
aus spektrum.de, 20. 4. 2025 zu Jochen Ebmeiers Realien
Heilung per Vagusnerv
Dank
elektrischer Reizung des Vagusnervs sollen sich verschiedenste
Krankheiten kurieren lassen, behaupten Wellness-Influencer, aber auch
manche Fachleute: von Depression bis hin zu krankhaftem Übergewicht. Was
ist dran?
von Jena Pincott
Der
Vagusnerv ist »in«. So versprechen Wellness-Influencer in sozialen
Medien, mit der richtigen Behandlung dieses langen Hirnnervs könne man
so ziemlich alles heilen: von Kopfschmerzen und Gedächtnisproblemen bis
hin zu Depression und Übergewicht. Fußmassagen, Eisbäder und
Entspannungsmusik sollen dabei helfen, seine »heilende Kraft«
freizusetzen. Viele dieser Vorstellungen sind stark übertrieben. Der
Hype beruht darauf, dass der Vagusnerv das Gehirn mit fast allen Organen
des Körpers verbindet. Über ihn ist das Zentralnervensystem in der
Lage, beispielsweise Herzrasen, hohen Blutdruck, Magenschmerzen, ein
übereifriges Immunsystem und sogar die Alarmrufe von Mikroben in unserem
Darm wahrzunehmen und solchen Problemen entgegenzuwirken.
Fachleute
wissen seit Langem, dass die elektrische Stimulation des Vagusnervs bei
einigen Krankheiten helfen kann. Sie dient heute etwa zum Behandeln
bestimmter Formen von Epilepsie, Depression und der Genesungsförderung
nach einem Schlaganfall. Dazu wird ein Vagusnervstimulator chirurgisch
unter das Schlüsselbein implantiert und über ein Kabel mit dem Nerv
verbunden. Neuere Ansätze nutzen Geräte, die den Nerv durch die Haut
hindurch reizen und daher nicht mehr operativ eingesetzt werden müssen.
Die Liste der damit möglicherweise therapierbaren Erkrankungen scheint
endlos – von rheumatoider Arthritis über Migräne, der Autoimmunkrankheit
Lupus bis zum chronischen Müdigkeitssyndrom. Und entsprechend laufen
dazu viele Studien.
Eine lange Vorgeschichte
Im Jahr 1664
benannte der englische Neuroanatom Thomas Willis den längsten Hirnnerv
»Vagus«, lateinisch für »umherstreifend« wegen seiner großen Ausdehnung.
Genau gesagt gibt es nicht nur einen Vagusnerv, sondern zwei Stück:
einen auf jeder Seite des Körpers mit jeweils bis zu
100 000 Nervenfasern. Jede davon unterstützt eine bestimmte Funktion,
etwa das Atmen, die Herzfrequenz, das Immunsystem, Darmkontraktionen zum
Verdauen der Nahrung und sogar Sprache. Etwa 80 Prozent dieser Fasern
sind afferent, das heißt, sie berichten an das zentrale Nervensystem
über den Zustand anderer Körperteile; die übrigen sind efferent,
transportieren also Anweisungen vom Gehirn an den restlichen Körper.
Anatomie des Vagusnervs | Der Vagus umfasst zwei Nervenbahnen, die über
die linke beziehungsweise rechte Körperseite laufen und das Gehirn mit
lebenswichtigen Organen wie etwa dem Herzen, den Lungen oder dem
Verdauungssystem verbinden. Seine afferenten Nervenfasern transportieren
Signale vom Körper an das Gehirn, die über den Zustand des Körpers
berichten. Die efferenten Fasern, die vom Gehirn an den Körper senden,
beeinflussen den Puls, die Atmung und die Verdauung. Durch die
Verbindung zur Milz kann der Vagus sogar Entzündungen lindern.
