Dienstag, 31. Januar 2023

Rechnen und lernen können Maschinen tatsächlich besser.

 Nürnberger Trichter                                  zu Levana, oder Erziehlehre
aus derStandard.at, 30. 1. 2023

Forscherin kritisiert "stupides Auswendiglernen" an Schulen und Unis
Die Informatikerin Ute Schmid mahnt ein moderneres Bildungssystem ein. Auch die Geisteswissenschaften könnten auf einen radikalen Umbruch zusteuern
.

von Martin Stepanek

Der Hype und die Diskussionen um das Sprachmodell Chat GPT reißen nicht ab. Während Schulen und Universitäten noch zwischen Verbot und bewusstem Einsatz lavieren – etwa was das Erstellen von Hausaufgaben und Seminararbeiten, aber auch die Zuhilfenahme bei Prüfungen betrifft –, finden Forscherinnen wie die Informatikerin Ute Schmid von der Otto-Friedrich-Universität Bamberg deutliche Worte.

"Sprachmodelle wie Chat GPT machen einmal mehr deutlich, dass stupides Auswendig-lernen und die Abfrage von derartigem Wissen an Schulen und Unis ein überholtes Kon-zept sind", sagt Schmid auf STANDARD-Nachfrage. Jahreszahlen auswendig zu lernen oder in Mathematik und Physik nur zu rechnen, anstatt diese Rechengänge tatsächlich ver-stehen, herleiten und formalisieren zu können, sei kaum zielführend. Denn diese Art von Wissen könne man sehr schnell online abrufen, und es sage wenig über die tatsächlichen Kompetenzen einer Person aus.

Im Zeitalter von künstlicher Intelligenz (KI) müsse man sich in Europa gut überlegen, "was wir mit Bildung meinen und wie wir Kompetenzen sinnvoll abprüfen". Denn die Art, wie geprüft werde, bedinge auch, wie gelernt und welche Fähigkeiten trainiert werden. Anstatt Wissen massenweise über Multiple-Choice-Tests abzufragen, schlägt die Forscherin ein Mehr an persönlichen Prüfungsgesprächen vor. Dass so ein Umbruch sehr personalintensiv und mit entsprechenden Kosten verbunden ist, liege allerdings auf der Hand.

Problem für die Geisteswissenschaft?


KI-Ethik-Experte Thilo Hagendorff von der Eberhard-Karls-Universität Tübingen geht noch einen Schritt weiter und glaubt, dass sich große Teile der Geisteswissenschaften neu erfinden müssen – vor allem die nicht empirisch arbeitenden Fächer. "Forschung basiert dort vielerorts auf der Exegese vergangener Texte. Bücher zu studieren und aus diesen Texten etwa für eine Dissertation zusammenzusetzen kann durch Sprachmodelle über-nommen werden", ist Hagendorff überzeugt.

Viele der tiefgreifenden Veränderungen durch künstliche Intelligenz, die sich auch in den Medien, in der Wirtschaft, aber ganz generell im menschlichen Zusammenleben wider-spiegeln werden, seien derzeit noch gar nicht abschätz- und vorstellbar. Von der in akademischen Kreisen diskutierten Forderung, dass Sprachmodelle wie Chat GPT in wissenschaftlichen Arbeiten angeführt werden sollten, hält er hingegen wenig: "Früher oder später wird jeder Sprachmodelle benutzen. Es geht dann aber weniger ums Schreiben solcher Texte, sondern wie man diese editiert."

Editieren statt schreiben

Die Frage, wie und ob Forschende beim Schreiben ihrer Arbeiten von künstlicher Intelligenz ersetzt werden können, bleibt umstritten. So wies Schmid etwa auf ein abgeblasenes EU-Projekt hin, bei dem das dolmetschende Personal von einem Sprachmodell hätte unterstützt werden sollen. Da das Editieren und Verbessern der maschinell übersetzten Texte teilweise so aufwendig war, dass die Übersetzer und Übersetzerinnen länger an einem Schriftstück saßen, als wenn sie es von vornherein selbst in eine andere Sprache übersetzt hätten, verzichteten sie auf dessen Einsatz.

Robotikprofessor Oliver Brock von der TU Berlin widerspricht Hagendorff ebenfalls, was das Verfassen akademischer Arbeiten betrifft. Existierende Texte so zu kombinieren, dass sich daraus eine relevante und interessante Forschungsarbeit ergebe, sei eine komplexe Aufgabe und mache genau die Leistung von Menschen aus. Er bezweifelt auch, ob Chat GPT dazu jetzt in der Lage wäre. "In all dem aktuellen Hype und Enthusiasmus um Chat GPT dominieren derzeit die Berichte darüber, was alles funktioniert. Darüber, was nicht funktioniert, liest man viel weniger", sagt Brock.

Wenn Chat GPT schwurbelt

Dass der Sprachbot auch im wissenschaftlichen Kontext überzeugend falsche Antworten liefert – der Fachbegriff dafür lautet "Halluzinieren" –, konnte DER STANDARD bereits in eigenen Experimenten dokumentieren. So beantwortete Chat GPT etwa die Frage nach dem pseudowissenschaftlichen Fantasiebegriff "linguistischer Magnetismus" mit einer selbstbewussten Erklärung, die von vorn bis hinten erfunden war. Die Zuordnung des angeblichen Phänomens zur Soziolinguistik machte die Erklärung ein Stück weit überzeugender, aber nicht weniger falsch.

Für Brock stellt sich überhaupt die Frage, ob man bei Chat GPT von künstlicher Intelligenz reden könne. "Vom Ziel, biologische Intelligenz zu synthetisieren, sind wir weiterhin weit entfernt. Chat GPT stellt dabei sicherlich keinen Durchbruch für die KI-Forschung dar", erklärt der Robotik- und KI-Experte. Zwar habe man beim maschinellen Lernen auf niedrigen Dimensionalitäten wie Sprache und Bilder viele Fortschritte gemacht. Aber bereits bei Videos oder auch beim Einsatz von Robotern in der viel höher dimensionierten realen Welt stoße man auf Herausforderungen, die man mit den Fähigkeiten von Sprachmodellen nicht lösen könne.

Wie funktioniert Intelligenz?

Um die Intelligenz von Lebewesen wie Menschen oder Tieren künstlich reproduzieren zu können, gibt es laut Ansicht von Brock eine wesentliche Hürde. So fehle es immer noch am tiefen wissenschaftlichen Verständnis, wie Intelligenz zustande komme und funktioniere. Dazu sei ein interdisziplinärer Ansatz notwendig, der neben der Neurowissenschaft auch die Psychologie und Erziehungswissenschaften umfassen müsse. "Wir müssen Wissenschafter trainieren, an diesen Grenzbereichen zu forschen. Dafür wird es auch neue wissenschaftliche Methoden brauchen", ist Brock überzeugt.

