittelmaß setzt sich durch."
Soviel dazu.
JE 


 

Es riecht nach was.

aus spektrum.de,  14. 10. 2024                                                                          zu Jochen Ebmeiers Realien Wahrn...