Donnerstag, 4. April 2024

Gibt es in der Natur Gesetze?

Gesetz                                        aus Jochen Ebmeiers Realien

Ach, das ist aber schön, Frau Traxler, dass Sie uns diese liebe alte Bekannte auch einmal wieder aufwärmen! Sie würde sonst womöglich noch erfrieren. Gut auch, dass Sie keine halben Sachen machen, sondern voll aufs Ganze gehen und Ihren Beitrag abschließend damit eröffnen, "dass die Wissenschaft zum Schluss kommt: Den freien Willen gibt es nicht." Gut, dass Sie uns gar nicht erst auf dumme Ge-danken kommen lassen.

In der Publizistik geht das. Doch in der Wissenschaft würde man das eine Petitio principii nennen, und das geht nicht: Sie unterstellen stillschweigend, dass Wissen-schaft Natur wissenschaft ist, und versichern uns, "die Idee vom freien Willen ist nicht kompatibel mit dem, was wir in der Natur sehen". Dass aber "die Wissenschaft eindeutig zeigt, dass wir keinen freien Willen besitzen", schließen Sie daraus ganz zu Unrecht. Die Naturwissenschaft zeigt eindeutig, dass in der Natur kein freier Wille vorkommt. Das behauptet aber auch keiner. Doch Sie unterstellen, dass es außer der Naturwissenschaft... keine Wissenschaft gäbe. Wie kommen Sie denn darauf? Wenn es einen freien Willen gäbe (schließen Sie's nicht gleich aus, sondern nehmen Sie's der methodischen Sauberkeit halber probeweise mal an), dann wäre er keine Tatsache der Natur, sondern eine Tat des Geistes.

Dass es einen Geist nicht gebe, könnten Sie nur behaupten, wenn es keine Geistes-wissenschaften gäbe. Dass sie keine Wissenschaften sind, können Sie nicht auf ihre Kappe nehmen, denn in unserer Geschichte waren sie früher da als die Naturwis-senschaft und haben sie überhaupt erst möglich gemacht. Bestreiten könnten Sie allenfalls, dass sie mit dem Ausdruck 'Geistes' wissenschaften ihren Gegenstand genau genug bestimmt hätten.

Damit stünden Sie nicht allein. Das hat schon vor über hundert Jahren einer ihrer namhaften Vertreter selbst getan. Wilhelm Windelband hat die Unterscheidung in idiographische und nomothetische Wissenschaften vorgeschlagen, womit er auf eine metaphysische (und daher dogmatische) Eingangsdefinition verzichten konnte: die eine beschreibt einen einzigen, individuellen Gegenstand oder Sachverhalt nach all seinen denkbaren Seiten hin; das tun alle historisch orientierten Fächer, die er darum idiographisch nennt. Die andere sucht, in der Mannigfaltigkeit der Erschei-nungen Übereinstimmungen und Gesetze festzustellen. Er nennt sie daher nomo-thetisch.

Und siehe da: 'Natur' ergibt sich unter dieser Voraussetzung als das Feld, wo Ge-setze gelten. Der Mensch gehört zur Natur, er kann ihren Gesetzen nicht entwei-chen, stimmts? Nein, Frau Traxler; man kann den Menschen so betrachten, als ob er einem Reich von Gesetzen angehörte oder, um mit Ihrer Sprache zu reden, als ob er "nur ein Naturwesen" sei. Und unter dieser Prämisse werden Sie nie in die Verlegenheit geraten, über einen freien Willen zu stolpern. Doch in jeder irgendwie historischen Betrachtung werden sie den Menschen als ein unberechenbares, mut-williges, leichtsinniges und furchtsames Geschöpf vorfinden, dessen Tun und Las-sen selbst skrupellose Geister wie Hegel und seine stalinistischen Acolyten nicht in eine Linie zwingen konnten (und in schwierigen Momenten die Dialektik beschwö-ren mussten).