Einen
ersten Versuch, den Vagusnerv aus medizinischen Gründen elektrisch zu
stimulieren, unternahm der amerikanische Neurologe James Leonard Corning
in den 1880er Jahren. Um die Blutzufuhr zum Gehirn zu verringern und
damit Epilepsie zu behandeln, hielt er seinen Patienten eine Art unter
Strom stehende Grillgabel an den Hals. Allerdings ohne Erfolg. Erst ein
Jahrhundert später schaffte es der Neurowissenschaftler Jacob Zabara von
der Temple University in Philadelphia, mit diesem Ansatz die gestörte
Hirnaktivität von Hunden, die an Epilepsie litten, zu unterbrechen. Den
Durchbruch brachten direkte elektrische Stimulationen des Vagusnervs
durch einen implantierten Impulsgeber, welche die Anfälle messbar
verringerten. 1988 wurde dann das erste derartige Gerät zur Behandlung
von Epilepsie in einen Menschen eingepflanzt.
Heutige Apparate
zum Bekämpfen von Epilepsie sind direkte Nachfahren von Zabaras
Erfindung und geben alle paar Minuten einen Stromstoß ab. Sie können Studien zufolge
die Häufigkeit der Anfälle nach einem Jahr im Dienst durchschnittlich
um 45 Prozent senken. Dieser Effekt wird hauptsächlich auf die Reizung
der afferenten Fasern zurückgeführt, also derjenigen, die zum Gehirn
hinführen.
Die Behandlung hatte aber eine bemerkenswerte
Nebenerscheinung: Sie machte die Menschen glücklicher. Als die Ärzte den
Patienten sagten, sie würden das Implantat jetzt wieder entfernen,
weigerten sich viele, einfach weil die Stimulation ihnen ein gutes
Gefühl gab. Die Hersteller wurden hellhörig und begannen, ihre Geräte
als innovative Therapie gegen Depression zu vermarkten. Der Wissenschaft
gab diese Zufallsentdeckung hingegen Rätsel auf, und sie löste eine
Welle intensiver Forschung aus, die noch immer andauert.
Heute
weiß man unter anderem, dass der Vagusnerv Informationen über die
Herzfrequenz, die Verdauung und über den allgemeinen Zustand des Körpers
an jene Gehirnregionen weiterleitet, die auch bei psychischen
Erkrankungen eine Rolle spielen. Als Erstes erreichen die Signale den
Nucleus tractus solitarius im Hirnstamm, der sie sortiert und
weiterleitet, unter anderem zur Amygdala. Letztere hilft uns bei der
Verarbeitung von Emotionen, insbesondere von Angst und Stress. Ein
anderes Ziel ist der Hypothalamus, der an der Ausschüttung von
Stresshormonen wie Cortisol mitwirkt. Außerdem gelangen die Impulse zur
Area tegmentalis ventralis, welche eine zentrale Rolle bei unserem
Erleben von Freude, Motivation und Belohnung spielt.
Die vom
Gehirn ausgehenden Signale wiederum helfen dem Körper beim Regulieren
seiner Aktivitäten und bewahren so sein inneres Gleichgewicht. Wenn wir
etwa einer Bedrohung begegnen, steigen Herzfrequenz und Blutdruck,
während die Aktivität im Verdauungstrakt abnimmt. Der Vagusnerv erkennt
diese Veränderungen und meldet sie an das Gehirn. So kann Letzteres
eingreifen, wenn die Stresssignale zu stark werden: Es sorgt dafür, dass
der Vagus bei den inneren Organen den Neurotransmitter Acetylcholin
freisetzt, was Puls und Blutdruck reduziert und die Verdauung fördert.
Der Vagusnerv kann Entzündungen hemmen
Eine zweite zufällige Entdeckung in den späten 1990er Jahren zeigte, dass der Vagusnerv noch viel mehr
kann, als bloß den Körper zu beruhigen. Ein Team im Labor von Kevin J.
Tracey an den Feinstein Institutes for Medical Research in New York
wollte eigentlich ein Medikament testen, das Entzündungen im Gehirn
reduzieren soll. Hierzu mussten die Forscher den Mäusen zuerst ein
entzündungsförderndes Gift injizieren. Doch aus Versehen wurde es der
Maus statt ins Gehirn in den Bauch gespritzt, was eine großflächige
Entzündung im ganzen Körper auslöste.
