aus nzz.ch, 22. 3. 2024 Wirkteppich mit «Wildmann», Hirsch und Widder, Basel, um 1480. zu öffentliche Angelegenheiten
Zwischen Gott, Moral und Freizügigkeit
Das Mittelalter war besessen von widersprüchlichen KörperbildernDas
Landesmuseum Zürich zeigt, wie unterschiedlich der Körper vonseiten der
Kirche, in der Medizin und in der höfischen Gesellschaft wahrgenommen
wurde.
von Stephanie Caminada
Der
Körper ist allgegenwärtig. Er wird beurteilt, reguliert, inszeniert,
begehrt, gepflegt und optimiert. Er wird diskutiert im Zusammenhang mit
Diversität und Diskriminierung, Machtmissbrauch und sexueller Gewalt.
Zusammen mit dem Geschlecht spielt der Körper eine zentrale Rolle bei
der Suche nach Identität. Einmal beschreibt er ein definierbares Objekt
mit gesellschaftlichen Idealen, ein andermal die Selbstwahrnehmung.
Menschen sind an einen Körper gebunden, von der Geburt bis zum Tod.
Mit
dem Titel «begehrt. umsorgt. gemartert.» wirft das Landesmuseum Zürich
einen kulturhistorischen Blick auf die Auffassung des Körpers im
christlich geprägten Europa vom 10. bis zum 15. Jahrhundert. Und zeigt:
Die Menschen haben sich bereits im Mittelalter äusserst intensiv mit dem
Körper beschäftigt.
«Der
Ritter und seine Schöne» von Israhel van Meckenem spiegeln
Schönheitsideale: Enge Beinkleider mit Schamkapsel und Schnabelschuhe
galten als modisch. Die Frau trägt die Zöpfchenfrisur der
Am
Anfang steht die Geburt, die Nacktheit, Sinnbild eines naturnahen,
ungeformten Zustands. Kaum sind sie geboren, werden Säuglinge aber in
Leinen gewickelt, ihre Körper fügen sich in die Gesellschaft. Die Hülle
wird von sozialen Normen geprägt und passt sich entsprechend der
Veränderung der Normen an. Nach gelebtem Leben werden die Menschen
eingehüllt wie Kokons zu Grabe getragen.
Ein
Gemälde von Adam und Eva zeigt in der Ausstellung die nach der
biblischen Schöpfungsgeschichte letzten Menschen ohne Schamgefühl. Es
ist eines der wenigen Motive der christlichen Kunst, die es Malern ab
dem 9. Jahrhundert erlaubten, entblösste Körper darzustellen. Doch
bereits in diesem Bild bedecken sie mit einem Feigenblatt ihre
Geschlechtsorgane, wenn auch nur zufällig und spärlich, und verstecken
sich damit vor Gott.
Die
mittelalterlichen Vorstellungen des Körpers sind geprägt von der
kirchlichen Moral. Der Körper ist eine Schöpfung Gottes und deshalb
heilig. Gleichwohl ist das ewige Leben der Seele nach dem Tod viel
wichtiger. Es dreht sich alles um die Zweiteilung zwischen einer
äusseren Erscheinung, die zeitlich begrenzt ist, und einem Inneren, das
frei von Sünden und der Last des Körperlichen ins Paradies aufsteigen
wird. Eine reine Seele hat einen reinen, gesunden Körper.
Körperliches
Leiden ist in der mittelalterlichen Kunst omnipräsent: etwa in der
siebenteiligen Serie von 1490 aus Wien/Kassa zur Legende der Zürcher
Stadtheiligen Felix, Regula und Exuperantius, die ihre Qualen stoisch
ertrugen.
Gleichzeitig
gilt der Körper als Wohnort der Sünde, die sexuelle Lust gefährdet die
göttliche Ordnung. Sexualität wurde von der Kirche nur in der Ehe
geduldet, nur in einer bestimmten Stellung und nur zur Fortpflanzung.
Sexuelle Praktiken ausserhalb der Ehe und «widernatürliche» Handlungen
wie gleichgeschlechtliche Akte, Masturbation oder oraler Verkehr wurden
im Kirchenrecht ab dem 12. Jahrhundert unter Strafe gestellt.
Der
biblische Sündenfall sorgte dafür, dass die Frauen seit Eva als
Verführerinnen galten, getrieben von ihrem sexuellen Wesen. Der Mann war
immer der Verführte. So drehten sich etwa rechtliche Debatten um
sexuelle Nötigung und Gewalt im Hoch- und Spätmittelalter um die Frage,
ob die betroffene Frau den Täter sexuell gereizt und dabei selbst Lust
verspürt habe.
