Sonntag, 3. September 2023

Erstgeburt und Vaterrecht.


aus welt.de, 26. 8. 2023                Skelett eines Kindes aus dem Grabhügel von Neplujevski                 zu öffentliche Angelegenheiten

Der erstgeborene Bruder bekam Frauen, Besitz und Macht
In einem Grabhügel im südlichen Ural-Gebiet wurden vor 3800 Jahren 32 Mitglieder einer Großfamilie bestattet. Den höchsten Rang hatte der älteste Bruder inne, wie neue Analysen zeigen. Seine Gemeinschaft erlitt ein trauriges Schicksal.

von Berthold Seewald

Schon bei den Erzvätern des Alten Testaments spielte das Erstgeburtsrecht eine wichtige Rolle. So konnte Jakob als Zweitgeborener nur seine Karriere starten, weil er dem Erstgeborenen Esau den Titel mit einem Linsengericht abkaufte. In der Folge wurde Jakob auf verschlungenen Wegen reich und stieg zum Stammvater der zwölf Stämme Israels auf, weil er nicht nur eine Frau nahm, sondern mehrere, sowohl angetraute als auch Konkubinen. Das soll sich nach biblischer Zeitrechnung am Anfang des 2. Jahrtausends v. Chr. zugetragen haben.

Ein schönes Beispiel für das Anerbenrecht, das der Geschichte zugrunde liegt, haben jetzt Paläogenetiker der Universität Mainz in den „Proceedings of the National Academy of Sciences“ beschrieben. Zusammen mit Kollegen aus Jekatarinburg und von der Universität Frankfurt am Main und unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft untersuchten sie die Verwandtschaftsverhältnisse der Bestatteten in einem Grabhügel in der südlichen Uralregion, der um 1800 v. Chr. einer Hirtengemeinschaft als Nekropole diente. Der älteste von sechs Brüdern, so ein Ergebnis der Studie, hatte mehr Frauen als seine Brüder. Und er zeugte mehr Kinder mit ihnen.


Die Menschen, die in der Mittleren Bronzezeit in der eurasischen Steppe an der Grenze zwischen Europa und Asien lebten, werden der Srubnaya-Alakul-Kultur zugeordnet. Wie bei den Erzvätern Israels waren ihre Herden ihr wichtigster Besitz, wobei diese vor allem aus Rindern bestanden, während der Anbau von Feldfrüchten nur eine untergeordnete Rolle spielte. Ihre Vorfahren gehörten zur Sintaschta-Kultur und benutzten bereits Pferd und Wagen mit Speichenrädern. Von ihnen haben die Leute um den Kurgan von Neplujevski wohl auch die Kunst der Metallverarbeitung übernommen.

Im Inneren des Grabhügels konnten die Forscher die Überreste von 32 Individuen identifizieren, von denen 80 Prozent miteinander blutsverwandt waren. Die genomische Analysen ergab 35 biologische Verwandtschaften ersten Grades, 40 zweiten und 48 dritten Grades. Daraus konnten die Wissenschaftler einen Stammbaum rekonstruieren, der sechs Brüder und ihre Frauen, Kinder und Enkel enthält. „Wie haben also eine Art Schnappschuss vor uns, der eine regionale Bevölkerung, die vermutlich in einem Zeitraum von weniger als 50 Jahren gestorben ist, abbildet“, sagt der Anthropologe und Seniorautor Joachim Burger.

Das Erstaunliche an dem Stammbaum ist die herausgehobene Position des vermutlich ältesten Bruders. Mit zwei Frauen hatte er acht Kinder, die allesamt in dem Kurgan bestattet wurden. „Es ist bemerkenswert, dass der erstgeborene Bruder offenbar einen höheren Status innehatte und dadurch auch erhöhte Reproduktionschancen. In Neplujevski sind die Unterschiede im Hinblick auf die Anzahl der Nachkommen besonders deutlich“, folgert der Erstautor Jens Blöcher.