Für Diskussionspotenzial sorgt immer wieder auch der Umstand, dass viel KI-Forschung in der Hand kommerzieller Unternehmen stattfindet. Ethikexperte Hagendorff erachtet die Kommerzialisierung per se nicht als problematisch. Viele Modelle und die Technologien dahinter würden zudem als Open Source teilweise frei zur Verfügung gestellt. Heikel werde es allerdings, wenn die zentralisiert gesteuerten Modelle normative, wertende Antworten geben – etwa auf Fragen, ob dies oder jenes Konzept gut oder schlecht sei. "Wenn diese Maschinenmoral von einer einzelnen Firma bestimmt wird, sehe ich das als sehr problematisch", sagt Hagendorff auf STANDARD-Nachfrage.


Nota. - Was ein Wissen taugt, nämlich für objektivierbare Zwecke,  macht womöglich nicht seine Qualität aus, denn die wäre eventuell selber Zweck. Und eine Qualität lässt sich durch formalisierte Tests vermutlich nicht erfassen, weil die es auf Relationen abgesehen haben und nicht auf Qualitäten. Die nicht erst  gegenwärtige Bildungsdiskussion dreht sich im Kreis, weil immer zu viele überkommene Gegebenheiten als selbstverständlich vorausge-setzt bleiben. Eine Bildung, die auf absehbare Nützlichkeit abgestimmt ist, ist eo ipso unzweckmäßig - ganz prosaisch gedacht und gesprochen. Der technische Fortschritt ist so rasant, dass, was heute dem Schüler als allerletzter Schrei beigebracht wird, schon veraltet ist, wenn er die Schule verlässt. 

Das war schon vor zwanzig, dreißig Jahren so, doch mit der KI wird es auch für didaktische Laien evident: Bildung entsteht nicht durch Akkumulation von sachlichen Informationen, sondern durch Ermächtigen zum Selberurteilen. Und das ist schlechterdings etwas anderes. Es ist jedenfalls nichts, was der eine hat und dem andern, der's noch nicht hat, beibringt: Der wird es selbst erfahren müssen.

Ach ja, "Herr E., wo bleibt das Positive?" - Weiß ich doch nicht. Aber ihr tätet schon einen gewaltigen Schritt, wenn ihr einsehen wolltet, was auf jeden Fall nicht (mehr) richtig ist (wenn's das je war).
JE

Montag, 30. Januar 2023

Machterschleichung, II.


aus welt.de, 28. 1. 2023                           Hitler, m., v. Papen, r.                                                    zu öffentliche Angelegenheiten
              
Wie Macht in Hitlers unberechenbare Hand gelangen konnte
Eine Intrige mit schlimmen Folgen: Der Zeithistoriker Lothar Machtan erklärt, welche Ränke dem Chef der Nationalsozialisten die Reichskanzlerschaft einbrachten, wer welche Ambitionen hatte – und welche Rolle ein Gerücht spielte.


Ein Interview mit Prof. Lothar Machtan
Interviewer  Sven Felix Kellerhoff

WELT:
 Haben Hitler und die NSDAP am 30. Januar 1933 die „Macht ergriffen“?

Lothar Machtan: Nein. Das ist ein Märchen, das die Nazis selbst später in die Welt gesetzt haben. Um ihren Anteil an dem kapitalen Ereignis größer zu machen, als er tatsächlich war. Es war ein kleiner Zirkel von Reaktionären, die Hitler Regierungsmacht in die Hand gespielt haben. In vorderster Front: Deutschlands Staatsoberhaupt Reichspräsident Paul von Hindenburg, und die beiden sich bis aufs Messer bekämpfenden letzten Kanzler der Weimarer Republik Franz von Papen und General Kurt von Schleicher – nebst ihren jeweiligen Cliquen. Sie geboten damals über die meiste Entscheidungsmacht; direkte oder indirekte. Deutschlands Schicksal hing am Ende an den Fäden, die von diesen politischen Schlüsselfiguren gesponnen bzw. durchkreuzt wurden. Ihre persönlichen Beziehungen, genauer: ihre Kabalen sind in der Regierungskrise vom Winter 1932/33 ins Zentrum der politischen Entscheidungsfindung gerückt.

WELT: Wenn es keine „Machtergreifung“ war – was denn dann?

Machtan: Hitlers Lancierung zum Chef einer „Regierung der nationalen Konzentration“ war ein politisch gesteuerter Vorgang, der sich allerdings unter einer Käseglocke abgespielt hat. Und unter den Bedingungen der kranken Machtkultur eines seit Monaten kriselnden Staates. Die hat an der Jahreswende 1932/33 auch solche früheren Bedenkenträger einer Machtübertragung an Hitler infiziert wie den Chef der Deutschnationalen Volkspartei Alfred Hugenberg oder Stahlhelm-Führer Franz Seldte. Am Ende schoben alle ihre Skrupel beiseite, und das politische Wagnis einer Reichskanzlerschaft Hitlers wurde gleichsam „alternativlos“. Weil man anders nicht mehr glaubte, selbst an das Ruder eines neuen Machtstaats zu gelangen (oder zu daran zu bleiben). Was für eine Katastrophe sie damit auslösen würden, schwante wohl den wenigsten der damaligen Entscheidungsträger.

WELT: Am Tag vor Hitler Ernennung zum Kanzler liefen in Berlin Putschgerüchte um. Die Reichswehr marschiere und wolle die Macht selbst übernehmen, hieß es. Was war da dran?

Machtan: Ende Januar 1933 hat der Chef der Heeresleitung Kurt von Hammerstein-Equord tatsächlich an so etwas wie die Selbstermächtigung einer Militärregierung gedacht. Ein solches – sagen wir einmal – „Direktorium“ war aber hauptsächlich gegen Hindenburg/Papen gerichtet, nicht gegen Hitler. Der hätte sogar ruhig Kanzler werden können – nur eben von der Reichswehr Gnaden und kontrolliert von Schleicher und Hammerstein.

WELT: Wieso kam es dazu nicht?

Machtan: Schleicher zögerte; er blieb ambivalent sowohl, was seine Frontstellung zu Hindenburg als auch zu Hitler betraf. Seine Loyalität gegenüber Hindenburg erodierte, aber auch seine Animosität gegenüber einer Kanzlerschaft Hitlers. Rücksichtslos eigene Wege mochte er ebenfalls nicht gehen. Das lief dann auf eine Selbstblockade hinaus. Und letztlich wurde der Plan auch fallen gelassen.


