Donnerstag, 12. Januar 2023

Des Abendlands spezifische Differenz.

                                                                 zu öffentliche Angelegenheiten

Das ist die spezifische Differenz, die das Abendland von allen andern Kulturräumen unter-scheidet und vor allen Kulturräumen auszeichnet: dass dem Menschen ein eigenes und nicht bloß durch priesterliche Vertretung ausgeborgtes Urteilsvermögen zugeschrieben wird. Doch keineswegs hat das Christentum 'ursprünglich' die Teilnahme von Gottes Geschöpf an der Vernunft seines Schöpfers gelehrt. Die in andern Sprachen übliches Ableitung der Vernunft von lat. ratio- mehr Rechnung als Erkennen - zeigt an, dass es sich um eine recht späte und wenig anschauliche Wortbildung handelt. Im Deutschen haben wir in der 'Ver-nunft' einen stimmungsvolleren und scheinbar elementaren Ausdruck, denn sie stammt, wie der "Eleat" Herbart zu Recht einwendet, von vernehmen; Vernehmen von was? Vom Rau-nen des wahren Wesens, versteht sich.

Das germanisch-tiefsinnige Vernehmen wurde jedoch erst von dem rationalistischen Auf-klärungsphilosophen Christian Wolff als deutsche Übersetzung der lateinischen raison eingeführt. Der Gedanke einer ursprünglichen Teilhabe des Menschen an der göttlichen Einsicht ist allerdings ein unterschwelliges deutsches Erbe; zuerst ausgesprochen** von Meister Eckhart in der Idee vom seelenfünklîn. Eckhart wurde aber von seinem Papst der Ketzerei bezichtigt, das zwang seine Lehre in den Untergrund, wo sie freilich überdauerte.

Ihren Siegeszug  begann die Idee aber nicht auf theologischem, philologischem oder sonst-wie gelehrten Weg, sondern auf den Schlachtfeldern des 30jährigen Krieges, mehr noch in Diplomatenstuben und Friedenskongressen. Der Siegesszug des Vernunftprinzips verdankt sich nicht den Philosophen, sondern dem Westfälischen Frieden. Hugo Grotius war eben nur zur Stelle, als er am dringendsten gebraucht wurde.

Pierre Bayle
gilt als Begründer des neuzeitliche Skeptizismus, was ihm bis heute einen schlechten Ruf eintrug. Doch ist Skeptizismus nicht sein erster, sondern sein zweiter, aus dem ersten abgeleiteter Gedanke: Der  Grundgedanke ist, dass uns in der Vernunft ein Maßstab gegeben sei, an dem wahr und falsch zu unterscheiden sind. Das ließ sich in keiner der widerstreitenden Konfessionen vertreten; doch da sie eben stritten, ließ es sich immer-hin öffentlich vertreten, wenn auch nur in Holland und manchmal nur anonym. Öffent-lichkeit ist die Heimstatt der Vernunft, nirgend anders kann sie sich entfalten und zu einer selbstständigen Macht neben und schließlich über den feindlichen Glaubensrichtungen aus-bilden, und Gottgegebenheit muss sie schon gar nicht mehr beanspruchen; vielmehr müs-sen jene sich vor ihr rechtfertigen.

Es ist offenkundig, dass nichts Vergleichbares im islamischen Raum geschehen ist. Das Große Schisma zwischen Sunna und Shia hat mit theologischen Fragen nichts zu tun, son-dern lediglich mit dem zufälligen historischen Ereignis der Absetzung Alis zugunsten von Mo'awwiya. In beiden Parteien finden sich religiöse Richtungskämpfe in der Spannung zwischen Buchstabenorthodoxie und mystischer Erlebnisreligion und zwischen Rechtsschu-len und Freigeistern. Wenn überhaupt argumentiert wird, so über Entzifferungen von Wort-lauten, nicht aber über Vernunfturteile.  Ansonsten predigt ein jeder seine Wahrheit und schlagen sie einander die Schädel ein..

Vernunft war kein originäres Erbe der christlichen Offenbarung.*** Sie ist im Abendland politisch an die Stelle der Kirchenlehren getreten und hat sich zu deren Bedingungsrahmen gefestigt. Das hat viel Blut gekostet, doch nun ist es einmal so. In der muslimischen Kultur ist Vernunft überhaupt kein legitimer Bestandteil. Statt als ultimativer Maßstab anerkannt zu sein, muss sie dort ums Überleben kämpfen.

* ) Es handelt sich um den mystischen Elementargedanken; aber öffentlich ausgesprochen wurde er vor Eckhart nicht - und auch nicht mehr danach.

**) Descartes versteht unter Raison ausdrücklich den Geist der Geometrie.

***) Ratiocinatio - 'Verstand' eher als Vernunft - wurde dank der aristotelischen Logik zum Medium der scholastischen Philosophie; doch an eine Beurteilung der Kirchendogmen durfte sie sich nicht wagen.
JE , 18. 8. 19


Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Blog-Archiv

Pausen sind gut und nötig; der Pausenhof ist ein Übel.

                                                          aus Levana, oder Erziehlehre Die Schule ist ein Ort, der Kinder in einer so ...