Die
Männer, vernünftige und beherrschte Wesen, wurden hingegen als
tölpelhaft, närrisch oder unzurechnungsfähig abgestempelt, wenn sie die
Kontrolle über ihre Triebe verloren. Die Prostitution war gang und gäbe.
Sie wurde als notwendiges Übel angesehen, das schlimmere moralische
Gefahren von der Gemeinde fernhielt. Denn ausserehelicher Verkehr führte
zur Ächtung von unverheirateten Frauen. Um die Sittlichkeit der
ehrbaren Frauen zu gewährleisten, wurden die «öffentlichen» Frauen
markiert, etwa mit einem gelben Band.
Nach
der Mitte des 14. Jahrhunderts kommen Schnabelschuhe aus feinem Leder
in Mode. Sie werden ein Standeszeichen der höfischen Gesellschaft.
Gotischer Schuh aus Leder, um 1420, Schloss Issogne, Norditalien.
Auch
wenn die Kirche eine strenge Sexualmoral vorgab, war das Mittelalter
nicht so prüde, wie man sich das vorstellt. Die Medizin empfahl Lust und
Beischlaf sogar ausdrücklich als Gesundheitsvorsorge. Dass das
tatsächliche Leben im Widerspruch zwischen Erotik und Moral stand,
zeigen verschiedene überraschende Exponate in der Ausstellung.
Zum
Beispiel höfische Schnabelschuhe, deren Spitzenlänge mit erotischen
Untertönen besetzt war. Kleiderordnungen mahnten damals, dass man es mit
dem Schnabel nicht übertreiben solle. Daneben hängt eine Zeichnung
eines Jünglings. Mit einem langen Dolch zwischen seinen Beinen bestürmt
er eine Jungfrau und verliert in seiner Wollust die Trippe, den
hölzernen Unterschuh.
Dass
den Menschen im Mittelalter erotische Gefühle nicht ganz geheuer waren,
zeigt billiger und massenhaft hergestellter Schmuck. Die Bedeutung der
obszönen Tragezeichen aus Blei-Zinn ist ungewiss. Sie wurden wohl für
verschiedene Zwecke an die Kleidung genäht oder angesteckt und waren in
ganz Westeuropa verbreitet.
Eines
der Motive könnte als Sinnbild der sexuellen Abhängigkeit von Männern
gegenüber Frauen gedeutet werden: Drei Phalli mit langen Beinen tragen
eine gekrönte Vulva wie bei einer Prozession auf einer Bahre. Es könnte
aber auch die Prozessionen der katholischen Kirche verspotten.
Ein
anderes Zeichen zeigt eine Vulva mit Flügeln und einer Krone oder einen
Phallus mit Beinchen und einem Glöckchen an der Eichel, der auf eine
Vulva zuläuft. Darunter steht die Inschrift «Pintel in», was so viel
bedeutet wie «Penis rein». Gefunden wurden sie in den Niederlanden
beziehungsweise in Belgien.
Die
personifizierten Genitalien handeln scheinbar eigenwillig und
unkontrollierbar. Der Mensch ist seinem Körper gewissermassen
ausgeliefert, er macht sich manchmal so ungewollt wie unpassend
bemerkbar.
Im
Heilbad vergnügen sich Jung und Alt und tauschen bei Speis, Trank und
Musik Intimitäten aus. Wegen des «Sittenzerfalls» in den Bädern und der
Verbreitung der Syphilis werden zu Beginn des 16. Jahrhunderts gemischte
Badehäuser geschlossen. Hans Bock d. Ä., «Das Bad zu Leuk», um 1597.
Höfische Ideale und utopische Gegenwelt
Körperkult
gab es schon damals. Die höfische Gesellschaft trieb grossen Aufwand
mit Kosmetik und körperlicher Ertüchtigung oder verbrachte ihre Zeit in
Badehäusern. Die Eitelkeiten spiegelt ein um das Jahr 1470 auf Deutsch
verfasstes Traktat an die höheren Stände. Es liest sich wie eine moderne
Anleitung für einen Coiffeur: wie man sich die Haare rot, schwarz oder
golden färbt oder das «Grau vertreiben mag», wie man das Haar glättet,
verlängert oder entfernt.
Höfische
Frauen trugen ihr Haar bis zur Heirat kunstvoll geflochten, dann wurde
es verhüllt. Bei den Männern waren lange, gelockte Haare das Ideal. Eine
reine, hell gepuderte Haut und dezent geschminkte Gesichter galten als
Zeichen von Schönheit, Gesundheit und Jugend. Der Rest der Bevölkerung
musste sich aber mit einem Besuch eines Bades und mit einem Läusekamm
begnügen.