Sie meinen, Systemik wäre das Mauseloch, durch das Sie mir entkommen? Die systemische Betrachtung kann immer nur beobachten, dass dieser Zustand vorher und jener nachher war. Wie und warum oder auch nur wann der eine auf den oder gar aus dem andern folgte, behauptet sie ja gerade nicht zu wissen. Und wenn Sie, Frau Traxler, sich nicht so auf Physik versteift und auch ein wenig um Philosophie bemüht hätten, wären Sie unterm Stichwort Kant auf den Namen Hume gestoßen und wären der Frau Hossenfelder nicht auf den Leim gegangen.

Kommentar zu Freier Wille in einem deterministischen Universum?, JE, 12. 4. 23


Ab einer gewissen Größe ordnet sich eine Menge selbst.

Chaos im Schrank 
aus spektrum.de, 4. 4. 2024                                                      Auch wenn es manchmal anders wirkt, kann es aus mathematischer Sicht kein völliges Chaos geben.                                                                     zu Jochen Ebmeiers Realien

Ramsey-Theorie:
Ein großer Schritt bei der Zähmung des Chaos
Wie Frank Ramsey vor fast 100 Jahren vermutete, ist das Universum ordentlicher als gedacht. Fachleuten haben die verborgene Ordnung jetzt ein gutes Stück fassbarer gemacht.

Völliges Chaos existiert nicht. Mit dieser Erkenntnis erstaunte der Mathematiker Frank Ramsey in den 1920er Jahren die Fachwelt. Er studierte damals Mengen, de-ren Elemente bestimmte Beziehungen zueinander haben – und fand heraus, dass sich ab einer bestimmten Mengengröße zwangsläufig eine gewisse Ordnung ein-schleicht. Wie groß die Mengen dafür genau sein müssen, ist extrem schwer heraus-zufinden. Doch nun haben die Mathematiker Jacques Verstraete und Sam Mattheus von der University of California in San Diego 90 Jahre nach Ramseys Erkenntnis einen bedeutenden Fortschritt bei der Abschätzung dieser Größen geleistet. Ihre Ergebnisse sind im März 2024 in den prestigeträchtigen »Annalen der Mathematik« erschienen.

Die Ideen der Ramsey-Theorie lassen sich durch die Dynamik auf einer Party ver-anschaulichen. Wie Ramsey erkannte, gibt es bei einer Feier mit sechs Gästen zwangsläufig eine Gruppe von mindestens drei Personen, die sich untereinander völlig fremd sind – oder sich bereits alle kennen. Falls man aber eine Veranstaltung mit nur fünf Gästen ausrichtet, ist das nicht mehr gewährleistet. Diese Art der Ord-nung (ein Dreiergespann aus Bekannten oder Fremden) taucht erst bei größeren Ver-anstaltungen auf.

 

 

Um das zu visualisieren, greifen Mathematiker auf Netzwerke (so genannte Gra-phen) zurück. Die Personen werden dabei als Punkte dargestellt, und jeder Punkt wird mit jedem anderen durch eine Kante verbunden. Die Kanten symbolisieren die Beziehungen der Menschen untereinander. Kennen sich zwei Personen bereits, kann man die Kante beispielsweise blau einfärben, sind sie sich hingegen fremd, wählt man eine rote Farbe. Nun kann man sich fragen, welche einfarbigen Struk-turen aus s roten und t blauen Kanten zwangsläufig bei n Punkten entstehen. Im oben genannten Party-Beispiel gibt es für n = 6 immer drei Punkte, die durch ent-weder drei rote (s) oder drei blaue (t) Kanten miteinander verbunden sind – es gibt also immer ein einfarbiges Dreieck.

Verschiedene vollständige Graphen mit sechs Knoten und rot und blau gefärbten Kanten
Freunde und Fremde / CC BY-SA 3.0 CC BY-SA (Ausschnitt) Graphen mit sechs Knoten | Eine Auswahl an Netzwerken mit sechs Knoten, die alle miteinander verbunden sind. Die Kanten können entweder blau oder rot sein.