Machtan: Keineswegs. Als Drohkulisse wurde diese Machtoption der Militärs von interessierter Seite durchgestochen (und wohl auch aufgebauscht). Dadurch konnte der Plan eine Eigendynamik entfalten, die am Ende Hindenburgs Bereitschaft, Hitler zum Kanzler zu ernennen, maßgeblich beeinflusst hat. Es war also die politische Wirkungsmacht eines Gerüchts, die Weltgeschichte (mit)geschrieben hat – eine Breaking News freilich, an der tatsächlich etwas dran war. Vor allem die ernsthafte Erwägung der Schleicher-Leute, Hindenburg aufs Altenteil abzuschieben.

WELT: Die entscheidende Figur am 30. Januar 1933 war Hindenburg. Was wollte er, was war sein Ziel?

Machtan: Die Politik der Hindenburg-Kamarilla zielte seit Mitte Januar 1933 zunächst und vor allem auf eines: auf die Ausschaltung von Schleicher, bis dahin die Graue Eminenz im politischen Berlin. Hindenburg wollte auf keinen Fall seine Kontrolle über die Reichswehr an diesen gewieften Machtjongleur verlieren, dessen Finessen ihn zutiefst beunruhigten. Viel mehr an strategischen Überlegungen war da erst einmal nicht. Hindenburgs (zunächst heimlicher) Auftrag zur Regierungsneubildung an Papen war eher ein Nebenkriegsschauplatz. Das hatte auch keine Eile.



Adolf Hitler und Hermann Göring am Abend des 30. Januar 1933 am Fenster der Reichskanzlei. Im Hintergrund rechts: Rudolf Heß


Dann steigerte sich – nicht zuletzt durch eine brodelnde Gerüchteküche – die Dramatik von intriganten Vorgängen in der Berliner Wilhelmstraße, die schließlich den Reichspräsidenten bestimmten, in Hitler das wesentlich kleinere Übel gegenüber Schleicher zu sehen. Denn zwei Dinge darf man dem greisen Staatsoberhaupt auch in der angespannten Situation der letzten Januarwoche getrost zubilligen: ein ungetrübtes Machtbewusstsein und den festen Willen, die Macht konkurrierender Akteure zu brechen. Hindenburg hat kalkuliert, wie hoch für ihn persönlich (und für sein Image) der Schaden ist, den die Ernennung Hitlers verursachen könnte. Die Antwort war: gering. Die anderthalb Lebensjahre, die ihm verblieben, haben seinem Kalkül Recht gegeben.

Hindenburg

WELT: Ist die Machtübernahme durch die NSDAP 1933 hinreichend erforscht? Oder gibt es doch noch offene Fragen?

Machtan: Mit Blick auf die Festmeter an einschlägiger Literatur scheint kaum ein politisches Ereignisfeld gründlicher erforscht zu sein als das Schwellenjahr 1933. Doch fragt man nach dem historisch-politischen Kern dieser Zäsur – für mich ist das die Unumkehrbarkeit von Hitlers Ermächtigung – so bleibt da vielleicht noch einiges aufzuklären. Namentlich: Ob das Schlüsseldatum 30. Januar 1933 bereits der point of no return war? Weil damals bereits alle halbwegs realistischen machtpolitischen Alternativen zu Hitler (Militärdiktatur oder Restauration der Monarchie etwa) verspielt oder verschüttet wurden. Und wenn das so war, wofür meines Erachtens einiges spricht, so stellt sich die Frage nach den speziell dafür Verantwortlichen und deren Motiven umso dringlicher. Deshalb dürfte es sich weiterhin lohnen, die Fährte nach neuen Quellen aufzunehmen. Also nach Zeugnissen, die uns noch besser verstehen lassen, wie 1933 unwiederbringliche Macht in die unberechenbare Hand eines Adolf Hitler gelangen konnte.
 

Lothar Machtan, emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bremen, gehört zu den Historikern, die immer auf der Suche nach bislang unbekannten Zeugnissen über die Vergangenheit sind, um so Rätsel zu lösen. Zu seinen Büchern zählt ein Band über das Foto Otto von Bismarcks auf dem Sterbebett, eine Biografie des letzten Reichskanzlers des Kaiserreichs Prinz Max von Baden sowie jüngst eine Studie zum „blinden Fleck“ der Hohenzollern-Dynastie unter dem Titel „Der Kronprinz und die Nazis“.


Nota. - Hätte es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben, wenn Hitler nicht Reichskanzler geworden wäre? Den zweiten Weltkrieg hat es gegeben, weil mit dem Vertrag von Versailles die Gründe, wegen derer es zum Ersten gekommen war, nicht erledigt wurden - das war nur eine der allseitigen Erschöpfung geschuldete Waffenruhe. Das von Großbritannien beherrschte Gleichgewicht auf dem Weltmarkt war ins Wanken geraten, weil die neuen Mächte Deutschland, Amerika und Japan nach einem Platz an der Sonne drängten.

Hätte es den Faschismus nicht gegeben, wenn es die Oktoberrevolution nicht gegeben hätte? Ernst Nolte hatte völlig Recht - das, was er den "europäischen Bürgerkrieg" genannt hat, ist im Auge des kritischen Betrachters die Geschichte vom Scheitern der Weltrevolution gewesen. Die imperialistischen Gegensätze hatten den Weltmarkt in eine Zerrüttung geführt, die er bis Sommer 1939, dem Moment des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs, nicht überwunden hatte - und prompt ging es wieder da los, wo es 21 Jahre zuvor steckengeblieben war. 

Wer oder was hätte es hindern können? Die Ausweitung der Oktoberrevolution auf die industrialisierten Länder des Westens. Das war die Alternative: Revolution oder Konterrevolution. Wo die proletarischen Massen in Bewegung geraten waren, konnte die Konterrevolution nicht siegen, wo sie ihr Gesicht gezeigt hätte - nicht als Freikorps und nicht als Hitler-Ludendorff-Putsch. Er musste sich selber als Revolution verkleiden und Massen in Bewegung bringen..

"Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen", hieß es im Horst-Wessel-Lied, dem Hymnus der SA. Reaktion, das waren Hugenberg und von Papen, und unter vorgehaltener Hand der Reichsmarschall Hindenburg. Eine bloß scheinhafte Zwischenwelt war das System, nämlich das weimarische, wo hinter der Kulisse einer parlamentarischen Schwatzbude Regierungskombinationen in Kabinettsintrigen ausgefeilscht wurden. 

Gegen die Reaktion hier und die vaterlandslose rote Revolution dort schritt mit festem Tritt seit 1923 die nationale Revolution des Nationalsozialismus, kompromisslos gegen Links und  Rechts von... Wahlsieg zu Wahlsieg. Doch außer den verhöhnten Wahlzetteln hatten sie nichts aufzubieten

Ihr ausgesuchter Gegner war die organisierte Arbeiterbewegung, die hätte sie auf offenem Feld schlagen und dabei - die nationalrevolutionäre Maske fallenlassen müssen. Einem solchen Offenbarungseid war schon Mussolini wohlweislich aus dem Weg gegangen.

