Samstag, 12. August 2023

Wozu Moral vereinfachen, wenn sie sich auch komplizieren lässt?

 Savonarola
aus spektrum.de, 12.08.2023                                                                         zu Philosophierungen, oder Das Vernunftsystem

Wo endet die moralische Pflicht?
Handlungen, die über die moralische Pflicht des Einzelnen hinausgehen, bezeichnet man auch als Supererogation. Das Konzept stürzt Philosophen in ein Dilemma: Am Ende bereute selbst der Mann, der den Begriff prägte, ihn populär gemacht zu haben. Eine Kolumne.


von Matthias Warkus

Wann haben Sie zuletzt einem Fremden über die Straße geholfen? Ich erinnere mich noch an Zeiten, in denen dies als Paradebeispiel für alltägliche Hilfsbereitschaft galt. Der enthusiastische Pfadfinder, der eine alte Dame über die Straße zerrt, obwohl sie diese gar nicht überqueren will, war eine Standardpointe. Inzwischen scheinen Menschen einander seltener über die Straße zu helfen. Vielleicht, weil es mehr abgesenkte Bordsteine und Fußgängerampeln gibt und alte Leute allgemein mobiler sind und besser sehen als früher. Als Beispiel für eine »gute Tat« muss die Szene aber immer noch häufig herhalten. Woran liegt das?

Ich vermute: Das Über-die-Straße-Helfen ist deswegen eine besonders bemerkenswerte Tat, weil es über das moralisch von uns Verlangte hinauszugehen scheint. Wenn ich einen Verletzten auf der Straße liegen sehe, ist es meine (sogar gesetzliche!) Pflicht, ihm zu helfen. Wenn jemand am Straßenrand steht, verpflichtet mich hingegen niemand, meinen Weg zu verlassen und mir ein paar Minuten Zeit zu nehmen, um die Person über die Straße zu bringen. Wenn ich es nicht tue, tut es vielleicht ein anderer Passant, und auch ohne Hilfe schafft es die Person sicher irgendwie auf die andere Straßenseite, nur eben mühsamer. Meine Hilfeleistung ist lobenswert, geht jedoch über das, wozu ich verpflichtet bin, hinaus.


Für diese Art von Handlungen gibt es in der Ethik den Ausdruck »Supererogation«. Er wurde 1958 durch den englischen Philosophen James O. Urmson (1915–2012) geprägt und geht auf ein lateinisches Wort zurück, das so viel bedeutet wie »mehr bezahlen, als man schuldet«. Supererogation lässt sich zum Beispiel definieren als »Handlung, die zu tun moralisch gut ist, die zu unterlassen aber nicht moralisch schlecht ist«.

Supererogation lässt sich nicht besonders trennscharf umreißen

Man könnte nun meinen, damit sei der Fall erledigt. Doch wenn man der Sache nachgeht und versucht, klar und konsequent festzulegen, welche Handlungen supererogatorisch sind, stößt man schnell auf Schwierigkeiten. So ist es sicher lobenswert, wenn sich jemand motiviert sieht, Fremden, die diese Hilfe brauchen, über die Straße zu helfen. Aber wenn ein bestimmtes Handeln allgemein lobenswert ist, ist es dann nicht auch allgemein wünschenswert? Heißt das dann nicht gerade, dass wir moralisch dazu verpflichtet sind? Heißt es nicht, dass man es uns zu Recht vorwerfen kann, wenn wir die wünschenswerte Handlung unterlassen? Wie kann man hier eine Trennlinie ziehen?

Verzichtet man auf die Trennung und akzeptiert, dass absolut jede Handlung, die in einer Situation allgemein wünschenswert ist, eine moralische Pflicht darstellt, dann landen wir bei Ansprüchen, denen nachzukommen für gewöhnliche Menschen schwierig ist. Wir wären nicht nur verpflichtet, gute Menschen zu sein, wir müssten geradezu Heilige sein, wie Urmson es nennt. Wir wären alle – jeder einzelne potenzielle Passant – verpflichtet, dem alten Mann über die Straße zu helfen, allerdings auch, ihn zum Arzt zu begleiten, ihm beim Aufräumen seiner verwahrlosten Wohnung zu helfen, zwischen ihm und seinen mit ihm zerstrittenen Kindern zu vermitteln und so weiter, selbst wenn wir dazu unser Erspartes aufbrauchen und uns viele Stunden sehr unangenehmen Situationen aussetzen müssen.

Ein Gegenargument hierzu besteht darin, dass moralische Verpflichtungen ihre Grenze dort finden, wo uns selbst Schaden entsteht oder unsere rationale Lebensplanung durchbrochen wird. Das macht es aber wenig besser. Ein (kleiner) Schaden entsteht mir auch, wenn ich nur eine minimale Entbehrung habe – die fünf Minuten, die ich brauche, um jemandem über die Straße zu helfen, könnten die fünf Minuten sein, die mir später für den Espresso nach dem Mittagessen fehlen, der mir sonst große Freude bereitet. Umgekehrt wird bei klarerweise verpflichtenden Handlungen erwartet, dass ich Schaden hinnehme: Wenn ich einen Schwerverletzten auf der Straße finde, darf ich ihn nicht liegen lassen, weil ich auf dem Weg zu einem für mein Geschäft wichtigen Kundentermin bin. Die Frage nach der Grenze zur Supererogation löst sich in die Frage danach auf, ob Menschen zu Selbstaufopferung verpflichtet sind und wenn ja, zu wie viel davon.