Die Mindestanzahl an n Punkten, die nötig sind, um zwangsläufig eine Struktur aus ausschließlich s roten oder t blauen Kanten zu enthalten, ist durch die »Ramsey-Zahl« R(s, t) gegeben. Bisher sind nur sehr wenige Ramsey-Zahlen bekannt. Das Party-Beispiel liefert R(3, 3) = 6: Sechs Punkte sind also mindestens nötig, damit ein blaues oder rotes Dreieck zwangsläufig auftaucht. Es konnte auch gezeigt wer-den, dass R(4, 4) = 18: Man muss mindestens 18 Gäste einladen, damit es stets eine Gruppe aus vier Bekannten oder Fremden gibt. In einem Graph macht sich das durch ein gleichfarbiges Rechteck mit Diagonalen bemerkbar. Hingegen ist unklar, wie groß R(5, 5) ist. Immerhin konnten Fachleute das Ergebnis eingrenzen: Man weiß inzwischen, dass 43 ≤ R(5, 5) ≤ 49.

Jenseits jeder Vorstellungskraft

Der Grund für die Schwierigkeiten hat mit der enormen Vielfalt an Möglichkeiten zu tun, mit der man ein Netzwerk färben kann. Beim Party-Problem mit sechs Per-sonen gibt es beispielsweise insgesamt 15 Kanten. Jede dieser Verbindungen kann entweder rot oder blau eingefärbt wer-den, das heißt, es gibt 215 = 32 768 verschie-dene Färbungen, die möglich sind. Man müsste also alle 32 768 unterschiedlich ko-lorierten Netzwerke durchgehen, um zu prüfen, ob in jedem davon ein gleichfar-biges Dreieck entsteht. Ramsey hat das Problem auf andere Weise gelöst (mehr Details dazu gibt es in einem Beitrag der Kolumne »Die fabelhafte Welt der Mathe-matik«). Doch bei Netzwerken mit mehr Punkten versagt auch Ramseys Ansatz. 90 Jahre lang gab es daher kaum Fortschritte auf dem Gebiet.

Nun haben Verstraete und Mattheus eine Formel für R(4, t) gefunden. Sie gibt an, wie viele Gäste man mindestens braucht, damit sich auf einer Feier entweder vier Personen gegenseitig völlig fremd sind oder eine Gruppe von t Menschen zusam-mentrifft, die sich alle kennen. Dafür griffen die beiden Mathematiker auf zufällig erzeugte Graphen zurück, die dabei helfen, die Ramsey-Zahl einzugrenzen. Wenn man beispielsweise ein zufällig eingefärbtes Netzwerk mit n Punkten erzeugt, das die gewünschte Struktur (etwa ein einfarbiges Dreieck oder ein Rechteck mit Dia-gonalen) nicht enthält, dann muss die gesuchte Ramsey-Zahl größer als n sein.

 

»Es gab viele Momente, in denen wir nicht weiterkamen und uns fragten, ob wir es überhaupt lösen können« Jacques Verstraete, Mathematiker

 

Eine geeignete Auswahl solcher zufälliger Netzwerke zu erzeugen – und diese auch für eine beliebige Größe von n Punkten zu analysieren –, erwies sich als überaus schwierig. »Es hat uns wirklich Jahre gekostet, das Problem zu lösen«, sagte Ver-straete. »Und es gab viele Momente, in denen wir nicht weiterkamen und uns frag-ten, ob wir es überhaupt lösen können. Aber man sollte niemals aufgeben, egal wie lange es dauert.« Die Mühe hat sich ausgezahlt: Wie die beiden Forscher beweisen konnten, wächst die Anzahl benötigter Punkte R(4, t) mit t3 an. Wenn man auf einer Party also garantiert entweder Grüppchen aus vier Bekannten oder aus t Fremden antreffen will, muss man etwa t3 Gäste einladen.

Die beiden Mathematiker freuen sich nicht nur über ihr Ergebnis, das nun in einem der renommiertesten Journale des Fachs erscheinen wird. Der berühmte Mathema-tiker Paul Erdős, der 1996 verstarb, hatte zudem ein Preisgeld auf die Berechnung von R(4, t) ausgesetzt: 250 US-Dollar. Die Professorin Fan Chung von der Univer-sity of California in San Diego hat Verstraete bereits zugesichert, dass er seine Be-lohnung erhalten wird.