Zur
großen Überraschung von Tracey konnte das anschließend wie geplant ins
Gehirn injizierte Medikament die Entzündung im Körper bremsen – obwohl
die Blut-Hirn-Schranke verhindert, dass solche Substanzen aus dem Gehirn
herausgelangen. »Wir haben monatelang darüber diskutiert«, erinnert
sich Tracey. Es stellte sich schließlich heraus, dass der Vagusnerv die
vom Medikament im Gehirn ausgelösten Signale an den Körper
weitergeleitet hatte. Noch erstaunlicher war, dass es schon
ausreichte, den Vagusnerv elektrisch zu stimulieren, um Entzündungen zu
hemmen – ganz ohne Medikamente. Die Entdeckung veränderte sein Leben,
sagt Tracey heute. Denn die Tragweite ist immens: Mehr als die Hälfte
aller krankheitsbedingten Todesfälle hängen mit Entzündungen zusammen,
darunter Herzkrankheiten, Schlaganfälle, Asthma, Diabetes sowie
Autoimmun- und neurodegenerative Erkrankungen. Könnte die
Vagusnervstimulation hier ohne Medikamente und deren Nebenwirkungen
helfen, wäre das ein dramatischer Durchbruch.
Um
das Potenzial der Methode zu testen, nahm Tracey Depressionen ins
Visier. Menschen mit Depressionen leiden unter unterschiedlichen
Symptomen, aber sie weisen auch einige Gemeinsamkeiten auf: Traurigkeit,
Motivationsverlust, sozialer Rückzug beispielsweise. Und fast ein
Drittel von ihnen leidet an Entzündungen. Eine wichtige Rolle bei der
Entstehung und Förderung von Entzündungen spielen Botenstoffe, die zu
den so genannten Zytokinen gehören. »Zytokine verursachen Depressionen«,
sagt Tracey. »Wenn ich Ihnen diese Entzündungsmoleküle injiziere,
werden Sie sich erschöpft fühlen und das Interesse an Dingen verlieren,
die Ihnen normalerweise Freude bereiten.« Im Rahmen von Immuntherapien
gegen Krebs, die Zytokine beinhalten, würden Ärzte deshalb zudem oft
prophylaktisch Antidepressiva verschreiben.
In
der Folgezeit versuchten mehrere Studien, den Zusammenhang zwischen
Depressionen, Entzündungen und dem Vagusnerv für Therapieansätze zu
nutzen. Nach ersten, wenig befriedigenden Resultaten zeigten neuere
Untersuchungen nach einer mehrjährigen Anwendungsdauer
vielversprechendere Ergebnisse. So konnten in einer 2017 erschienenen Studie
Vagusnervstimulationen, die über fünf Jahre hinweg erfolgten, fast die
Hälfte der rund 800 Probanden vollständig heilen und bei gut zwei
Dritteln der Teilnehmenden die Symptome um mindestens die Hälfte
reduzieren.
2019
begann eine neue, größere Untersuchung mit insgesamt 1000 schwer
depressiven Patienten und Patientinnen, bei denen mehrere andere
Behandlungen nicht angeschlagen hatten und die sogar Suizidversuche
hinter sich hatten – Menschen, die deshalb normalerweise von klinischen
Studien ausgeschlossen werden. »Diese Studie richtet sich an die
kränksten der Kranken«, sagt Studienleiter Charles Conway von der
Washington University. Die Probanden wurden über mehrere Jahre hinweg
für jeweils fünf Jahre rekrutiert.
Gina Bolton ist eine der
Teilnehmerinnen. Alle fünfeinhalb Minuten spürt sie ein sanftes Kribbeln
an ihrer Kehle. Ein paar Sekunden lang klingt ihre Stimme etwas höher
und dadurch etwas erstickt und aufgeregt. Aber das bedeutet bloß, dass
der Stimulator funktioniert, der etwa so groß wie eine 50-Cent-Münze ist
und in der Nähe ihres Schlüsselbeins implantiert wurde. Das Gerät
sendet regelmäßig winzige Stromstöße – etwa zwei Milliampere – durch
einen Draht, der um den Vagusnerv in der Nähe ihrer Stimmbänder
gewickelt ist.
