Samstag, 15. April 2023

Ist Sehen unser wichtigster Sinn?


aus spektrum.de, 1. 4r. 2023                                                                               zuJochen Ebmeiers Realien

WAHRNEHMUNG

Ist Sehen unser wichtigster Sinn?
Die Mehrheit der Menschen empfindet die Augen als ihre wichtigsten Sinnesorgane. Doch was ein Ausfall anderer Sinne bedeuten würde, ist uns womöglich nur weniger bewusst.

von Fabian Hutmacher

Der Verlust welcher Ihrer fünf Sinne – Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken – würde Ihnen am meisten Sorgen bereiten? Falls Sie sich fürs Sehen entscheiden, sind Sie in guter Gesellschaft: Die Mehrheit der Menschen empfindet das Sehen als ihren wichtigsten Sinn. Forscherinnen und Forschern geht es offenbar ähnlich. In der einschlägigen Fachliteratur finden sich viel mehr Studien zur visuellen Wahrnehmung als zu allen anderen Sinneskanälen. Weshalb ist das eigentlich so?

Oft wird angenommen, dass wir uns die Welt in ers­ter Linie über die Augen erschließen und unser Gehirn entsprechend auf die Verarbeitung visueller Reize spe­zialisiert ist. Doch ist dieser Eindruck tatsächlich richtig? Dass sehende Menschen sich bei den meisten Verrichtungen ihres Alltags in irgendeiner Weise auf die ­visuelle Wahrnehmung verlassen, ist offenkundig. Der Verlust des Sehsinns wäre daher sicher ein herber Einschnitt. Ande­rerseits können auch blinde Menschen mit etwas Unterstützung durchaus aktiv am Leben teilnehmen. Und ob es uns wirklich weniger einschränken würden, wenn wir einen unserer anderen Sinne verlören, bleibt dabei ebenfalls offen.

Nehmen wir zum Beispiel den Tastsinn. Ein vollständiger Funktionsausfall des Berührungsempfindens ist überaus selten, aber er kommt vor – und hat dramatische Auswirkungen, wie das Beispiel von Ian Waterman zeigt. Durch eine Virusinfektion, die einen Großteil seiner Sinnesnerven vom Hals abwärts schädigte, verlor der Patient das Gefühl für seinen Körper und dessen Position im Raum. Er konnte fortan weder sitzen noch stehen, vom Laufen ganz zu schweigen. Erst durch mühsames, monatelanges Training gelang es ihm, einige dieser Fähigkeiten zurückzuerlangen. Dabei lernte er, die Stellung und Bewegung seiner Glieder permanent visuell zu kontrollieren. Allein schon dieser Fall zeigt: Der Ausfall anderer Sinnesmodalitäten kann uns mindestens genauso sehr einschränken wie der Verlust des Sehens.

Prüfen wir eine zweite weit verbreitete Annahme: die Spezialisierung des menschlichen Gehirns auf die Verarbeitung visueller Reize. Trotz der Tatsache, dass die visuellen Areale innerhalb des menschlichen Neokortex beträchtlichen Raum einnehmen, ist auch dieses Narrativ auf den zweiten Blick weniger klar. Zum einen ist mittlerweile bekannt, dass Verarbeitungsprozesse im Gehirn nicht in streng unterteilten Modulen ablaufen – so verarbeiten die »visuellen« Areale durchaus häufig auch nichtvisuelle Informationen. Zum anderen ist die Größe eines Hirnareals nur ein möglicher Parameter unter vielen zur Bestimmung der Wichtigkeit. Man könnte beispielsweise die Anzahl der Rezeptortypen oder die absolute Größe des jeweiligen Sinnesorgans als Indikator heranziehen. Und hier nimmt das Sehen bei Weitem keinen Spitzenplatz innerhalb der Sinnesmodalitäten ein.

Hinzu kommt ein weiterer, ziemlich entscheidender Faktor: Die Bedeutung, die wir den verschiedenen Sinnen beimessen, unterliegt historischen und kulturellen Schwankungen. Dass uns das Sehen derart wichtig erscheint, hat vielleicht auch damit zu tun, dass wir in einer von visuellen Medien geprägten Gesellschaft leben. So wurden Informationen und Geschichten vor der kulturellen Revolution des Buchdrucks sehr oft mündlich tradiert.

Ist das Sehen also unser wichtigster Sinn? Ja und nein. Oder besser gesagt: Es kommt darauf an, aus welchem Blickwinkel man es betrachtet. Vielleicht ist die Frage auch einfach falsch gestellt, weil sie uns zwingt, etwas in eine Rangreihenfolge zu bringen, was sich nicht gut mit den Kategorien wichtig und weniger wichtig beschreiben lässt. Jeder unserer Sinne erschließt uns einen Ausschnitt unserer Umwelt. Unser Leben wäre sicherlich ärmer und weniger facettenreich, wenn wir auf einen unserer Sinne verzichten müssten – ganz egal auf welchen. 


Nota. - "Dass uns das Sehen derart wichtig erscheint, hat vielleicht auch damit zu tun, dass wir in einer von visuellen Medien geprägten Gesellschaft leben" - Herr Hutmacher, das ist doch eine Tautologie! Sie können den Satz umdrehen, ohne dass etwas vom Sinn verloren-ginge: Wir leben in einer von visuellen Medien... usw

Es hängt nämlich nicht am Buchdruck, sondern an der Arbeit. Und das heißt, weil wir gesellige Tiere sind, an der Zusammenarbeit, auf die wir angewiesen sind, weil wir nur gemeinsam überleben können. Viele Hände in einem erst einmal zu erfassenden Raum - da muss man sehen können, wohin man fasst. Hunde leben in einer riechenden Welt, Katzen in eine klingenden. Wie ist das mit Vögeln? 

Tiere müssen nicht arbeiten; nicht in der Natur. Und darum mussten sie sich keine Welt erschließen, sondern konnten sich in Umwelten einrichten. Die Welt ist aber ein Horizont, eine Linie, die sich verschiebt in dem Maß, wie man sich ihr nähert, und die man nur über-blickt, wenn man auf zwei Beinen steht. In eine weite Welt aufgebrochen sind die Men-schen nicht im Regenwald, sondern in der Savanne.

Freilich lässt sich der zurückweichende Horizont nicht messen, und es ist sinnlos, da haben Sie Recht, die Bedeutung der Sinne nach mehr oder weniger zu unterscheiden. Vielmehr stehen sie zueinander in einem dimensionalen, einem hierarchischen Sinn, wo der eine dem andern einen Raum eröffnet und ihm zugleich eine Stelle anweist. Es kommt darauf an, von welcher Stelle aus man dort hineinblickt, um ersten, zweitens, drittens zu unterscheiden. Es ist keine Sache der Anschauung, sondern der Reflexion. Die geschieht dort, wo die Meldun-gen aller Sinne zusammenlaufen, im Zentralorgan. Dort fängt das Arbeiten überhaupt erst an.
JE 



Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

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