 

Nota. - Die Formulierung in der Überschrift 'ordnet sich selbst' ist natürlich krumm und schief. Die vorgegebene Menge tut gar nichts. Es kommen vielmehr neue Ele-mente hinzu, die ab einem bestimten Punkt 'nicht anders können, als' ein in der übergroßen Masse vorfindliches Muster zu wiederholen. Und so weiter immer fort. Schließlich ist kein Muster unwiederholt geblieben. Es ergibt sich nach und nach eine Gesamtmuster. Bleibt im konkreten Fall als ein wirkliches Problem immer die Aufgabe, jenen gewissen Punkt aufzufinden, und das kann man immer nur versu-chen.


Das hat eine metaphysische Dimension. Denn so und nicht anders werden soge-nannte Naturgesetze im Universum aufgefunden. Die Frage, wer sie erlassen hat, stellt sich nun nicht mehr: Es ist das Gesetz der großen Zahl. Es werden freilich auch immer wieder aber immer weniger Elemente hinzukommen, die nirgends reinpassen. Die zunehmende Ordnung der Gesamtmenge können sie aber nur verzögern und nicht aufhalten, geschweige denn rückgängig machen.
JE

Kant über Schulreform.

                                                            aus Levana, oder Erziehlehre

Wie so viele Gelehrte seiner Zeit mußte sich auch Immanuel Kant in seinen Jugendjahren als “Hofmeister” (Hauslehrer) durchschlagen, ehe er eine Anstellung an der Königsberger Universität fand. Es habe wohl nie einen schlechteren Hofmeister gegeben als ihn, sagte er später. Aber das war wohl Koketterie. Seine Brotgeber und namentlich deren Kinder müssen es anders empfunden haben, denn sie blieben ihm über viele Jahre freundschaftlich verbunden.

Immerhin fällt auf, wie vergleichsweise uninspiriert Kants spätes Buch “Über Pädagogik”[1] geraten ist. Hat ihn das Thema nicht interessiert? Der Text wurde 1803 wenige Monate vor seinem Tod von Freunden herausgegeben, er selbst konnte schon nicht mehr daran mitwirken. Tatsächlich handelt es sich um Manuskripte zu einer Vorlesungsreihe, die Kant über Jahrzehnte immer wieder gehalten hat – notgedrungen: Preußens König brauchte Pastoren, die das Volk Ehrfurcht vor Thron und Altar lehrten, und so waren alle ordentlichen Professoren gehalten, reihum über Pädagogik zu lesen, was für ihre Studenten ebenso verbindlich war wie für die Lehrer. Vorschrift war auch, sich dabei an bewährte Lehrbücher zu halten. Kant wich in seinem Vortrag gelegentlich von den fremden Kompendien ab und bereicherte sie durch Einschübe aus seinen beliebten Anthropologie-Vorlesungen; z. B. Rousseau sagt: Ihr werdet niemals einen tüchtigen Mann bilden, wenn ihr nicht vorher einen Gassenjungen habt! Sein “eigenes” Werk ist seine ‚Pädagogik’ aber nicht. War ihm die Sache nicht wichtig genug?

Das Gegenteil ist der Fall. Nur war die Anteilnahme des “alleszermalmenden” Königsbergers an der Pädagogik nicht wissenschaftlicher, sondern unmittelbar praktischer Art!

Gezeichnet von der “Jugendsklaverei”, die er selber am Königsberger Fridericianum erdulden mußte, das vom Hallenser Pietismus geprägt war und wo man den kindlichen Sinn durch Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle brach, wurde er zu einem der lebhaftesten Propagandisten für Johann Bernhard Basedows “Philantropin” in Dessau. Über Jahre sammelte er Geld und rekrutierte Schüler. Wir dokumentieren hier einen Artikel, den er im Frühjahr 1776 unter dem Titel “An das gemeine Wesen” in den Königsberger gelehrten und politischen Zeitungen veröffentlichte. In aufklärerischem Geist erwartet er von der Erziehung die Besserung der Menschheit. Er hofft auch noch auf eine ‚endgültige’ Schule, nämlich eine, die den Keim zur Selbsterneuerung in sich trägt. Doch schon der folgenden Generation galt die bürgerliche Nützlichkeits-Pädagogik der Philanthropiner als ein Irrweg. Ihr schärfster Kritiker war ausgerechnet ein ehemaliger Anführer der philosophischen Kant-Partei: Friedrich Immanuel Niethammer.[2]