Andererseits kann man argumentieren, dass supererogatorische Handlungen sich überhaupt nicht durch moralische Wünschbarkeit oder Verpflichtung definieren, sondern ganz und gar das Ergebnis einer Form von Überwindung und Aufopferung sind, die sich herkömmlichen moralischen Maßstäben entzieht. Jemand, der freiwillig und unter Gefahren Schwerkranke pflegt, einen Räuber in flagranti erwischt und aufzuhalten versucht, aber eben auch jemand, der nur eine alte Dame über die Straße bringt, tut dann etwas, das gerade dadurch besonders lobenswert ist, dass man es sich nicht allgemein wünschen kann. Doch ist es nicht so, dass die Welt besser wäre, wenn es mehr Leute gäbe, die genau so etwas täten? Warum soll es dann nicht im Geschäftsbereich der Moral liegen, festzustellen, dass es so etwas wie eine Pflicht dazu gibt? Man hat den Eindruck, dass jede der drei Möglichkeiten, mit Supererogation klarzukommen, uns in die anderen beiden hineinstürzt.

Urmson selbst hat es 1988 bereut, 30 Jahre zuvor die Kategorie der Supererogation populär gemacht zu haben, weil mit ihr viele sehr unterschiedliche Arten von Handlungen in derselben Schublade landen. Wie auch immer man es damit hält: Das Nachdenken über Supererogation ist heute zu einem wichtigen Schauplatz des philosophischen Nachdenkens über Ethik überhaupt geworden.


Nota. - Eigentlich frage ich mich: Ist das bösartig oder bloß ein wenig - sagen wir: - gedan-kenlos? Aber da würde ich Matthias Warkus nicht gerecht, den ich schon öfter kommentiert habe.

Gehen wir also vorsichtig an die Sache heran.

Stillschweigende, aber unverzichtbare Voraussetzung: Moral bezieht sich auf Willensakte. Und zwar nicht auf das, was man wohl wollen würde, sondern auf das, was man willentlich tut. Zweite Voraussetzung: Moral gebietet, was zu tun ich verpflichtet bin und nicht unter-lassen darf.

Da nun erkennt M. W. ein Problem. Denn offenbar gebietet Moral gleichzeitig Dinge, die einander widersprechen - sei's im praktischen Feld (wenn jeder jede alte Frau über die Stra-ße schöbe), sei's schon von der Absicht her - wenn meine gute Tat mir selber einen Nachteil einträgt: Ich müsste abwägen, statt stolz zu gehorchen.

Der springende Punkt: Moral wird aufgefasst, als gälte sie für alle gleich; und zugleich. Wird aufgefasst als ein Sonderfall von Recht! Weniger streng zwar in dem Sinn, dass keine Polizei ihr nachzuschnüffeln hat; viel strenger aber, weil keine Chance bleibt, sich nicht erwischen zu lassen: Der Täter ist Gesetzgeber, Polizist, Ankläger und Richter zugleich. Wenn er ein Auge zudrückt, bleibt ihm das schlechte Gewissen doch. Ist das der ganze Unterschied zwi-schen Recht und Moral: dass man der verdienten Strafe moralisch nicht entgeht - es sei denn, man zuckt einfach mit der Schulter?

Alle Probleme, die M. W. benennen könnte, ergeben sich aus diesem Dilemma. Übertre-tungen des Rechts müssen bestraft werden, um das Zusammenleben in der Gesellschaft möglich zu halten, und dazu bedürfen sie einer höheren Instanz, die gegebenenfalls Gewalt anwendet. Die Richtsprüche der Moral müssen nicht um des gesellschaftlichen Zusammen-lebens willen durchgesetzt werden. Es ist wünschenswert, dass sie beachtet werden, damit die Einzelnen nicht die Achtung vor einander verlieren - und schließlich, was viel schlimmer ist, die vor sich selbst.

Ich mache es kurz: Die Moral sagt schlechthin nichts bestimmtes. Sie ist das Gewissen, eine bloße Richterin ohne Gesetz. Sie gebietet unmittelbar, aber immer einzeln. Gesetze sind der Moral durchaus entgegen, heißt es bei Novalis. Alles weitere ergibt sich daraus.

Insofern wär ja alles gesagt. Doch für bösartig oder gedankenlos kann ich auch James Urmson nicht halten; warum sind derlei Seichtigkeiten immer noch in der Welt?

Urmson steht in der pragmatistischen Tradition der englischen Philosophie, die wohl auch M. Warkus nicht fremd ist. Und da ist seit David Hume und Adam Smith Moral die sozial nützliche Seite des common sense. Zu nicht nur meinem Bedauern überschwemmt angel-sächsisches Sprechen über Philosophie seit geraumer Zeit unsern kontinentalen Boden, und an den Begriffen interessiert dort mehr das virtuose Definieren als ihre analytische Schärfe. Da ist es schade, dass Matthias Warkus gerade auf ethischem Feld diese Mummenschanz mitmacht. Denn während die Frage Was kann ich vor mir verantworten? so klar und einfach ist wie die wenigen Antworten, die sie zulässt, erlaubt die Supererogation eine Kasuistik ins Unendliche, die dem Jesuiten die Sprache verschlägt.

Doch ist die angelsächsische Tradition zum Glück eben pragmatisch. Wohin seine Begriffs-prägung führt, ist James Urmson schließlich nicht entgangen, und er hätte sie gern wieder aus der Welt geschafft. Immerhin.
JE


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