Bolton
hat ihren Stimulator seit Sommer 2021. 30 Jahre lang hatte sie jede
verfügbare Art der Behandlung ausprobiert – Psychotherapie, diverse
Medikamente, transkranielle Magnetstimulation – ein Verfahren zur
Reizung von Neuronen mit Hilfe eines Magnetfelds – und sogar
Elektrokrampftherapie, bei der Elektroden an den Schläfen unter Narkose
eine kurze Überregung des Gehirns auslösen. Kein Ansatz hatte
nachhaltigen Erfolg. Und während all dieser Zeit machte ihr die
Depression ein normales Leben fast unmöglich. Als ihr Sohn und ihre
Tochter noch klein waren, brachte sie sie zur Schule, rang sich ein
Lächeln ab und zog sich dann ins Bett zurück. Mehr als einmal versuchte
sie, sich das Leben zu nehmen.
Der Placeboeffekt spielt eine große Rolle
Einige
Monate, nachdem Bolton den Stimulator für den Vagusnerv erhalten hatte,
bemerkte sie auf einmal eine Veränderung: »Ich spürte Emotionen.« Sie
konnte wieder lachen oder weinen. »Vorher war ich einfach gefühllos.« Im
Sommer 2023, zwei Jahre nach Therapiebeginn, setzte Bolton die
Antidepressiva ab, die sie fast ihr ganzes Leben lang eingenommen hatte.
Das Gerät hatte die Medikamente ersetzt.
Bei einer vorläufigen Datenauswertung
im Juni 2024, für die ein Jahr lang rund 500 Patienten beobachtet
wurden, zeigten sich allerdings eher durchwachsene Resultate. Zwar ging
es vielen der Patienten deutlich besser, aber ebenso bei jenen, bei
denen zum Vergleich das Gerät gar nicht eingeschaltet war. Anscheinend
spielte der Placeboeffekt eine große Rolle bei der Genesung.
Das
Ergebnis sei enttäuschend, aber nicht völlig unerwartet, sagt Sarah
Lisanby, Direktorin der Abteilung für translationale Forschung des
National Institute of Mental Health. Die Placeboreaktion sei ein
Stolperstein für alle Studien zu psychiatrischen Geräten. Denn die
aufwändigen Verfahren verstärken die Erwartung einer positiven Wirkung.
Diese kann wiederum neuronale Mechanismen in Gang setzen, die
entzündungshemmend wirken. Ein starker Placeboeffekt bedeutet allerdings
nicht, dass eine Krankheit nicht geheilt wurde, sondern eher, dass die
geprüfte Behandlung dazu wenig beigetragen hat.
In der
Zwischenzeit läuft die Studie weiter. Conway und andere hoffen, dass die
Daten zeigen werden, welche Patienten besonders profitieren. Zum
Beispiel könnten solche mit hohen Entzündungswerten besser geeignet für
eine Vagusnervtherapie sein; allerdings werden in der aktuellen
Untersuchung entsprechende Daten nicht erhoben. Immerhin kennt man
inzwischen Mechanismen, über die Entzündungen Depression verursachen
können. Wenn Zytokine im Blut zirkulieren, etwa nachdem man sich
verletzt oder mit einem Virus infiziert hat, kann die Schutzbarriere
zwischen Blutgefäßen und Gehirn schwächer werden und sogar ganz
zusammenbrechen. So gelangen dann Substanzen ins Gehirn, die dort nicht
hingehören und daher die Immunzellen des Hirngewebes aktivieren: die
Mikroglia. Diese setzen daraufhin weitere Entzündungsbotenstoffe frei.