Es fehlt in den gesitteten Ländern von Europa nicht an Erziehungsanstalten und an wohlgemeintem Fleiße der Lehrer, jedermann in diesem Stücke zu Diensten zu sein, und gleichwohl ist es jetzt einleuchtend bewiesen, daß sie insgesamt im ersten Zuschnitt verdorben sind, daß, weil alles darin der Natur entgegen arbeitet, dadurch bei weitem nicht das Gute aus den Menschen gebracht werde, wozu die Natur die Anlage gegeben, und daß, weil wir tierische Geschöpfe nur durch Ausbildung zu Menschen gemacht werden, wir in kurzem ganz andre Menschen um uns sehen würden, wenn diejenige Erziehungsmethode allgemein in Schwang käme, die weislich aus der Natur selbst gezogen und nicht von der alten Gewohnheit unerfahrener Zeitalter sklavisch nachgeahmt worden.

Es ist aber vergeblich, dieses Heil des menschlichen Geschlechts von einer allmählichen Schulverbesserung zu erwarten. Sie müssen umgeschaffen werden, wenn etwas Gutes aus ihnen entstehen soll: weil sie in ihrer ursprünglichen Einrichtung fehlerhaft sind, und selbst die Lehrer derselben eine neue Bildung annehmen müssen. Nicht eine langsame Reform, sondern eine schnelle Revolution kann dieses bewirken. Und dazu gehört nichts weiter als nur eine Schule, die nach der echten Methode von Grunde aus neu angeordnet, von aufgeklärten Männern nicht mit lohnsüchtigem, sondern edelmütigem Eifer bearbeitet und während ihrem Fortschritte zur Vollkommenheit von dem aufmerksamen Auge der Kenner in allen Ländern beobachtet und beurteilt, aber auch durch den vereinigten Beitrag aller Menschenfreunde bis zur Erreichung ihrer Vollständigkeit unterstützt und fortgeholfen würde.

Eine solche Schule ist nicht bloß für die, welche sie erzieht, sondern, welches ungleich wichtiger ist, durch diejenigen, denen sie Gelegenheit gibt, sich nach und nach in großer Zahl bei ihr nach der wahren Erziehungsmethode zu Lehrern zu bilden, ein Samkorn, vermittelst dessen sorgfältiger Pflege in kurzer Zeit eine Menge wohl unterwiesener Lehrer erwachsen kann, die ein ganzes Land bald mit guten Schulen bedecken werden.

Die Bemühungen des gemeinen Wesens aller Länder sollten nun darauf zuerst gerichtet sein, einer solchen Musterschule von allen Orten und Enden Handreichungen zu tun, um sie [sic] bald zu der ganzen Vollkommenheit zu verhelfen, dazu sie in sich selbst schon die Quellen enthält. Denn diese Einrichtung und Anlage sofort in andern Ländern nachahmen zu wollen und sie selbst, die das erste vollständige Beispiel und Pflanzschule der guten Erziehung werden soll, indessen unter Mangel und Hindernissen in ihrem Fortschritt zur Vollkommenheit aufhalten, das heißt soviel: als den Samen vor der Reife aussäen, um hernach Unkraut zu ernten.

Eine solche Erziehungsanstalt ist nun nicht mehr bloß eine schöne Idee, sondern zeigt sich mit sichtbaren Beweisen der Tunlichkeit dessen, was längst gewünscht worden (…). Gewiß eine Erscheinung unserer Zeit, die, obzwar von gemeinen Augen übersehen, jedem verständigen und an dem Wohl der Menschheit teilnehmenden Zuschauer viel wichtiger sein muß, als das glänzende Nichts auf dem jederzeit veränderlichen Schauplatze der großen Welt, wodurch das Beste der Menschheit, wo nicht zurückgesetzt, doch nicht um ein Haar weiter gebracht wird.