Als im Herbst 1932 die NSDAP zum erstenmal seit zehn Jahren bei der Reichstagwahl stimmen verloren hatte und in Millionenhöhe, da schien die rhetorische Blase geplatzt zu sein. Es galt, zu retten, was zu retten war, irgendein namhafter Erfolg musste her, kostete es was es wollte. Warum nicht eine Kabinettsintrige in bestem weimarischen Stil? Eine Strategie hatte es gar nicht gegeben, warum nicht eben Taktik von der Hand in den Mund!

Der Nationalsozialismus hat genausowenig je gesiegt wie Mussolinis Faschismus. Sie haben sich nur so durchgemogelt.

Wie kann das sein - ein so gewaltiges weltgeschichtliches Ereignis aus so erbärmlich kleinem Anlass?

Die Größe der Ereignisses lag in der Größe des Verrats derer, gegen die es gerichtet war, an den Millionen von Arbeitern, die ihnen - "trotz allem"! - vertraut hatten.

Die wahre Schuld an Faschismus, Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg tragen die sozialdemokratischen und stalinistischen, stalinistischen und sozialdemokratischen Führungen der europäischen Arbeiterbewegung.
JE


 



                 

Nachtrag zur Ganztagsschule.


aus Badische Zeitung, Freiburg, 30. 1. 2023                                                    zu
 Levana, oder Erziehlehre

Mit mehr Sozialarbeitern wollen Denzlinger Schulen der zunehmenden Gewalt begegnen

Von Markus Zimmermann

Denzlingen. Die Leiterinnen der Denzlinger Schulen sind alarmiert, weil die Gewalt unter Schülern seit der Pandemie zugenommen hat. Helfen sollen mehr Schulsozialarbeiter. Das Deputat wurde deutlich aufgestockt. ...


Nota. - Ende der sechziger Jahre hat sich die Sozialarbeit in Deutschland als ein selbst-ständiges Berufsbild durchgesetzt. Es wurde geprägt von unternehmungslustigen jungen Leute mit weitem Horizont, die Neuland entdecken wollten. Dass dieser Beruf mit Risiken gepflastert  ist, war ihnen eine Herausforderung.

Heute drängen sie in den Öffentlichen Dienst als sein verlängerter Schreibtisch. Und die Lehrer brauchen Entlastung, um sich ihren Halbtagsjob zu bewahren. So ist für alles gesorgt.
JE


Nota. - Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Sonntag, 29. Januar 2023

Seit wann es Kunst gibt.

 Giotto                                                                                   zu Geschmackssachen 

Seit es für Kunst einen Markt gibt, sind Künstler Konkurrenten. Und erst, als sie konkur-rierten, wurden sie zu Künstlern. Doch erst, seit es Künstler gab, gibt es in einem rationel-len Sinn Kunst.



Samstag, 28. Januar 2023

Schon die Antiken haben perspektivisch gemalt.

Wandgemälde aus Stabiae bei Pompeji: Hafen am Golf von Neapel                                                     zu Geschmackssachen 

Die pedantisch-geometrische Zentralperspektive wurde in der Renaissance erfunden. Aber perspektivisch gesehen und gemalt wurde schon viel früher.



Ganztags nur für Schüler; für Lehrer halbtags.

aus welt.de, 28. 1. 2023                                                                                              zu Levana, oder Erziehlehre

... Die Möglichkeit, die wöchentliche Arbeitszeit flexibel auf die eigenen Bedürfnisse abzustimmen, gilt als einer der zentralen Vorteile des Lehrerberufs. Nicht von ungefähr arbeitet fast die Hälfte der deutschen Lehrerinnen und Lehrer in Teilzeit. Weil sie Kinder oder Angehörige zu versorgen haben, weil sie Wert auf Work-Life-Balance legen – oder weil sie bewusst weniger arbeiten, um leistungsfähig zu bleiben. ...

Nota. - Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Freitag, 27. Januar 2023

Mehr als bloß ein Turing-Test.

 bing                                zu Philosophierungen  zu Jochen Ebmeiers Realien
aus FAZ.NET, 27. 1. 2023

Turing-Test
Künstliche Intelligenz kann kenntnisreiche Texte über Hegels Logik schreiben. Trotzdem würden wir uns nicht mit einem Algorithmus zum Cappuccino verab-reden. Worin genau unterscheiden sich Apparatur und Mensch?

Ein Kommentar von Jürgen Kaube

Vor Kurzem wurde ein Mitarbeiter von Google entlassen, der sich in eine Form von Künstlicher Intelligenz verliebt hatte. Beschäftigt mit einem Algorithmus, der Antworten auf eingegebene Fragen gibt, schrieb er ihm menschliche Qualitäten zu. Die Maschine schien ihm ein echtes Gegenüber. Das war dem Konzern zu viel der Begeisterung für Künstliche Intelligenz. Womöglich war der Mitarbeiter auch sonst an­stren­gend, und so trennte man sich von ihm.

Das wirft abermals die Frage auf, was die künstlich intelligenten Apparaturen von Menschen unterscheidet. Lange wurde vermutet, die Computer könnten nicht an­spruchs­voll kommunizieren. Die An­nah­me war, wir würden an den Antworten schon merken, dass es sich um Maschinen handelt. Inzwischen ist man sich da nicht mehr so sicher.

Eine Software fertigt Texte an, von denen Professoren sagen, sie könnten sie nicht mehr von den Texten der Studenten unterscheiden. Das liegt zu­wei­len an den Fragestellungen, die den Studenten für ihre Hausarbeiten aufgegeben werden. Man kann sie maschinenhaft bewältigen, also hat die Maschine keine Schwierigkeiten mit ihnen.

Wenn man fragt, welche Probleme es mit dem Anfang von Hegels Logik gibt – eine sehr spezielle Frage –, greift die Künstliche Intelligenz auf alle Texte zurück, die dazu digital verfügbar sind, und schreibt einen Bericht, der sich durch Kenntnis der Literatur auszeichnet. Wo bleibt dann der Mensch, an dem wir rührend festhalten?

Ein Punkt wäre, Originalität im Sinne der Abweichung von im Internet-Archiv vorhandenen Texten zu einer Frage zu erwarten. Für Studenten wäre das allerdings zu viel verlangt. Warum sollten sie denn mehr als den Stand des bislang Gesagten zu einer Fragestellung wiedergeben können? Und das können inzwischen Computer eben auch. Liegt darin eine Kränkung für den Menschen?