Und
das kann wiederum andere Prozesse im Gehirn stören: zum Beispiel die
Produktion von Neurotransmittern wie Serotonin und Dopamin, die für
Motivation und Wohlgefühl sorgen. Außerdem wird der Wachstumsfaktor
BDNF, der Neurone neue Verknüpfungen bilden lässt, nicht mehr genügend
hergestellt. Sinkt der BDNF-Spiegel im Gehirn stark, schwächen sich
wichtige neuronale Verbindungen ab. Dann kann etwa der Präfrontalkortex
nicht mehr die Aktivität der Amygdala ausreichend regulieren, um darüber
unsere Emotionen vor extremen Ausschlägen zu bewahren, und der fürs
Gedächtnis zuständige Hippocampus erholt sich nur noch schlecht von
stressigen Erlebnissen.
Diese
Kettenreaktion könnte der Vagusnerv helfen zu durchbrechen. Wenn das
Gehirn Informationen über gefährliche Entzündungen im Körper erhält,
sorgt es normalerweise dafür, dass die Milz den Neurotransmitter
Acetylcholin ausschüttet. Beide Signalwege laufen über den Vagusnerv.
Das Acetylcholin sorgt unter anderem dafür, dass in der Milz bestimmte
weiße Blutkörperchen – so genannte Makrophagen – weniger Zytokine
freisetzen. Außerdem kann es diese Immunzellen so umprogrammieren, dass
sie nicht mehr wie sonst geschädigtes Gewebe zerstören, sondern
Entzündungsherde aufsuchen und dort die Regeneration des Gewebes
unterstützen. Selbst im Gehirn könnten sie dann Entzündungsschäden
reparieren und die Bildung neuer Neurone und Schaltkreise anregen, sagt
Tracey.
Funktioniert
hingegen der Vagusnerv nicht mehr richtig, würden derartige Abläufe
gestört und entzündliche Krankheiten könnten sich etablieren –
einschließlich Depressionen, wie Tracey vermutet. Therapeutisch lässt
sich die Hypothese jedoch bisher nur begrenzt nutzen. Eine kürzlich durchgeführte Metaanalyse
unter der Leitung von Sharmili Edwin Thanarajah vom
Universitätsklinikum Frankfurt am Main hat gezeigt, dass eine
Vagusnervstimulation Entzündungen nicht immer beseitigen kann. Und bei
jenem Drittel an Depressiven, die zu viel Zytokine im Blut aufweisen,
lindert sie manchmal die Depression, aber nicht die Entzündung.
Ein
Grund für die gemischte Erfolgsgeschichte könnte die Mehrdeutigkeit der
Diagnose Depression sein. »Depressive Menschen haben vielleicht
ähnliche Symptome, aber sie haben nicht alle dieselbe Krankheit«, sagt
Tracey. Diese Vielfältigkeit könnte bedeuten, dass unterschiedliche
Vagusnervsignale bei individuellen Menschen verschieden wirken. Einige
könnten von Impulsen aus dem Gehirn profitieren, die Entzündungen hemmen
und den Körper beruhigen, während bei anderen eher Signale, die zum
Gehirn hinlaufen, helfen könnten.
Untersuchungen
mit bildgebenden Verfahren liefern dafür einige Anhaltspunkte. Die
Ergebnisse variieren zwar je nach Art der Stimulation des Vagusnervs,
aber im Allgemeinen scheint diese die Verbindungen von Präfrontalkortex
und Amygdala zu verstärken, was zu einer besseren Kontrolle der
Emotionen führen kann. Sie steigert auch die Aktivität in der linken
vorderen Insula, wo Emotionen verarbeitet werden. Darüber hinaus fand
ein Team unter der Leitung von Jian Kong vom Massachusetts General
Hospital und der Harvard Medical School heraus, dass eine
Vagusnervstimulation gegen Depression zwei Hirnregionen stärker
miteinander verknüpft: den medialen Hypothalamus, der Stressreaktionen
reguliert, und den rostralen anterioren zingulären Kortex, welcher mit
selbstbezogenem Denken zusammenhängt. Das verbessert möglicherweise die
Integration von emotionalen und kognitiven Prozessen.