Der öffentliche Ruf und vornehmlich die vereinigten Stimmen gewissenhafter und einsehender Kenner aus verschiedenen Ländern werden die Leser dieser Zeitung[3] schon das Dessauische Educationsinstitut (Philantropin) als dasjenige einzige kennen gelernt [sic] haben, was diese Merkmale der Vortrefflichkeit an sich trägt, wovon es eine nicht der geringsten ist: daß es seiner Einrichtung gemäß alle ihm im Anfange etwa noch vorhandenen Fehler natürlicher Weise von selbst abwerfen muß. (…)

Diesem Institute nun, welches der Menschheit und also der Teilnehmung jedes Weltbürgers gewidmet ist, einige Hilfe zu leisten (welche einzeln nur klein, aber durch die Menge wichtig werden kann) wird jetzt die Gelegenheit dargeboten. Wollte man seine Erfindungskraft anstrengen, um eine Gelegenheit zu erdenken, wo durch einen geringen Beitrag das größt mögliche, dauerhafteste und allgemeine Gute befördert werden könnte, so müßte es doch diejenige sein, da der Samen des Guten selbst, damit er sich mit der Zeit verbreite und verewige, gepflegt und unterhalten werden kann.

Diesen Begriffen und der guten Meinung zufolge, die wir uns von der Zahl wohl denkender Personen unseres gemeinen Wesens machen, beziehen wir uns auf das 21. Stück dieser gelehrten und politischen Zeitung[4] (…) und sehen einer zahlreichen Pränumeration entgegen: von allen Herren des geistlichen und Schulstandes, von Eltern überhaupt, denen, was zur besseren Bildung ihrer Kinder dient, nicht gleichgültig sein kann, ja selbst von denen, die, obgleich sie nicht Kinder haben, doch ehedem als Kinder Erziehung genossen und eben darum die Verbindlichkeit erkennen werden, wo nicht zur Vermehrung, doch wenigstens zur Bildung der Menschen das Ihrige beizutragen.

Auf diese von dem Dessauischen Educationsinstitut herauskommende Monatsschrift unter dem Titel Pädagogische Unterhandlungen wird nun die Pränumeration mit 2 Reichstalern 10 Groschen unseres Geldes angenommen. (…) Denn gedachtes Institut macht sich die Hoffnung: daß es viele edeldenkende Personen in allen Ländern gebe, die eine solche Gelegenheit willig ergreifen würden, um bei dieser Veranlassung über das Pränumerationsquantum noch ein feiwilliges kleines Geschenk (…) hinzuzufügen. Denn da (…) die Regierungen jetziger Zeit zu Schul- verbesserungen kein Geld zu haben scheinen, so wird es doch endlich, wofern solche nicht gar ungeschehen bleiben soll[en], auf bemittelte Privatpersonen ankommen, die so wichtige allgemeine Angelegenheit durch großmütigen Beitrag selbst zu befördern. Die Pränumeration hiesigen Orts wird bei Herrn Prof. Kant in den Vormittagsstunden von 10 bis Nachmittag gegen 1 Uhr und in der Kanterschen Buchhandlung[5] zu aller Zeit gegen Pränumerationsschein abgegeben.
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[1] in: Immanuel Kant, Werke (Hg. Weischedel), Bd. XII, Frankfurt/M 1968
[2]Fr. I. Niethammer, Der Streit des Philanthropinismus und des Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts (1808; neu: Weinheim 1968) – Nachfolger auf Kants Königsberger Lehrstuhl war 1809-1833 übrigens Joh. Fr. Herbart, der Begründer der ‚wissenschaftlichen’ Pädagogik.
3]In den Königsberger gelehrten und politische Zeitungen, in denen Kants Aufsatz erschien, hatten auch andere namhafte Autoren für das Philanthropin geworben.
[4]die Ausgbe vom 13. März 1776 enthielt eine Vorankündigung der Basedow’schen Zeitschrift
5]Kants Wohnadresse und Vorlesungssaal
 
8. 5. 18 


Mittwoch, 3. April 2024

Berliner Schuldesaster.

Was muss guter Unterricht kosten? 
aus Tagesspiegel.de, 3. 4. 2024                                            zu öffentliche Angelegenheiten; zu Levana, oder Erziehlehre
 
Schwache Leistungen, hohe Ausgaben: Kosten für Berliner Schüler liegen fast ein Drittel über dem Bundesdurchschnitt
Seit 2010 haben sich Berlins Ausgaben pro Schüler verdoppelt. In keinem anderen Bundesland gab es eine derartige Kostenexplosion. Doch an den Schülerleistungen änderte das nichts.

