aus welt.de, 12. 3. 2024 zu Geschmackssachen; zu Jochen Ebmeiers Realien
Damit gelingen Schmitz-Esser tiefe Einblicke in eine Gesellschaft, die sich im Umbruch befand. 1491, 21 Jahre nach Dürers Geburt, hatte Christoph Kolumbus Amerika entdeckt, 1517, elf Jahre vor seinem Tod, Martin Luther die Reformation ausgelöst. Der Humanismus entwarf einen neuen Blick auf den Menschen, die Renaissance lieferte mit der Wiederentdeckung der Antike das Fundament dazu. Der moderne Fürstenstaat löste die Personenverbände des Mittelalters ab, eine technische Revolution das traditionelle Handwerk. Welche Möglichkeiten das einem Künstler bot, hat Dürer übrigens mit seinem druckgrafischen Werk bewiesen.
„Was Dürer ins Bild setzte, bietet tiefe Einblicke in seine Gesellschaft: in Genderrollen, soziale Differenzen, auf die geistige Rahmung des eigenen Lebens“ resümiert Schmitz-Esser, was auch bedeutet, dass der Schwerpunkt seines Buches auf Lateineuropa liegt. Die Komplexität seiner Lebenswirklichkeit spiegelt sich auch in der Quellenkritik, wie der Holzschnitt zeigt, mit dem der Historiker das Thema „Sexualität“ eröffnet.
Die Zeichnung eines weiblichen Aktes durch einen Künstler illustrierte nämlich keineswegs eine anatomische oder medizinische Situation, sondern diente als Beispiel in Dürers kunsthistorischer Abhandlung über die „Unterweisung der Messung“, wie das in Italien entwickelte Verfahren der perspektivischen Zeichnung nach einem Rastermodell genannt wurde. Dürer selbst hat das Blatt nicht in seine eigene Ausgabe aufgenommen. Erst seine Witwe Agnes ergänzte es in einer erweiterten Edition. Das bedeutet, dass die Darstellung eines Aktmodells und seines Malers von einer Frau in dem Bewusstsein in Umlauf gebracht wurde, dass sie damit ein überwiegend männliches Publikum ansprach.
Ging es um Geschäftstüchtigkeit und Voyeurismus? In der Oberschicht der freien Reichsstadt Nürnberg – 1509 wurde Dürer in ihren Großen Rat berufen – galten strenge Regeln. Sexuelles Fehlverhalten wurde verfolgt und geahndet. Humanistische Erziehungstraktate stellten die ideale Ehe als gleichberechtigte Beziehung von zwei gebildeten Partnern dar, von sexueller Befreiung keine Spur.
Das schloss ein reichhaltiges Reservoir schwüler Fantasie nicht aus. Schmitz-Esser zitiert aus einem Brief Dürers an seinen Freund, den Humanisten Willibald Pirckheimer. Der würde mehr als einen Monat brauchen, wenn er alle von ihm umworbenen Frauen an einem gesonderten Tag heiraten müsste. Der Künstler lässt sich zu einem Macho-Spruch zulasten seiner Frau Agnes herab: „Da ihr mir schreibt, ich solle bald kommen oder ihr würdet mir das Weib klistieren (Analverkehr betreiben), so verbiete ich Euch dies, es sei denn, ihr brächtet sie dabei zu Tode.“
„Die vielen Darstellungen nackter Frauen der Zeit – seien sie nun Hexen, Grazien, Tugenden oder die Urmutter Eva – haben nicht zufällig etwas Voyeuristisches an sich“, schreibt Schmitz-Esser, was zumal für männliche Betrachter galt. „Die hier erträumten Freiheiten hatten auf weiblicher Seite stets auch die Sorge um ungewollte Schwangerschaften zu gegenwärtigen.“ Denn auf die Tötung eines Kindes, dessen Zeugung Sex nach christlicher Moralvorstellung einzig und allein dienen sollte, stand die Todesstrafe.
Auch ehelichem Geschlechtsverkehr waren enge Grenzen gesetzt. Die Missionarsstellung mit vaginalem Verkehr, dazu nur an bestimmten Tagen, war das Ideal. Andere Spielarten erforderten die Absolution in der Beichte. Wenn aber etwa die Behörden Venedigs Prostituierten mit der Vertreibung oder gar Schlimmerem drohten, wenn sie Analverkehr anboten, dann zeigt das doch, dass die Praxis sich nur sehr bedingt an Regeln hielt.
Das galt auch für Dürers Standesgenossen, die sich verbal wohl über „Hurenfreuden“ ereiferten, gleichwohl aber Bordelle, Badehäuser oder weibliches Personal in ihren Haushalten zur Triebbefriedigung nutzten. Dürer selbst kokettierte gegenüber Pirckheimer mit der freudigen Erfahrung, dass mehr „Huren und fromme Frauen nach mir fragen“, was er allerdings als „ein Zeichen meiner Tugend“ verstanden wissen wollte.
Männliche Sexualität hatte ihre Grenzen, wo die Sodomie begann (nach der verfluchten Stadt Sodom des Alten Testaments). Damit wurden Homosexualität und der Geschlechtsverkehr mit Tieren bezeichnet. Im Zeitalter der Konfessionskämpfe wurden gern auch Andersgläubige als „Sodomiten“ diffamiert. Aber die zahlreichen Verfahren, die oft genug mit der Hinrichtung endeten, lassen auch den Schluss zu, dass es sich „um eine verbreitete Praxis“ handelte, folgert Schmitz-Esser: „Ihre Unterdrückung durch die Gesellschaft war jedoch ebenso real und in der Konsequenz grausam.“
Gegen ein Ausleben sexueller Begierden sprach auch eine Krankheit, die ab 1494 die Gesellschaften Europas verunsicherte. Von einem missglückten Feldzug nach Italien hatte ein Heer Karls VIII. von Frankreich eine Seuche mitgebracht, die daher die „französische“ genannt wurde, die Syphilis. Neue Analysen haben gezeigt, dass der Erreger Treponema pallidum bereits vor der Entdeckung Amerikas in Europa grassierte. Aber die Variante, die Seefahrer aus der Neuen Welt mitgebracht hatten, scheint für eine wesentlich schnellere Ausbreitung und Letalität der Krankheit gesorgt haben.
Wenn Dürer (von dem die erste Darstellung eines Syphilis-Kranken stammt) seinen Freund Pirckheimer bat, einen Prior der Augustiner um Gottes Beistand gegen die „sundelich vor den fraczosen“ anzuflehen, dann zeigt das auch, welche Angst ihn umtrieb. Denn „jch weis nix, daz ich jtz vbeller fürcht“ – übler oder mehr fürchte, nicht einmal die Pest.
Romedio Schmitz-Esser: „Um 1500. Europa zur Zeit Albrecht Dürers“. (wbg/Theiss, Darmstadt. 520 S., 44 Euro)
Nota. - In der Tat war Dürer Zeuge und Protagonist einer Zeitenwende. Der Übergang von dem spezifisch deutschen Malstil Spätgotik zur eigentlichen deutschen Renaissance wird markiert durch Dürers zweite Italienreis vom Spätsommer 1505 bis Anfang 1507. Er übernahm dort die Malweise der Italiener, in dem er in deren Land so großen Erfolg hatte, dass er ihn nördlich der Alpen heimisch machte.
JE
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