Donnerstag, 3. August 2023

Notdurft, Überschuss und der Sinn fürs Ästhetische.

de Jonghe, Le repos du laboureur                                                                                 aus Philosophierungen zu öffentliche Angelegenheiten

Ästhetische Betrachtung ist Anschauung gegebener Verhältnisse. Sie geschieht ohne andere Absicht als eben die: Verhältnisse anzuschauen.

Ob sie eine natürliche (primäre) oder eine künstliche (sekundäre) ist, hängt davon ab, ob 'der Mensch' als ursprünglich absichtsvoll oder als ursprünglich betrachtend aufgefasst wird. Das ist so simpel nicht, wie es scheint. Denn der ursprüngliche Mensch lebte mit seiner Umwelt im Einklang, mit ihr hatte er natürlichen Stoffwechsel, aber darüber hinaus gehen-de Zwecke setzte er sich nicht. Die semantische Falle: In diesem Zustand war er ursprüng-lich, aber noch kein Mensch. Die Hominisation war der Prozess, in dem der Mensch seinen ursprünglichen Naturzustand verließ und sich in der Fremde Zwecke setzen musste.

Viel weiter als das sich Darbietende abzuweiden, reichten seine frühesten Zwecke aber nicht. Noch heute verbringen die wenigen überlebenden und in unwirtliche Gegenden abgedrängten Jäger-und-Sammler-Völker weniger Zeit mit dem Nahrungserwerb als ein Bürger der Industriegesellschaft. Ihr Leben ist noch keineswegs von morgens bis abends "verzweckt", Muße haben sie reichlich. Hätten unsere Vorfahren nicht durch verwundertes Betrachten der Erscheinungen ihren Gesichtskreis erweitert, hätten wir nie Gelegenheit bekommen, uns über Erkennen und Anschauen Gedanken zu machen.


Doch die Erfindung der Arbeit wurde zu einem Flaschenhals. Die Zeit wurde knapp, der Horizont wurde eng. Das müßige Betrachten wurde zum Privileg der Herrschenden, und weil sie, wenn sie nicht Krieg führten, nichts besseres zu tun hatten, konnten sie es kultivie-ren.

Da sind wir nun. Zweckhaftes Erkennen und uninteressiertes Anschauen haben sich ge-trennt und unabhängig von einander fortentwickelt. Auf der einen Seite die Industrie, auf der andern die Kunst. Aber im wirklichen Leben nehmen sie keineswegs denselben Rang ein. Der Mensch in der Arbeitsgesellschaft ist in erster Linie absichtsvoll, Betrachten ist ein Luxus, den er sich allenfalls nach getaner Arbeit leisten kann. Oder weil er den herrschen-den Klassen angehört und andere für sich arbeiten lässt. Das Ästhetische ist eine Sache der Reichen.

Mit der Industrie hat jeder zu tun, wenn nicht produktiv, dann wenigstens als Konsument. Aber die Kunst ist eine Sache von wenigen für wenige. Das konnte sie nur bleiben, solange ästhetische Betrachtung ein Privileg war, weil die große Masse weder Zeit noch Geld dafür hatte. Heute hat die Masse Zeit und Geld; nicht viel, aber sie ist es eben eine Masse. Die Kulturindustrie will Geld verdienen und nicht die Menschheit missionieren, ästhetische Maßstäbe vertritt sie selbst nicht. Aber Künstler müssen auch Geld verdienen. Je mehr von ihnen konkurrieren, umso vielfältiger die Qualitäten und umso mehr Chancen für jede. Es kann eigentlich nicht ausbleiben, dass sich der Geschmack der großen Masse in dem wach-senden Maße, wie er sich nun betätigen kann, differenziert und individualisiert. Auf die Dauer muss eine Anschatzung, muss ein Wachstum stattfinden.

Zugleich dringen ästhetische Gesichtspunkte immer tiefer in die industrielle Produktion. Was immer hergestellt wird - irgendeine Form, irgendeine Farbe muss es haben. Ob es Auswirkungen auf ihren Gebrauchswert hat, können nur die entscheiden, die ihren Tausch-wert auslegen sollen. Ihre Bedürfnisse sind nichts anderes, als die Ansprüche, die sie stel-len. 

*

Am Anfang war das Vermögen des Menschen eins. Die frühesten Wildbeuter werden ihre Zeit zwischen absichtsvollem Jagen und absichtsvollem Sammeln und absichtsloser Be-trachtung ganz zufällig geteilt haben, wie sich's eben ergab. Am ehesten bietet sich noch das Sammeln zu Planung und Regulierung an: Der Ackerbau ist aus dem Sammeln entstanden. Von hier aus griff der Gesichtspunkt der Nützlichkeit auf immer mehr Bereiche der - im selben Maße vergesellschafteten - menschlichen Tätigkeit über, die ganze Welt wurde zu einem Horizont von Absichten. Nur an der obersten wohlhabendsten Spitze fand die ab-sichtslose Betrachtung eine Zuflucht; wo sie sich freilich auch zu gebildetem Feinsinn spe-zialisierte: Die Kunst wurde - neben dem ebenfalls privilegierten Wissen - zu einer gesell-schaftlichen Instanz.

Und so weiter, siehe oben. Je mehr Geschmack und Nutzen ineinander verschwimmen, umso geringer wird der Unterschied zwischen Kunst und Industrie (und übrigens zwi-schen Spiel und Arbeit). Es wird noch lange dauern, bis er in der Wirklichkeit schwindet. Doch die Begriffe werden's nicht hindern. 
24. 6. 18


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