Im Grunde sagt die Fähigkeit der Algorithmen, das Internet durchforsten zu können und dann Texte hervorzubringen, die wir zuvor allein Menschen zugetraut haben, vor allem dies: Das Menschliche liegt nicht darin. Der Algorithmus kann Referate zum Anfang von Hegels Lo­gik hervorbringen, aber wir würden uns trotzdem mit ihm nicht auf einen Cappuccino verabreden. Und die Studenten würden in einer mündlichen Prüfung sich deutlich von den Computern unterscheiden, die ihnen Texte geliefert haben.

Will sagen: Die menschlichen Fähigkeiten sind viel stärker in unseren Möglichkeiten verankert, etwas wahrzunehmen, es in Körperbewegungen umzusetzen und spontan zu reagieren, als in Kognitionen und in Wissen, das Texte hervorbringt. Doch wir müssen einschränken: Das gilt einstweilen.


Nota. - Thema verfehlt!

Das Tamtam um die KI spielt nicht mit der Befürchtung, dass sie eines Tages so viel sympathischer als die mehr oder minder intelligenten Lebendigen würde und den Männern die Frauen, den Frauen die Männer und der Queeren die Queeren ausspannen könnte. 

Mancher mag meinen, dass die Paarung im Leben das wichtigste und darum unter Menschen das Menschlichste sei. Kaube jedenfalls meint, das Menschlichste am Menschen sei gerade etwas, das er mit anderen Lebenden teilt. Dass sie uns ausgerechnet darin überrunden könnte, versetzt aber keinen in Sorge; sondern uns überrundet in dem, was an den Menschen das spezifisch Menschliche ausmacht - nämlich ihre Vernunft. Dann würde die KI nicht diesen oder jen*innen die Lebensabschnittsgefährt*innen verknappen, sondern wg. größerer Klugheit die Kontrolle über unsere Lebensbedingungen gewinnen und uns beherrschen können.

Dabei würden Charme, Leidenschaft und manche liebenswerte Schwäche sie ja nur hindern. Hindern nämlich an ihrer Perfektionierung. Die Vernunft lässt sich aber nicht perfektionie-ren, weil sie kein Objektivum, kein Absolutum ist, nichts, das an sich und für sich allein bestehen kann. Von künstlicher Vernunft ist bezeichnenderweise ja nicht die Rede, sondern lediglich von Intelligenz, die nie an sich, sondern immer nur im Verhältnis auftritt: die stets nur dient, nämlich einem Zweck. Intelligenz kann unterscheiden und kombinieren, sie ist rein technisch. Zur Vernunft reicht das nicht. Vernunft ist Intelligenz im Dienst der Urteilkraft. Der Kraft, die nicht nur feststellt, was wirklich ist, sondern aufstellt, was sein soll

Kaube hat nicht Unrecht, wenn er sagt, dass maschinelle Intelligent nicht einmal - und nicht nur einstweilen, sondern definitiv - nicht zu einem Organismus gehört, der selber als deren Teil in reeller unausgesetzter aktiver Wechselwirkung mit der ganzen Welt steht. Und selbst wenn sie es täte, fehlte ihr immer noch das Vermögen, zu urteilen. Doch jenes ist der Grund von diesem. Urteilen ist an sich ästhetisch.
JE

Die Nebelbank Ganztagsschule.


aus derStandard.at, 26. 1. 2023                                                                                          zu Levana, oder Erziehlehre

Die Ganztagsschule wird's auch nicht richten
Um Ungerechtigkeiten im Bildungssystem auszugleichen, wird schnell nach der Ganztagsschule gerufen. Dass die Forschung hier widerspricht, scheint egal. Was tatsächlich helfen würde: eine gemeinsame Schule!


von Ferdinand Eder

Bildungsexperte Ferdinand Eder schreibt in seinem Gastkommentar, dass der "außerge-wöhnlich starke Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildungsergebnisse und Bildungs-laufbahnen nicht daraus resultiert", dass die Schule hierzulande eine Halbtagsschule ist. 

Ilkim Erdost, Bereichsleiterin Bildung in der Arbeiterkammer Wien, listet in ihrem Gast-kommentar zu einem Beitrag des Sozial- und Wirtschaftswissenschafters Paul Reinbacher vieles zutreffend auf, was das österreichische Schulsystem nicht leistet, und diagnostiziert dafür die "Halbtagsschule" als Ursache. Als ob das "Weh und Ach" der Schule "aus einem Punkte zu kurieren" wäre.

Die im Beitrag angesprochenen großen Leistungsunterschiede in den Bildungsstandards zwischen Volksschülerinnen und Volksschülern aus Akademikerfamilien und jenen aus Familien mit maximal Pflichtschulabschluss, um nur auf ein Thema einzugehen, können wohl nicht generell dem Faktor Halbtagsschule zugeschrieben werden: Im ganztagsschul-reichen Wien sind diese Unterschiede um ein Drittel höher als im ganztagsschularmen Kärnten.


Der in Österreich außergewöhnlich starke Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildungs-ergebnisse und Bildungslaufbahnen resultiert ja nicht daraus, dass die Schule eine Halbtags-schule ist, sondern aus einer Tradition des Denkens über Lernen und Leistung, die nicht auf Förderung, sondern auf Auslese ausgerichtet ist. Bereits in der Volksschule wird getrennt zwischen Kindern, denen man eine "höhere" Bildung zutraut, und solchen, die lediglich eine "mittlere" erhalten sollen – mit dem Ergebnis, dass sich in der ersten Gruppe die Kinder aus Familien mit höherer Bildung und in der zweiten jene mit niedriger Bildung wiederfinden.

In der anschließenden AHS-Unterstufe haben fast 80 Prozent der Eltern zumindest Matura, in den Mittelschulen sind es rund 40 Prozent, und an manchen Mittelschulstandorten geht diese Quote gegen null. Die Zusammensetzung von Schulklassen mit überwiegend sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern ist ein entscheidender Faktor dafür, dass an manchen Einrichtungen ein Bildungs- und Lernmilieu entsteht, in dem sich die Kinder und Jugendlichen wechselseitig am Lernen hindern und Lehrpersonen in ihrem Bemühen um Förderung leistungsschwächerer Schülerinnen und Schüler resignieren.

Die 2018 ermöglichte Aufteilung der Mittelschulschülerinnen und -schüler nach zwei Gütestandards ("Standard" und "Standard AHS") bildet den vorläufig letzten Schritt in dieser Tradition der Auslese, die so weit führt, dass sogar positive Noten, die Schülerinnen und Schüler in der Leistungsgruppe "Standard" erreichen, schulrechtlich einem "Nicht genügend" gleichgestellt werden. Nicht der Halbtagscharakter, sondern die Struktur des Schulsystems ist – ungeachtet anderer Einflüsse – der entscheidende Faktor, dass Lernerfolge ausbleiben und Förderung nicht ausreichend geschieht.