Die
positiven Effekte einer elektrischen Reizung könnten auch auf eine
Zunahme von Noradrenalin und Serotonin im Gehirn zurückgehen. Bei
Nagetieren wurden die beiden Neurotransmitter mit erhöhter Energie und
Wachsamkeit in Verbindung gebracht. Außerdem führten
Vagusnervstimulationen in Tieren zu vermehrter Ausschüttung des
Wachstumsfaktors BDNF, der die durch Stress und Depression verloren
gegangenen neuronalen Verbindungen wiederherstellen hilft. Darüber
hinaus scheint die Behandlung einen Mangel an weiteren Botenstoffen zu
beseitigen, die bei Depressionen häufig aus dem Gleichgewicht geraten
sind, etwa Gamma-Aminobuttersäure (GABA) und Glutamat.
Conway
führt jedoch die Wirkung der Stimulationstherapie vor allem auf eine
Veränderung des Dopaminsystems zurück. Dopamin ist entscheidend an
Hirnprozessen beteiligt, die mit Motivation und Vergnügen zu tun haben;
bei Menschen mit Depressionen fehlt es an dem Transmittermolekül.
Bereits vor mehr als zehn Jahren demonstrierten Conway und sein Team mit
bildgebenden Verfahren: Stark depressive Patienten, die nach einem Jahr
Vagusnervstimulation Besserung zeigten, wiesen außerdem eine erhöhte Aktivität in ihrer Area tegmentalis ventralis auf, wo Dopamin entsteht.
Die Motivation aktivieren
Laut neueren Untersuchungen des Neurowissenschaftlers Nils Kroemer
von der Universität Bonn und der Universität Tübingen beeinflusst die
elektrische Vagusnervstimulation entsprechend auch die Motivation und
damit das Verhalten. In seiner 2024 erschienenen Studie ließ Kroemer
Patienten mit Depressionen eine Art Videospiel spielen, bei dem sie
etwas Geld oder Essen gewinnen konnten. Die Bereitschaft, für die
Belohnung ein schwierigeres Level zu absolvieren, erhöhte sich deutlich,
wenn der Vagusnerv der Patienten stimuliert wurde.
Zumindest bei
einigen depressiven Menschen könne der charakteristische Mangel an
Motivation daran liegen, dass der Vagus zu wenig Sinnessignale zum
Gehirn schickt, glaubt Kroemer. Solche Informationen aus dem
Körperinneren treiben uns an, etwa in Form von Hunger. »Wenn der Magen
leer ist, scheint es ein starkes Motivationssignal zu geben, das uns
dazu bringt, neue Wege zu erkunden«, so Kroemer. Aber das geschieht nur,
wenn die Signale weitergegeben werden, was einen gesunden Vagusnerv
voraussetzt.
Hier könnte auch das Mikrobiom eine Rolle spielen.
So senden die Bakterien im Verdauungstrakt Informationen über den Vagus
zum Nucleus tractus solitarius und zum Großhirn, was wiederum die
Neurotransmitterfreisetzung beeinflusst. Umgekehrt kann das Gehirn über
den Vagusnerv Entzündungen im Darm lindern und die Verdauung verbessern,
was die Zusammensetzung der dort ansässigen Bakterien verändert. Es
gibt Hinweise darauf, dass nützliche Bakterien Depressionen,
Angstzustände, Panikattacken und Stress verringern, während andere
Mikroben diese Zustände verschlimmern. Künftige Interventionen könnten
Vagusnervstimulationen mit der Optimierung des Darmmikrobioms
kombinieren, zum Beispiel mit einer ballaststoffreichen Ernährung.
Bei
seinen Versuchen verwendete Kroemer eine nicht invasive Alternative zur
Implantation: Bei der transkutanen Vagusnervstimulation wird das Gerät
außen am Hals oder Ohr befestigt und von dort sendet es elektrische
Impulse an den Nerv. Da diese Methode einfacher und günstiger ist,
nutzen Forscher und Mediziner sie zunehmend gern. Solche Geräte werden
bereits jetzt unter anderem zur Behandlung von starkem Übergewicht,
Schmerzen und Migräne eingesetzt.
Ein implantiertes Gerät ist
Conway zufolge wohl effektiver, weil es direkt mit dem Nerv verbunden
sei und rund um die Uhr den Nerv stimulieren könne. Die Reizung sei
deshalb intensiver und kann laut Bildgebungsstudien mehr Hirnareale
aktivieren als die äußerlich angewandte Variante.