Berlin liegt bei den Kosten pro Schüler fast ein Drittel über dem Durchschnitt aller Bundesländer. Der Abstand, der schon bisher immens war, hat sich nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2022 nochmals vergrößert. Gegenüber 2010 verdoppelten sich die Berliner Ausgaben sogar, von 7000 auf 14.000 Euro. Im Bund kostete ein Schüler im Schnitt 9500 Euro.

Die Stadtstaaten Hamburg und Berlin geben wegen ihrer besonderen sozialen Herausforderungen am meisten aus, wobei Berlin Hamburg schon vor zehn Jahren überholt und den Abstand zur Hansestadt Jahr um Jahr vergrößert hat.

Für das Jahr 2022 bedeutete das, dass Berlin pro Schüler 1700 Euro mehr ausgab als Hamburg. Wenn man diese Differenz mit der Berliner Schülerzahl von 430.000 multipliziert, ergibt sich, dass Berlins Landeshaushalt mit rund 700 Millionen Euro mehr belastet wird, als es mit den Hamburger Ausgaben der Fall wäre.

Das Brisante dabei ist, dass im betrachteten Zeitraum seit 2010 die Hamburger Schülerleistungen immer besser, die der Berliner aber immer schlechter wurden. ...

 

 

Unterwegs zu einer rationellen Erziehlehre.

Franz von Lenbach, Der HirtenknabeLenbach, Hirtenknabe          aus Levana

Dass die Menschen, wenn sie zur Welt kommen, noch klein sind, war eigentlich immer selbstverständlich. Dass sie dann größer werden, bis sie eines Tages ausge-wachsen sind, dass sie also an ihre Eltern heran wachsen – das war die meiste Zeit unserer Gattungsgeschichte ebenso selbstverständlich; sagen wir, ein bis zwei Milli-onen Jahre lang. Und vorher sowieso. 

Dass dieses Heranwachsen junger Menschen ein Problem wäre; eines, das eines be-sonderen Studiums, einer eigenen Wissenschaft gar und eines eigenen Heranwachs-instituts bedarf – das ist eine ganz und gar moderne Idee und überhaupt nicht selbstverständlich.

Es war eine Idee der europäischen Aufklärung. Und sogleich stieß sie auf Wider-spruch. Rousseau propagierte stattdessen „wachsen lassen“, und fand in Herder schnell einen fast ebenso beredten Gegenspieler. Wie die Geschichte weiter ging, habe ich ... auf den Seiten Allgemeine Pädagogik und Wissenschaft von der Erzie-hung? dargestellt. Eins will ich aber ergänzend noch festgehalten wissen: Am An-fang war das keine Angelegenheit von Fachleuten; denn ein solches „Fach“ gab es ja noch nicht.

Hätte es besser gar nicht entstehen sollen?

Nehmen wir an, es musste so kommen. Dann mag aber von den Stimmen, die im folgenden Jahrhundert kein Gehör finden sollten, dennoch mancher Gedanke ge-äußert worden sein, der des Bedenkens wert gewesen wäre. Und der in einem Mo-ment – heute ist ein solcher Moment , da das Bildungswesen als Ganzes in Frage steht, auf jeden Fall gehört zu werden verdient. Eben weil er nicht von Experten erdacht wurde. 
9. 4. 18
      Lesen Sie morgen:
Kant über Schulreform.
                
 

 

Dienstag, 2. April 2024

Der Verschleiermacher.

                                                                                 aus Levana, oder Erziehlehre

J. Fr. Herbart hatte seinen Versuch, Pädagogik Wissenschaft werden zu lassen, auf eine Aufgabe (gr. problêma) gegründet: Was ist die Aufgabe der Erziehung? Die Antwort: Moralität. Was ist das Mittel zur Beförderung von Moralität? Die ästhe-tische Darstellung der Welt.

