Sonntag, 27. August 2023

Der Kunstmarkt und das Vordringen der Individualgeschmäcker.

 
Watteau, Ladenschild des Kunsthändlers Gersaint                                                                                  aus Geschmackssachen

Dies Blog heißt Geschmackssachen und bezieht sich darauf, dass die Geschmäcker - die ästhetischen Wertmaßstäbe - verschieden sind und sich zweitens entwickeln. Bei uns im Westen herrschten darum im Lauf der Zeiten unterschiedliche, aber aus einander hevorge-gangene Geschmäcker. Herrschten? Das heißt doch wohl, dass zu verschiedenen Zeiten verschiedene, aber stammverwandte Geschmäcker als die jeweils um Geltung ringenden hervortraten, und mit der Zeit neben einander als gleich- und gegeneinander gültige an-kämpften. So gab es Epochalgeschmäcker, landläufig Stile genannt - so, als sei eine Gesell- schaftsepoche ein eigenes Subjekt, das im Laufe seines Erlebens seinen Geschmack bildet und an seine Nachkommen weiterzugeben trachtet.

Da springt sogleich ins Auge: In anderen Weltteilen gibt es das nicht. Warum nicht? Es gibt eine pauschale Erklärung: Damit eine ganze Gesellschaft als ein Subjekt aufgefasst werden kann, bedarf es eines Mediums, in dem die Individualitäten aufgelöst erscheinen und unter-gehen. Ein solches Medium hat sich in den westlichen Gesellschaften in der Form der Öf-fentlichkeit ausgebildet.

Aber natürlich nicht auf einen Schlag. Eine Frühform von Öffentlichkeit war die Bildungs-welt des hohen katholische Klerus, der personell zu einem großen Teil aus den jüngeren Söhnen des Feudaladels bestand. An den Höfen der einen wie der anderen begegneten sie einander, und seit der Renaissance wetteiferte die bürgerliche Geldaristokratie. Die Feudal-ordnung war nicht eine Hierarchie wie die Beamten der orientalischen Despotien, sondern war ein Neben- und Gegeneinander rivalisierender Hierarchien, das Austausch sowohl mög-lich als auch notwendig machte.

Und schließlich riss die Ausbildung der Marktwirtschaft alle in einen Sog. Der Markt ist die Öffentlichkeit par excellence; hier treffen sich alle und hier gilt jeder so viel, wie er, unerach-tet seiner Individualität, wert ist. So wie es einen Markt der Waren gibt, gibt es einen Markt der Geschmäcker, und das Geld spielt auf dem einen fast dieselbe Rolle wie auf dem an-dern. So kam die Pflege des öffentlichen Geschmacks alsbald in die Hände der gebildeten Bourgeoisie - an der Stelle eines nur noch eingebildeten Adels.

Eine besondere Rolle spielt in den protestantischen Ländern das Eindringen der jüdischen Geldleute in die honette Gesellschaft. Die evangelische Taufe und die vergleichsweise bür-gerlich-nichthierarchiche Organisationsform der evangelischen Gemeinde bot den assimi-lierungswilligen Juden ein "Entreebillet in die gute Gesellschaft", wie Heinrich Heine es nannte. Felix Mendelssohn war, wenn ich nicht irre, der erste schon als Kind getaufte Sproß seiner Familie, und wie konnte er sich evangelischer darstellen als durch die mächtige Wie-derbelebung des bedeutendsten lutherischen Kirchenmusikers aller Zeiten?
30. 3. 20

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