Freitag, 22. März 2024

Leviathan kriegt den Hals nicht voll.

  backwinkel     
 aus welt.de, 22. 3. 2024                                                    zu öffentliche Angelegenheiten; zu Levana, oder Erziehlehre;

Das kleine Herz von Vater Staat
Millionen Eltern vertrauen ihre Kinder einer Ganztagsbetreuung an. Doch anderthalb Jahrzehnte nach der großen Kita-Offensive ist klar: Vertrauen sollte man dem Staat besser nicht. Spätestens bei der Etatplanung sind ihm cortisolzerfressene Kinder und stressgeplagte Eltern zu gleichgültig.

Es war eine tektonische Verschiebung der Familienpolitik – als der Bund 2008 beschloss, Eltern ab 2013 einen Rechtsanspruch auf außerfamiliäre Betreuung ihrer Kleinkinder einzuräumen. Enthusiastisch verkündete die damalige Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) einen „Meilenstein für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf“. Und in den Ländern versprachen Familienminister wie Armin Laschet (CDU) leutselig, ab sofort würden schon Kinder unter drei Jahren in Kitas ganztags „gefördert“ und „gebildet“.

Was für ein leichtfertiges Versprechen. Aber man muss es ihnen womöglich nachsehen, sie wussten damals wohl nicht, was sie damit ins Rollen brachten. Der Deal lautete: Vor allem Mütter gehen früher, öfter, länger arbeiten. Im Gegenzug garantiert Vater Staat ihren Kleinkindern eine verlässliche und hochwertige Betreuung. Die Eltern glaubten diesem Versprechen. Und vertrauten ihre Kleinen den Kitas an – aktuell bundesweit knapp vier Millionen Kinder, davon 720.000 unter drei Jahren.

Gesetzesbruch zulasten der Kleinsten

Doch Vater Staat ist ein zweifelhafter Erziehungsberechtigter. Sein Herz für Kinder schrumpft, sobald die Etatplanung beginnt. Deshalb kann er eine verlässliche und hochwertige Betreuung der Kinder noch heute nicht gewährleisten. Das belegte diese Woche einmal mehr die Studie des Deutschen Kita-Leiter-Kongresses. Ihr zufolge sagen gut 56 Prozent der Kita-Leitungen, mehr als jede fünfte Stunde betreuten sie die Kinder mit weniger Personal als gesetzlich erlaubt.

Weiter erklären 83,6 Prozent, die Zahl der Kinder pro Fachkraft liege bei ihnen höher, als es die EU-weiten Mindestempfehlungen von Wissenschaftlern gestatten (höchstens drei U-3-Kinder und 7,5 Ü-3-Kinder sollen sich eine Fachkraft teilen). Diese Mindestempfehlungen hielten die Kitas in ihrer Mehrheit übrigens noch nie ein. Schließlich beobachten 66 Prozent, dass sie wegen Personalmangels heute Mitarbeiter einstellen, die sie vor Jahren wegen unzureichender Qualifikation nicht akzeptiert hätten – die armen Kinder. Und dieser Mangel wird sich verschärfen, darin sind sich Forscher einig.

Das Leid der Kinder – und der Eltern

Auch der Krankenstand der Erzieher und die Abbrecherquote der Auszubildenden bewegen sich in schwindelerregenden Höhen. Denn Erzieherinnen haben erstens Grenzen der Belastbarkeit und zweitens oft eigene Kinder, die ihnen im Zweifel noch wichtiger sind als die in der Kita. Kaum überraschend vermeldeten daher zum Beispiel die 10.700 NRW-Kitas im Januar mehr als 2700 Mal, das Mindest-Betreuungsniveau werde gerissen. Folge: Tausende Zusammenlegungen oder Schließungen von Gruppen oder ganzen Kitas.

Hinter solch trockenen Zahlen verbergen sich Schmerz, Stress und Tränen. Für berufstätige Eltern, deren fragile Alltagsplanung aus Arbeit, Kindern, Haushalt und Sonstigem in 1000 Stücke geschlagen wird durch eine spontan oder mehrfach pro Woche schließende Kita (und das über Jahre hinweg). Noch dramatischer aber für all die Kinder, die überfüllten Gruppen mit viel zu viel Lärm und viel zu wenig Personal ausgesetzt werden – und die angesichts von viel zu oft wechselnden Bezugspersonen um ein bisschen emotionale Stabilität und Vertrauen ringen müssen.

Der staatlich verordnete Dauerstress

Wie sehr dies vor allem, aber längst nicht nur Unter-Dreijährigen zusetzt, ist erwiesen. Zahlreiche Studien dokumentieren, dass das Stresshormon Cortisol zumindest während der ersten sechs Kita-Monate bei ihnen massiv erhöht ist. Zumindest bei Ein-Jährigen kann daran auch das bestmögliche Betreuungsniveau wenig ändern. Mit dem frühen Dauerstress steigt auch die Wahrscheinlichkeit für alle möglichen Folgeprobleme. Aber auf den schmalen Schultern der Kleinsten kann man es ja abladen – so scheint die Kaste der Familienpolitiker zu glauben.