Ebenso
eindringlich wie mit dem eigenen befasste man sich mit «anderen»
Körpern. Körpern, die von der Norm abwichen, wurde mit grosser
Verunsicherung begegnet. Dazu gehörten etwa Kleinwüchsige,
zweigeschlechtliche Menschen oder Menschen mit Deformationen. Sie wurden
exotisiert, als «Fehler der Natur» beschrieben oder unter dem Begriff
«monstra», Lateinisch für Wunderzeichen, als unheilvolle Omen gesehen.
Der Kirchenvater Augustinus (354–430) hingegen sah sämtliche
Abweichungen als Ausdruck der schöpferischen Vielfalt.<
Beschrieben
wurde bis ins 15. Jahrhundert auch die mögliche Existenz von
«Wundervölkern». Zum Beispiel «Wildleute», porträtiert auf Wandgemälden
oder Bildteppichen. Mit ihren nackten, behaarten Körpern standen sie für
eine utopische Gegenwelt jenseits moralischer Normen. Sie
widerspiegelten die unkontrollierbare Natur und warfen die Frage auf,
inwiefern sich der Mensch vom Tier unterscheidet. Reiseberichte in weit
entlegene Länder wie die des italienischen Händlers Marco Polo erwähnten
solche «Wundervölker» und machten sie populär.
Tanz
und Lust: Zu schriller Musik verrenken vier Männer sinnlich-ekstatisch
ihre Körper vor den Augen der Schaulustigen. Die junge Frau hält einen
Ring als Preis empor. Das Werben ist anstössig und der Narr unter ihnen
Sinnbild für unanständiges sexuelles Treiben. «Der Moriskentanz»,
Israhel van Meckenem, letztes Drittel des 15. Jahrhunderts, Kupferstich.
Der tote Körper als Alltäglichkeit
Allgegenwärtig
waren das Leiden, die Gewalt und der Tod. Der Körper war in ständiger
Gefahr. Mit dem Entstehen grosser Städte im 14. Jahrhundert lebten
Mensch und Tier auf engstem Raum. Krankheiten wie die Pest konnten sich
rasch ausbreiten. Auch damit stand der Körper im Mittelpunkt.
Ausgeliefert einem Verfall, den man mit den damaligen Mitteln der
Medizin nicht aufhalten konnte.
Die
Beschäftigung mit dem toten Körper war fast obsessiv. Angefangen mit
der Figur Jesus Christus am Kreuz, die überall zu sehen war. Die
Angehörigen waren besorgt um das jenseitige Schicksal der Verstorbenen.
Und die Kirche regelte auch diesen letzten Moment des Körpers: die
Aufbahrung, Einsegnung und Bestattung. Die zahlreichen Darstellungen wie
Totentänze inszenierten die Gleichheit der Menschen vor dem Tod.
Die
Ausstellung im Landesmuseum verdeutlicht, dass das Verständnis des
Körpers von den vielen widersprüchlichen Stimmen abhängig ist, die über
ihn sprechen, ihn kontrollieren oder pflegen. Im Mittelalter gaben die
Kirche, die Medizin und die höfische Gesellschaft den Rahmen dafür.
Die Ausstellung «begehrt. umsorgt. gemartert.» im Landesmuseum Zürich ist bis zum 14. Juli zu sehen.
Laut
dem Alten Testament verliert Hiob als reicher Mann alles und erkrankt
an eiternden Geschwüren. Kraft seines Glaubens überlebt er die
Krankheit. Er wird zum Sinnbild für die Überwindung von unverschuldetem
Leiden durch Krankheiten. Pseudo Bartolomeo di Giovanni, «Hiob auf dem
Krankenlager», um 1475, Pappelholz.
Nota. - Vom finsteren Mittelalter ist seit einem halben Jahrhundert nicht mehr die Rede. Stattdessen wird auf Festen und Mittelaltermärkten die Legende gesponnen, als sei damals das Leben heiter, prall und lustig gewesen. Dies ist so abwegig wie jenes es war. 'Früher war alles besser' stimmt auch dann nicht, wenn man noch ein paar Epochen weiter zurückgeht. Den Garten Eden gab es gar nicht. Und wird es nicht geben, weil man sich nie darauf verständigen wird, wie er sein soll.* Und das ist auch gut so.
*) Warum nicht? Weil es immer ein paar gibt, die es noch besser haben wollen.
JE
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