Das Heilmittel?

Erdost sieht in Ganztagsschulen das Heilmittel für fast alle Mängel des Schulsystems. Aber: Die Annahme, more of the same, also die Ausweitung der Schulzeit in Form einer gut organisierten Ganztagsschule, wäre hier schon die Lösung, ignoriert die wissenschaftliche Befundlage. Nicht nur "ambivalente" Befunde, wie Reinbacher schreibt, nein: klare Befunde widersprechen dieser Annahme. Im Einklang mit bisherigen Forschungsergebnissen resümieren die Autorinnen und Autoren einer neuen Untersuchung in Deutschland: "Es findet sich kein signifikanter Effekt des Ganztagsschulbesuchs auf Lernleistungen, wenn man die Standardisierten Tests betrachtet. Aber in Deutsch und Mathematik verbessert sich die Einschätzung der Schülerinnen und Schüler durch die Lehrkräfte, die Noten verbessern sich." Die Studie beruht auf einer Längsschnittanalyse mit 5.000 Schülerinnen und Schülern, deren Entwicklung seit 2012 begleitet wurde. Und auf die Frage nach der Verringerung der gesellschaftlichen Ungleichheit lautet der Befund: "Die sehen wir nicht in den Daten!" Dahinter stehen immerhin fast 20 Jahre Ganztagsschulentwicklung in Deutschland, in der redlich versucht wurde, Modelle und Praktiken für eine ganztägige Beschulung zu entwickeln.

Entlastung der Familien


Die ganztägige Schule leistet einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung sozialer und gesellschaftlicher Entwicklungen, insbesondere eine Unterstützung der Frauen bei der Bewältigung ihrer beruflichen und familiären Herausforderungen, eine Entlastung der Familien vom nervigen täglichen schulischen Kleinkram wie Aufgabenbetreuung. Und sie bietet andererseits den Kindern und Jugendlichen Raum für die Entwicklung ihrer sozialen Beziehungen. Das reicht als Rechtfertigung aus, Schule anders zu organisieren – sie ist ja dazu da, gesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen, auch die "Aufbewahrung" und Betreuung von Kindern während der Berufstätigkeit ihrer Eltern. Das sollte auch den finanziellen Aufwand wert sein.

Der Ganztagsschule aber signifikante Effekte zur Lösung pädagogischer oder bildungspolitischer Herausforderungen zuzuschreiben, dafür fehlt zurzeit jegliche Evidenz. Und jene Länder, die als Beleg für das pädagogische Potenzial von Ganztagsschulen herangezogen werden, haben so gut wie alle im Pflichtschulbereich Gesamtschulen, also gemeinsame Schulen auch für die Zehn- bis 14-Jährigen, eingeführt und auf diese Weise einen entscheidenden Schritt zur Verringerung sozialer Ungleichheit in der Schule und damit zur Verbesserung der Lebenschancen ihrer Kinder und Jugendlichen gesetzt. "Aus der Zeit gefallen", wie Erdost schreibt, ist nicht unmittelbar die Halbtagsschule, sondern das "differenzierte" zweigliedrige Schulsystem, das allein durch seine Struktur und die daraus resultierende Abwertung der Leistungsschwächeren Jahr für Jahr Bildungsverliererinnen und Bildungsverlierer erzeugt.

Wer sich als Lobby für Kinder und Jugendliche und weniger als Interessenvertretung verstehen möchte, fände in der Umsetzung einer gemeinsamen Schule für alle ein bei weitem wirkungsvolleres Handlungsfeld.

Ferdinand Eder ist pensionierter Professor für Pädagogik an der Universität Salzburg mit Schwerpunkt Schul- und Bildungsforschung sowie Herausgeber der "Zeitschrift für Bildungsforschung".


Nota. -  Das ist löblich, dass endlich einer vom Fach den Rauchschleier zerreißt, den interessierte Standesvertreter und die Tenöre der Industrie über die Ganztagsschule gebreitet haben. Doch als hätte er Angst vor der eigenen Courage, lässt er ihren Apologeten doch noch ein Schlupfloch offen: Wenn sie schon sonst nicht viel taugt, böte sie immerhin "den Kindern und Jugendlichen Raum für die Entwicklung ihrer sozialen Beziehungen". Das ist nicht, wie Lenin sagt, ein Löffel Teer in einem Honigfass, das ist selbst ein Fass Teer.

Dieselben Medien, die das Publikum mit Ganztagsserenaden umgirren, trommeln bei jeder neuen Gelegenheit über Mobbing auf den Pausenhöfen und Bewaffnung an den Schulen. 'Braucht es' dort also eine längere Verweildauer, um die Resistenz aufzuweichen? 

Nichts ist schädlicher fürs "Einüben sozialer Verhaltensweisen" als ein Pausenhof. Die künstliche tägliche Vermassung von je ein paarhundert Kindern trägt nicht zu ihrer Sozialisierung, sondern zur Verwahrlosung bei, die die von Markt und Verwaltung erodierte naturwüchsige Kindergesellschaft gar nicht mehr kompensieren kann. Weniger Pausenhof ist aber nur vertretbar bei weniger Unterrichtsstunden. Mehr Kindergesellschaft fördert nicht nur die spontanen Sozialbildung der Kinder, sondern regt ihre Neugier, Abenteuerlust und den Tätigkeitsdrang an. Das ists, worauf es künftig ankommen wird. Denn nicht nur wird das Speichern von Informationen von den Maschinen besser besorgt, sondern außerdem werden immer mehr freie Intelligenzen erforderlich, um sie unter Kontrolle zu halten.

Herr Eder, fassen Sie sich ein Herz und sagen Sie über die Ganztagsschule die ganze Wahrheit, die Sie ohne Zweifel längst kennen und bloß nicht auszusprechen wagen: Sie ist nicht nur didaktisch unnütz, sondern pädagogisch richtig schädlich.
JE


Donnerstag, 26. Januar 2023

Landschaft hat keine Zeit.

William Gershom Collingwood, A Winter Rainbow; Coniston Fells, 1927  zu Geschmackssachen 

Es ist genügend stimmungsgeladen, um die Frage aufzuwerfen, ob es nicht etwas kitschig sei. Mir fiel zunächst aber auf, dass man nicht sogleich erkennt, aus welcher Epoche es stammt. Nach Hollands Goldenem Zeitalter gewiss, und auch nach Gainsborough. Nach Constable? Ja, es ist um die Realität etwas zu unbekümmert. Nach Turner? Dafür hält es sich zu eng ans Gegenständliche des Gegenstands. Aus der Umgebung von C. D. Friedrich auch nicht, es spricht ja keine Bände, oder anders gesagt: Es beachtet an den Gegenständen zu sehr das Ästhetische, aber lädt ihm keine Botschaft auf. Na und so weiter.