Noch nicht eingerechnet sind da all die weiteren Belastungen. So sind die Meldungen über Gewalt in Kitas in vielen Bundesländern seit 2018 massiv angestiegen. Was laut Kinderschutzexperten wie Jörg Maywald von der FH Potsdam auch an der Überlastung der Betreuer liegt. Doch wer schaut diesen überforderten Betreuern über die Schulter? In den Bundesländern sieht es, von Hamburg abgesehen, bei den Kita-Kontrollen finster aus. Auf WELT-Anfrage mochte zum Beispiel keines der beiden NRW-Landesjugendämter mitteilen, ob und, wenn ja, wie viele anlassunabhängige Kontrollen es in Kitas überhaupt gibt.

Auffallend wenige Politiker stecken ihr Kind in Kitas

Übrigens ist es nicht so, dass diese Dramen den Familienpolitikern gleichgültig wären – auch wenn sie auffallend selten eigene Kinder in der Kita haben. Die einen sind kinderlos. Die nächsten delegieren den Nachwuchs an die treu sorgende Gattin. Die dritten engagieren ein teures Kindermädchen. Man kennt dergleichen – aus den Zeiten, als die hitzigsten Gesamtschulbefürworter ihre eigenen Nachkommen ins englische Elite-Internat schickten.

Nein, gleichgültig sind unsere Entscheider gleichwohl nicht. Sie nehmen cortisolzerfressene Kinder und unter Stress stöhnende Eltern eher seufzend in Kauf – als Preis für das ehrenwerte, vermeintlich alles überstrahlende Doppelziel, das die Kinder-Fremdbetreuung verfolgt: Zum einen mehr Arbeitskräfte gegen den Fachkräftemangel, zum anderen mehr finanzielle Unabhängigkeit für Mütter.

Denunziation der traditionell Familiären

Auch rechtfertigen sie ihr miserables Betreuungsangebot mit einer nun wirklich plumpen Scheinliberalität. Denn man könnte ja fragen: Wenn die Situation wirklich so belastend wäre – würden dann nicht viel mehr Eltern entscheiden, ihr Kind wieder nach Hause zu holen? Unter vier Augen erwägen Familienpolitiker bisweilen solche Gedanken.

Was an Infamie grenzt. Immerhin hat die Politik alles nur Erdenkliche unternommen, um Eltern in diese Falle hineinzulocken: Sie hat die Altersabsicherung nichtberufstätiger Eltern radikal verschlechtert. Und teure Kampagnen für die Doppelverdiener-Familie gestartet, um das „Klima“ pro Kita zu verbessern. Auch haben zumindest SPD und Grüne jede Abneigung gegen außerfamiliäre Betreuung oft als zurückgeblieben verunglimpft und das traditionelle familiäre Empfinden damit als reaktionär diskreditiert. Und die Finanzierung der heimischen Kinderbetreuung durch den Staat brachten sie als „Herdprämie“ in Verruf.

Wahrheitswidrig werden Eltern beruhigt

Fast die gesamte deutsche Politik verspricht immer neu (und wahrheitswidrig), bald werde sie auch die letzten Probleme im Griff haben. Und sie gaukelt Müttern und Vätern vor, sie könnten ihre Liebsten schon jetzt guten Gewissens den Kitas anvertrauen. Eins stimmt ja auch: Permanent steigert die Politik ihre Investitionen und damit die Zahl der Kitas und Betreuer (was sie subjektiv als Erfolg und gute Leistungsbilanz erlebt). Doch was sie zu leisten vermag, reichte bei Weitem nicht aus. Nie.

Was soll man aus all dem schließen? Weiter werden Eltern individuell abwägen müssen, ab wann, bis wann und wo sie ihr Kind betreuen lassen. Nur eins sollten sie keinesfalls mehr: auf das große Herz von Vater Staat vertrauen. Ein Staat hat keine Kinder. Das bleibt Mama und Papa vorbehalten.

 

Nota. - Es sind zwei gesellschaftliche Instanzen, die das Hohe Lied der Kita ebenso singen wie das der Ganztagsschule: erstens die Große Industrie, zweitens die staatli-che Verwaltung und ihr parlamentarisches Sprachrohr: die Fraktionen der beiden Parteien, in denen der Öffentliche Dienst mit erdrückender Übermacht vertreten ist. Die gefällige Vermittlung sind die Medien - die sich aus demselben Personenre-servoir speisen wie jene.

Das ist kein Geheimnis, jeder weiß es. Aber Du kriegst kein Wort dazwischen: Die öffentliche Rede führen sie allein. Es ist schon nicht mal mehr eine Sache von wahr und erlogen. Es ist längst eine Sache von anständig und dem Gegenteil.
JE

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