Lage der Grabstätte in der südlichen Ural-Region

Das sagt jedoch nichts über die Stellung der Frauen aus. Es kann sich bei der zweiten Partnerin um eine Ehefrau handeln, die der älteste Bruder nach dem Tod der ersten geheiratet hat, um zeitgleiche Polygamie oder um eine Konkubine oder gar Sklavin. Interessant ist jedoch die Herkunft einer der beiden Frauen. Ihre Gene verweisen auf eine Heimat im fernen Norden Zentralasiens, vielleicht Kasachstan.

Überhaupt haben sich die sechs Brüder mit Frauen zusammengetan, die aus weiter entfernten Regionen stammten und nicht miteinander verwandt waren. Weil auch keine Spuren von Schwestern der Sechs gefunden wurden, schließt das Team, dass die Diversität der Frauen deutlich höher war als die der Männer. Offenbar gab es in der Steppe Heiratskreise, die viele hundert Kilometer durchmaßen.

Während die Männer lokalen Traditionen verhaftet blieben, verließen die Frauen beizeiten ihre Familien und zogen in die Fremde, wo sie ihre Männer fanden. Wie das geschah – durch bestehende Kontakte, über Handelswege oder gar Raub – ist unklar. Auf jeden Fall passt das Ergebnis von Neplujevski zu ähnlichen Befunden aus anderen bronzezeitlichen Grabungen.

„Das lässt uns hoffen, dass unser regionales Beispiel auf eine Regel schließen lässt, die für die Epoche typisch war“, sagt Joachim Burger. „Jüngere Studien haben gezeigt, dass diese Form der Patrilinearität auch in Mitteleuropa praktiziert worden ist, wobei die herausgehobene Stellung des Erstgeborenen eine Regel sein könnte, die sich über Generationen hinweg ausgebildet hat.“

Wenn dem ältesten Bruder mit dem Besitz auch die Führung der Großfamilie zugefallen war, hatte er ein schweres Erbe zu tragen. Denn seinen Leuten ging es offenbar nicht gut, wie ihre Lebenserwartung zeigt. Die Männer, die im Kurgan von Neplujevski bestattet wurden, erreichten gerade einmal ein Durchschnittsalter von 36 Jahren, die Frauen sogar nur von 28 Jahren.

Der Unterschied erklärt sich durch die Gefahren des Kindbetts, die Mütter stets um ihr Leben fürchten ließen. Aber das erreichte Alter beider Geschlechter war selbst für die Bronzezeit erstaunlich gering. „Die Demographie der Verstorbenen zeigt, dass die Menschen keines natürlichen Tods starben“, erklärt Burger den erstaunlichen Befund. Vielleicht litten sie an Krankheiten oder Hunger, weil ihnen die Ressourcen ausgingen.

Die Toten von Neplujevski starben keines natürlichen Todes

Das würde auch erklären, warum die letzte Generation, die in dem Grabhügel begraben wurde, fast nur noch aus Säuglingen und Kleinkindern bestand. Dann wurde der Kurgan aufgegeben – weil der Clan, der ihn errichtet hatte, nicht mehr existierte?

Vielleicht hatten die Leute von Neplujevski einfach den Anschluss verpasst. Ihre Verwandten von der Sintaschta-Kultur, die im östlichen Vorlang des Urals lebten, verstanden sich bereits gut auf den Abbau von dessen Kupfererzen und deren Weiterverarbeitung. Der Zugriff auf Metalle beförderte die soziale Differenzierung. Eine machtvolle Kriegerelite entstand, die bereits den Streitwagen kannte und sich mit reichen Beigaben in Kurganen bestatten ließ.

Offenbar nahm sich der Clan der sechs Brüder von Neplujevski diese Lebensform zum Vorbild, ohne über ausreichende Mittel dafür zu verfügen. „Sie waren kulturell eine verarmte dörfliche Version der Sintaschta“, sagt Burger. Das könnte ihr Schicksal gewesen sein.

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