Es stammt aus einer Zeit, als in Deutschland der Expressionismus schon der Neuen Sach-lichkeit gewichen und Kandinsky von den wilden Rundungen zur Geometrie des Art Déco übergegangen war.

Ich will nur sagen: So zeitlos ist kein anderes Sujet.



Um Himmels Willen nicht zu schlau!

 Klaus Kammer in Bericht für eine Akademie;                             zuJochen Ebmeiers Realien
aus derStandard.at, 18. 1. 2023

Die DNA, die uns zu Menschen macht, hemmt teilweise die Hirnentwick-lung, statt sie zu fördern
DNA, die mit der Entwicklung des Gehirns in Verbindung steht, veränderte sich in der Entwicklung des Menschen besonders schnell. Doch ihre Wirkung ist komplexer als vermutet


von Reinhard Kleindl

Ein Prozent – so groß ist der Unterschied zwischen Schimpansen und Menschen, wenn es um die DNA geht. Der entscheidende Faktor, der aus verwandten Spezies im einen Fall Tiere ohne Fähigkeit zu Schriftlichkeit, komplexer Sprache oder zum Errichten von Bauwerken oder Verwaltungsstrukturen macht, im anderen Fall Menschen und mit ihnen die ganze Welt der Wissenschaft und Kultur, muss irgendwo in diesem einen Prozent des Genoms liegen.

Nun fördert eine neue Studie eine weitere Überraschung zutage. Ausgerechnet jene Bereiche der DNA, die sich besonders von der DNA unserer nächsten Verwandten unterscheiden, haben vielfach hemmende Wirkung auf die Hirnentwicklung. Das berichtet nun ein Team um die Genetikerin Katie Pollard in einer kürzlich im Fachjournal "Neuron" veröffentlichten Arbeit.

Konkret untersuchte Pollards Team, das an den Gladstone Institutes in San Francisco forscht, Bereiche der DNA, die sich bei der Entwicklung des Menschen besonders schnell veränderten, sogenannte HARs, ein Kürzel, das zu Deutsch für "beim Menschen beschleunigte Regionen" steht. HARs sind Bereiche der DNA, die über lange Zeiträume der Evolution in verschiedensten Spezies unverändert blieben, beim Menschen aber eine rasante Entwicklung erfuhren und deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit für Eigenschaften stehen, die uns so typisch menschlich machen.

Die HARs wurden 2006 von Pollard entdeckt. Bei den meisten dieser Unterschiede handelt es sich nicht um Gene, sondern um regulatorische Faktoren, die über die Aktivität von benachbarten Genen entscheiden. Es überrascht nicht, dass einige der in den HAR-Regionen liegenden Gene entscheidende Funktion für die Hirnentwicklung haben. Andere Bereiche werden mit der Entwicklung des Daumens in Verbindung gebracht.

Hemmende Wirkung

Ausgangspunkt der nun veröffentlichten Arbeit war zu untersuchen, wie sogenannte Enhancers, die das Ablesen von für die Hirnentwicklung wichtigen Genen verstärken, mit den HARs in Verbindung stehen. Es wäre plausibel gewesen, in den HARs überwiegend eine verstärkende Wirkung zu finden. Bei der Untersuchung von 2.500 HARs zeigte sich zwar, dass manche der DNA-Sequenzen tatsächlich Enhancers sind, 43 Prozent aber eine entgegengesetzte Wirkung haben.

Statt wie sonst in der Genetik auf "Mausmodelle" zu setzen, bei denen Mäuse gentechnisch verändert werden, gelang die Untersuchung mithilfe von künstlicher Intelligenz. "Diese Ergebnisse erforderten hochmoderne Werkzeuge des Maschinenlernens, um Dutzende neuartiger Datensätze zu integrieren, die von unserem Team generiert wurden", erklärt Pollards Kollege Sean Whalen, der auch Erstautor der nun erschienenen Studie ist.

Um sicherzugehen, dass die mit dem Computer gewonnenen Ergebnisse korrekt sind, wiederholte das Team die Untersuchung zuerst mit einem alternativen Algorithmus für maschinelles Lernen. Daraufhin wechselte man ins Labor. Gemeinsam mit einem Team der University of California in San Francisco gelang es, die HARs in Vorläuferzellen der Nervenzellen von Affen und Menschen mit einer Art von genetischem Barcode zu kombinieren. Jedes Mal wenn der betreffende DNA-Bereich aktiv war, wurde beim Ablesen eine spezifische RNA-Sequenz erzeugt, die sich im Labor nachweisen ließ und Aufschluss über die Aktivität gab. Das Ergebnis ließ sich auch hier bestätigen.

Überbordende Hirnentwicklung

Der Fund stellt die Forschenden allerdings vor ein Rätsel. Warum hemmt die typisch menschliche DNA teilweise die mit der Hirnentwicklung in Verbindung stehenden Gene? Und: Würden wir ohne diese Hemmung noch menschlicher, quasi zu Übermenschen werden? Pollard hat eine Theorie: Es sehe so aus, als würde überzogene Menschlichkeit im genetischen Sinn zu Problemen führen, weshalb das gleichzeitige Auftreten hemmender genetischer Eigenschaften einen Selektionsvorteil bot. "Eine anfängliche Änderung eines HAR könnte seine Aktivität zu stark erhöht haben, sodass sie heruntergedreht werden musste", erklärt Pollard.

Sie vermutet einen Zusammenhang mit einer anderen Theorie: dass die menschlichen kognitiven Fähigkeiten die Neigung zu psychischen Krankheiten als Nebeneffekt mit sich bringen. Ein Aufheben der widersprüchlichen Effekte könnte also weniger Übermenschen mit überlegenen analytischen Fähigkeiten, sondern Menschen mit verstärkter Neigung zu psychischen Krankheiten hervorbringen. Pollard spricht von "kompensatorischer Evolution", betont aber, dass es sich in diesem Fall nur um eine Theorie handelt.

"Wir können nie die Uhr zurückdrehen und genau wissen, was in der Evolution passiert ist", sagt Pollard. Aber mit Experimenten wie diesem lasse sich herausfinden "welche DNA-Veränderungen am ehesten einzigartige Aspekte des menschlichen Gehirns erklären, einschließlich seiner Neigung zu psychischen Erkrankungen".