Trotzdem
lassen einige Untersuchungen eine gewisse Wirksamkeit der transkutanen
Stimulation vermuten. Eine davon unter der Leitung von Jian Kong ergab,
dass eine achtwöchige Anwendung im Ohr bei schweren Depressionen ebenso gut wirkt wie das Antidepressivum Citalopram. In einer Pilotstudie aus dem Jahr 2021
ließen Omer Inan vom Georgia Institute of Technology und Douglas
Bremner von der Emory University Patienten mit Posttraumatischer
Belastungsstörung über drei Monate hinweg zweimal täglich den Vagusnerv
am Hals stimulieren. Im Vergleich zur Kontrollgruppe lagen
Stresssymptome sowie die durch traumatische Erinnerungen ausgelösten
Entzündungsreaktionen am Ende der Behandlung deutlich niedriger.
Auf
Grund solcher Erfolge wird zunehmend die transkutane
Vagusnervstimulation mit konventionellen Methoden wie Antidepressiva
oder Verhaltenstherapie kombiniert. Die Geräte ermöglichen es auch, sich
selbst damit bei verschiedenen Beeinträchtigungen wie Angstzuständen
oder Stress zu behandeln. Es gibt allerdings keine einheitlichen
Vorgaben für die optimale Anwendungsdauer und -stärke. Schlimmer noch,
die Ungenauigkeit der Geräte kann dazu führen, dass sie ungewollt die
falschen Nervenbahnen reizen. In einigen Fällen führt ihr Einsatz nicht
zur erwünschten Beruhigung, sondern erhöht im Gegenteil Wachsamkeit und
Erregung – oder bei zu starker Einstellung sogar Nervosität und
Angstzustände.
Um
besser zu verstehen, welche Teile des Vagus am meisten von einer
Stimulation profitieren, wurde im Rahmen eines Forschungsprogramms der
National Institutes of Health (NIH) in den USA eine umfangreiche
Datenplattform mit detaillierten Karten und Modellen des Hirnnervs
zusammengestellt. Mit Hilfe künstlicher Intelligenz und anderer
Technologien will man einzelne Nervenfasern und Schaltkreise
identifizieren, die bei bestimmten Krankheiten eine wichtige Rolle
spielen und gezielt stimuliert werden könnten. Unter anderem sollen
Patienten mit Morbus Crohn, Parkinson, Hirnverletzungen und
Schmerzzuständen davon profitieren.
Hierzu entwickeln Fachleute
Geräte, die verschiedene Fasern des Nervs unabhängig voneinander reizen
können, um spezifisch bestimmte Organe anzusprechen und negative
Auswirkungen zu vermeiden. Im Optimalfall ließen sich die
Stimulationsparameter auf Basis von Echtzeit-Feedback des Körpers wie
Heißhunger, Herzfrequenz oder Entzündungen anpassen. Ist ein konkreter
Schaltkreis identifiziert, könnte man diesen auch etwa mittels
Ultraschall reizen oder über kleine Implantate an diversen Orten im
Körper, vielleicht sogar im Hirnstamm.
Egal
durch welche technische Variante vermittelt – Gina Bolton möchte
jedenfalls nicht mehr ohne die elektrische Stimulation leben. Sie
erinnert sich noch genau an den Moment, als sie merkte, dass die
Behandlung bei ihr anschlägt. Es war einige Monate nach Beginn der
Studie, sie befand sich gerade auf dem Weg zu einem Kontrolltermin.
Bolton spürte den Puls des Geräts, daneben aber noch etwas anderes: den
Takt des Lieds im Autoradio. Sie ertappte sich dabei, wie sie mit den
Fingern dazu auf das Lenkrad klopfte. »Ich hatte so lange schon nicht
mehr leben wollen«, sagt sie, »und jetzt wollte ich es plötzlich
wieder.« Die Musik lief weiter, und zum ersten Mal seit Jahren begann
sie mitzusingen.