Donnerstag, 21. September 2023

Der ontogenetische Ursprung der Kausalität.


aus welt.de, 20. 9. 2023                  Schauen, greifen, lernen .                   zuJochen Ebmeiers Realien   zu Philosophierungen

Wie Babys lernen, ihre Welt zu kontrollieren
Schon in den ersten Monaten begreifen Babys, wie sie ihre Umwelt manipulieren können. Amerikanische Forscher haben das spielerische Lernen von Säuglingen untersucht und sind überrascht, wie früh die Kinder ihre ersten Aha-Momente erleben.


Von Martin Lindner

Was ist noch zufälliges Strampeln, und wo beginnt das Wollen und Wünschen? Diese Frage stellen sich wohl viele Eltern, die staunend dabeistehen, wenn ihre Babys sich immer gezielter bewegen und beginnen, ihre Umgebung zu beeinflussen. Die Entwicklung ist ein kleines Wunder.

Untersucht man dieses Lernen im Experiment, kommt Erstaunliches zutage, wie Entwicklungspsychologen nun im Fachjournal „PNAS“ berichten. Um das kindliche Bewegungslernen genauer zu verstehen, machte sich das Team um Scott Kelso von der Florida Atlantic University eine einfache und babytaugliche Methode zunutze. Dabei wird ein Füßchen der kleinen Strampler durch eine Schnur mit einem Mobile verbunden: Jede Bewegung der Beine lässt es über ihrem Köpfchen kreisen.

Der simple Versuchsaufbau erlaubt, die Wechselwirkung von Bewegung und Wahrnehmung zu studieren, selbst von Säuglingen, die erst wenige Monate alt sind. Je schneller sich das Mobile dreht, desto mehr wird das Baby zum Strampeln animiert, wodurch das Spielzeug zusätzlich an Fahrt gewinnt. „Die positive Rückkopplung verstärkt die Ursache-Wirkungs-Beziehung von Kleinkind und mobiler Bewegung“, beschreibt Kelso die grundsätzliche Beobachtung.

Allerdings fand sein Team mit computergestützten Analysen noch mehr heraus: So stellt sich bei den Säuglingen ein Aha-Erlebnis ein, wenn sie bemerken, dass sie das Geschehen beeinflussen. Mit einer bestimmten Reife erkenne der Säugling seine „kausalen Kräfte und geht von spontanem zu intentionalem Verhalten über“, sagt Kelso. Dieser kindliche „Heureka“-Moment lasse sich an einer abrupt gesteigerten Bewegungsrate ablesen.

Was überraschte: Die Babys strampeln keineswegs in einem fort, sondern legen immer wieder Pausen ein, in denen das Mobile zum Stillstand kommt. Nach Ansicht von Scott und Kollegen deutet dies darauf hin, dass die Säuglinge eine Art Gegenprobe machen: Bewege ich mich, kreist das Mobile über meinem Kopf. Bleibe ich ruhig, steht es still.

Wie schnell sich diese Einsicht einstellt, ist von Kind zu Kind durchaus verschieden. Manchen Babys geht schon nach einer Minute ein Licht auf, bei anderen fällt der Groschen erst später. Insgesamt vermittle dies den Kindern den Eindruck, dass sie in ihrer Umwelt in der Tat etwas bewirken könnten, folgern die Studienautoren.

„Generell müssen wir schon sehr jungen Babys viel mehr zutrauen, als man noch vor 20 Jahren dachte“, bekräftigt die Entwicklungspsychologin Birgit Elsner von der Universität Potsdam. Systematische Verhaltensbeobachtungen und moderne Analysemethoden hätten zu einem bemerkenswert differenzierten Bild der kindlichen Entwicklung geführt.

Das Klischee vom passiven Säugling ist lange passé. „Natürlich bleibt immer die Schwierigkeit, dass wir den Kindern nicht in den Kopf schauen können“, schränkt Elsner ein. Untersuchungen wie jene von Kelso und Kollegen halten lediglich das Bewegungsverhalten der Babys fest. Über die inneren mentalen Prozesse im Gehirn geben sie keine Auskunft.

„Wir gehen heute davon aus, dass Kinder ungefähr mit sechs Monaten beginnen, Handlungseffekte vorherzusehen – und zwar nicht nur die eigenen, sondern auch die anderer Personen.“ Aus einer simplen Verbindung von Bewegung und Effekt entstehe um das erste Lebensjahr herum eine erste, abstraktere Idee von Ursache und Wirkung. Das Gehirn reift in der Auseinandersetzung mit der Welt.

 
Nota I. - Es handelt sich um 'nichts als' den ontogenetischen Nachvollzug eines Großen phylogenetischen Sprungs. Der wird etliche Jahrtausende in Anspruch genommen haben, aber inzwischen ist er uns gattungsgeschichtlich angestammt. Die genetische Anlage ist da, aber sie muss "durch Erfahrung" aktiviert werden. Humes treuherzige Annahme einer blo-ßen Gewohnheit war ganz so falsch nicht, aber ohne die Kant'schen Kategorien schwebte sie in der Luft. "Die Leistungen des transzendentalen Subjekts sind nichts als die Erwerbun-gen unserer Gattungsgeschichte." J. Habermas, Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie’, Ffm. 1969, S. 161

 
Nota II. - Das obige Experiment hat eine unerwartete anthropologischen Pointe: Es beruht darauf, dass das Baby auf dem Rücken liegt und über ihm in Armlänge bewegliche Gegen-stände schweben. Für ein Tierkind eine ganz ungewöhnliche Position, aber für Menschen-kinder tagtäglicher Standard - und sie haben beide Hände frei!

Nach rund zwei Millionen Jahren Gattungsgeschichte ist das kein Pappenstiel.


Nota III. - Und noch ein anthropologischer Nachtrag: Einen bestimmten Zweck können sie mit Ihrem Eingreifen ja wohl nicht verfolgen. Also wird man wohl einen un bestimmten Zweck annehmen müssen. Einen 'Zweck-an-sich'? Einen Selbst-Zweck? Ein peiristisches Wollen? Spiel? - Ja, all das können und tun Tierkinder auch. Aber die haben nicht zwei freie Hände. Darum wird ihr Ein-Greifen selten anschauliche Folgen hervorbringen. Also An-schauung als Selbstzweck? Die müsste man ästhetisch nennen...
JE


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