Studie

Neuron:"Machine learning dissection of human accelerated regions in primate neurodevelopment


Nota. - Je leichter erregbar die Neurone und je komplexer ihre Verschaltungen sind, umso leichter irritierbar sind sie auch. Es sollte sich historisch, nämlich durch Zuchtwahl und Auslese, ein erfahrungsmäßiger Mittelwert zwischen Fortschreiten und Beharrung einstel-len. Was immer die Individuen in ihren Köpfen ausbrüten - 'die Natur', auch bekannt unter dem Namen Evolution, kommt immer wieder auf ihre bewährte Trivialität zurück. Nur wenn der gesunde Menschverstand die ausschlaggebende Standardgröße bleibt, kann sich die Species ihre herausragenden Spitzenvertreter leisten; ach ja.
JE

Der Ackerbau brachte keinen Frieden.

 J. F. Millet                                        
aus Der Spiegel, 20. 1. 2023                                                                                               zu öffentliche Angelegenheiten

Das Neolithikum war brutaler als gedacht
Die ersten Bauern lebten keineswegs nur friedlich zusammen. Jahrtausende zurückliegende Kämpfe haben Spuren hinterlassen: In den Knochen einiger Opfer stecken bis heute Waffen.

von Julia Köppe

Der Ort des Schreckens misst gerade einmal anderthalb mal zweieinhalb Meter: In einer Grube dieser Größe lagen die Überreste von 34 Menschen – Männer, Frauen, Kinder offenbar achtlos hineingeworfen und verscharrt. Die Spuren an den Knochen sind Zeugen eines Verbrechens, das etwa 7700 Jahre zurückliegt: Etliche Schädel sind gebrochen, Pfeile haben verräterische Einkerbungen hinterlassen.

Die Knochen waren 1983 zufällig bei Gartenarbeiten entdeckt worden. Der Fund von Talheim bei Heilbronn in Baden-Württemberg gilt als ein Beleg für die Gewalt, die in der Jungsteinzeit geherrscht hat. Eine Zeit, in der Menschen in Europa begannen, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben und ihr nomadisches Leben als Jäger und Sammler allmählich aufgaben.

»Der Beweis für vergangene Feindseligkeiten«

Das Massengrab von Talheim ist kein Einzelfall, wie eine neue Analyse zeigt, die im Fachblatt »PNAS« erschienen ist. Ein internationales Forschungsteam hat steinzeitliche Knochenfunde ausgewertet, die zu mehr als 2300 Menschen aus dieser Zeit gehören. Die Überreste sind 8000 bis 4000 Jahre alt und stammen von 180 Fundplätzen aus dem heutigen Deutschland, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Spanien und Schweden.

»Menschliche Knochen sind der direkte Beweis für vergangene Feindseligkeiten«, sagt Studienautorin Linda Fibiger von der schottischen University of Edinburgh. Mittlerweile könnten Archäologinnen und Archäologen tödliche Verletzungen zuverlässig von Knochenbrüchen unterscheiden, die nach dem Tod entstanden sind.

Geweihspitze im Schädel

Besonders grausig: In einigen Knochen stecken noch die Tatwaffen. Aus einem Wirbelknochen, der 2005 in einer Kiesgrube bei Naumburg in Sachsen-Anhalt gefunden wurde, ragt noch die Pfeilspitze. Ein Schädel aus dem heutigen Tygelsjö in Schweden ist von einer Spitze aus Geweih durchbohrt. »Unsere Studie wirft die Frage auf, warum Gewalt in dieser Zeit offenbar so weitverbreitet war«, sagt Studienautor Martin Smith von der englischen Bournemouth University.

Die Opfer aus dem heutigen Talheim waren offenbar wehrlos, als sie attackiert wurden. Die Angreifer näherten sich wahrscheinlich von hinten, bewaffnet mit Pfeil, Bogen und Beilen.

Warum Archäologen glauben, das so genau zu wissen? Die Wunden an den Skeletten finden sich meist auf der Körperrückseite der Getöteten, vor allem am Hinterkopf. Womöglich wurden die Opfer niedergestreckt, als sie versuchten zu fliehen.

Unter den Toten waren neun Männer, sieben Frauen und 16 Kinder. Die übrigen zwei Skelette konnten nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden. Die meisten starben durch Schläge auf den Hinterkopf. Wahrscheinlich wurde eine ganze Gemeinschaft mit einem Angriff ausgelöscht.

Waren Frauenräuber am Werk?

Angreifer hätten Frauen geraubt und die übrigen Familienmitglieder umgebracht. Smith glaubt an eine andere Erklärung. Mit dem Beginn des Ackerbaus habe sich die wirtschaftliche Basis komplett verändert und damit auch die Lebensweise. »Mit der Landwirtschaft kam die Ungleichheit«, sagt Smith. »Und diejenigen, die weniger erfolgreich waren, könnten sich manchmal auf Überfälle und kollektive Gewalt als alternative Erfolgsstrategie eingelassen haben.«

Allerdings gibt es auch Hinweise, dass die Menschen der Steinzeit nicht nur blutrünstig waren, sondern friedlich zusammenlebten. Ein großer Teil der Knochen, die in der Studie analysiert wurden, stammt aus Massengräbern wie dem in Talheim, in denen wahrscheinlich Opfer von Massakern verscharrt worden sind. Dass sich an ihren Knochen Spuren von Gewalt finden, ist wenig überraschend.

Es ging auch friedlicher

Ganz in der Nähe von Talheim, am sogenannten Viesenhäuser Hof, stießen Archäologen auf Siedlungsreste und mehr als 200 Gräber, ebenfalls aus der Jungsteinzeit. Die dort bestatteten Menschen lagen meist, wie zu der Zeit üblich, mit angewinkelten Beinen auf der Seite, etliche Gräber enthielten Beigaben. Hier wurden Menschen offenbar nicht nur achtlos verscharrt, sondern mit einigem Aufwand zu Grabe getragen.

Die Zusammensetzung der geborgenen Zähne verriet, wo die dort bestatteten Menschen herkamen. Einige waren demnach in der Gegend aufgewachsen, andere waren zugewandert und hatten sich offenbar der bestehenden Gemeinschaft angeschlossen. Hinweise auf außergewöhnliche Gewalt oder gezielte tödliche Angriffe gab es nicht.


Nota. - Erst seit es den Boden zu verteidigen galt, konnten Krieg und Raub zu historische Konstanten menschlichen Zusammenlebens werden. Solange Jäger und Sammler nomadi-sierend durch die Lande streiften und wenig Eigentum mit sich führen konnten, hätten sich Raubüberfälle mit hohem Risiko wenig gelohnt. Auch Frauenraub wurde erst vorteilhaft, seit man viel Nachwuchs als Arbeitskräfte und versippte Krieger gebrauchen konnte.
JE

Blog-Archiv

Aus unserer Intelligenz kann noch was werden.

aus derStandard.at, 4. 7. 2024   Sich durch teils komplexe Internetseiten zu navigieren ist eine große kognitive Leistung, sagt Pietschni...