Das war ein guter Anfang. Nur hätte er bei weiser Durchführung zu dem Schluss hinleiten müssen, dass sich die Pädagogik zu einer Wissenschaft eben nicht eignet. Herbart wurde nicht zum Stifter der modernen (pp.) Erziehungswissenschaft.

Deren Begründer wurde der seines Namens würdige Schleiermacher. Und zwar indem er eine Nebelkerze warf: 

"Es muss also eine Theorie geben, die von dem Verhältnisse der älteren Generation zur jüngeren ausgehend die Frage stellt: Was will eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?"* Damit wurde die Frage nach dem Grund der Pädagogik aufs Nachhaltigste – jedenfalls bis heute –  dem Reich der faulen Mauldrescherei über-antwortet. 

    


Die bürgerliche Gesellschaft hat sich in 'Erwachsene' und 'Kinder' geschieden, als der Berufsmensch – "Arbeit ist der Sinn des Lebens" zum Leitbild der westlichen Zivilisation aufstieg. Vor diesem Maßstab erschienen die zum Berufsleben noch Untauglichen als Zurückgebliebene. Wie es dazu kam, was darausfolgt – das sind lohnende Fragen einer kritischen historischen Sozialwissenschaft. Wenn man sie so formuliert. Aber das hatte Schleiermacher nicht im Sinn. Und noch war das histori-sche Ereignis zu jung, noch war der Abstand nicht groß genug, um die Fragen so zu formulieren. Vielmehr verallgemeinert Schleiermacher sie bis zur Unfasslichkeit: eine ältere Generation, eine jüngere Generation, und die eine will etwas mit der an-dern (will die andere auch etwas?); so war es immer und wird es immer sein.

Wo aber fängt die ältere Generation an, wo hört die jüngere auf? Verschiebt sich die Grenze alle dreißig Jahre? Alle Jahre? Jeden Tag?!

Und wo ist das Forum, wo die wie auch immer einzugrenzende 'ältere Generation' sich sammelt, mit sich zu Rate geht, zum wollenden Subjekt konstituiert und ent-scheidet: "Dieses will ich von jenen?“

Man muss die Frage nur aussprechen, damit sie so - das akademische Fach möge es mir nachsehen: ein besseres Wort finde ich nicht - dämlich klingt, wie sie ist. Darum ja spricht sie Schleiermacher natürlich nicht aus, sondern gleitet sanft lächelnd dar-über weg. Es hakt ja auch keiner nach, denn mit dem Grinsen des Auguren redet er zu Interessierten, und die rufen froh und hungrig "Hier! Wir sind das Forum!" 

Na schön, räumen sie auf Rückfrage ein, wir 'sind' es nicht ganz wirklich, aber wir stellen es dar!

Dies ist die Große Pädagogische Mummenschanz: Das Berufscorps der Erwerbs-pädagogen wirft an Stelle einer ansonsten gestaltlosen statistischen Fiktion unterm Etikett "ältere Generation" die Frage auf: Was wollen wir mit der jüngeren Genera-tion?

Die Antwort war eher da als die Frage: unsern Lebensunterhalt bestreiten. Und da-her kommt Schleiermacher zu dem Schluss: "Wir müssen an die jetzt bestehende Form der Erziehung unsere Theorie anschließen."**

*) Friedrich Daniel Schleiermacher, Grundzüge der Erziehungskunst (Vorlesungen von 1826) in: ders., Texte zu Pädagogik, Hg. v. Winkler u. Brachmann, Bd. II, Frankfurt/M 2000, S. 9  
**) ebd., S. 68

4. 9. 14 

Montag, 1. April 2024

Das Selbstbewusstsein stammt aus dem Wollen.

                                             zu  Levana, oder Erziehlehre

Das erste, was ein Neugeborener über sich selbst erfährt, ist, dass er wollend ist. Wenn er seinen Zeh betrachtet, merkt er, dass er ihn bewegen kann, wann er will.

Es ist nicht, dass er schreien muss, wenn er hungrig ist. Das hat er längst - und oft - getan, bevor er den Zeh als seinen erkannte, indem er ihn bewegt hat.

Es riecht nach was.

aus spektrum.de,  14. 10. 2024                                                                          zu Jochen Ebmeiers Realien Wahrn...