Dienstag, 25. April 2023

Schöne Nachhaltigkeit.


aus welt.de, 25. 4. 2023             Landschaft mit Windkraftästhetik: Tulpenfelder von Monet, 1886, und von heute     zu Geschmackssachen

NACHHALTIGE SCHÖNHEIT
Die Symbole des Fortschritts gehören zur schönen Landschaft dazu


von Richard Kämmerlings

Erst wenn wir Natur nicht als Zweck und Ressource wahrnehmen, wird sie zur Landschaft. Das heißt aber nicht, dass die Spuren der Zivilisation darin keinen Platz hätten – im Gegen-teil. Die Utopie der Landschaft lebt gerade von ihren Widersprüchen. 

Die Landschaft wurde an einem Tag Ende April erfunden. Im Jahre 1336 macht sich der italienische Dichter Francesco Petrarca daran, den Mont Ventoux zu besteigen, den er in seinen in Avignon verbrachten Kindheitstagen stets vor Augen gehabt hatte. Der Aufstieg ist äußerst mühsam, und als die Wanderer endlich oben angelangt sind und die Wolken unter ihnen liegen, ist Petrarca so vom Anblick überwältigt, dass es ihm die Sprache ver-schlägt.

Auf die Idee, auf einen Berg zu kraxeln, einfach nur um von oben runterzuschauen und die Aussicht zu genießen, war bis dahin niemand gekommen. Petrarca gilt seither als erster Bergsteiger und als Pionier eines neuen, kontemplativen, ästhetischen Verhältnisses zur Natur, als Erfinder der Landschaft.

Der Schweizer Kunsthistoriker Jacob Burckhardt hat Petrarcas Gipfeltour in seinem Klassiker „Die Kultur der Renaissance in Italien“ von 1860 einen prominenten Platz zugestanden: „Die Entdeckung der landschaftlichen Schönheit“ lautet das Kapitel, in dem es über Petrarca heißt, er habe „die malerische Bedeutung einer Landschaft von der Nutzbarkeit“ zu trennen gewusst. Landschaft ist nicht einfach nur Natur, irgendwie eine mehr oder weniger beliebige Addition von Feldern, Wäldern, Bergen, Tälern und Flüssen, sondern die subjektive Wahrnehmung einer Ganzheit.

Mit der berühmten Formulierung Kants ist diese gekennzeichnet durch „interesseloses Wohlgefallen“ – woraus sich ergibt, dass jeder praktische, professionelle, forschende Blick die Landschaft verfehlt. Der Bauer sieht keine Landschaft, sondern Felder mit guten oder weniger guten Böden, der Rheinschiffer keine Flusslandschaft, sondern einen Transportweg mit einem bestimmten Wasserstand. Zugespitzt gesagt: Wer als Nutznießer oder auch Wissenschaftler schaut, der sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Wer eine Landschaft aber als solche wahrnimmt und nicht einfach nur Gelände, Ressourcen oder Hindernisse sieht, fällt automatisch auch ein ästhetisches Urteil: „Das ist schön.“ Das gilt paradoxerweise auch und gerade dann, wenn diese Landschaft „verschandelt“ ist: weil das, was den Gesamteindruck stört, etwa ein Windrad oder ein Funkmast, einen ästhetischen Blick auf Ganzheit voraussetzt. Wenn man auf der Autobahn durch manche Gegenden in Brandenburg fährt, könnte man meinen, dass manche Landschaften überhaupt erst durch ihre extensive Windradbewirtschaftung in den Blick geraten.

Für die Entstehung des modernen Begriffs von Landschaft war aber mehr notwendig als nur die müßiggängerische Stimmung von Dichtern oder Malern. Denn vor der Industrialisierung gab viel mehr ungenutzte, intakte Natur (auch wenn jede Landschaft immer schon gestaltete Kulturlandschaft ist und unberührte Natur ein Mythos). Warum also kommt Landschaft – in der Kunst etwa – gerade in einer Epoche auf, als der Mensch in Mitteleuropa die Natur immer mehr und in großem Stil nutzbar machte und ihr gerade nicht frei und „interesselos“ begegnete?


Das große Zeitalter der Landschaftskunst – von der niederländischen Malerei des Barock bis zur Romantik – lief parallel zu ihrer Unterwerfung unter den menschlichen Erfindergeist: durch die Gewinnung von Bodenschätzen im Bergbau, der Erschließung des Raums durch Kanalprojekte und einen Ausbau des Straßennetzes, den es in Europa in dieser Dimension zuletzt im antiken Rom gegeben hatte.

Als Petrarca auf den Mont Ventoux stürmte

Der Philosoph Joachim Ritter hat in einem Aufsatz von 1963 mit dem Titel „Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“veine folgenreiche These aufgestellt: Landschaft ersetze in der Neuzeit das, was früher der geschlossene Kosmos antiker oder christlicher Weltbilder gewesen sei. Sie sei eine Art Kompensation für die Entzweiung von der Natur, die der Mensch in der Moderne notwendigerweise erleiden müsse. Als Preis für die Befreiung aus den unmittelbaren Naturzusammenhängen, also eines Daseins als Bauer, Hirte oder Fischer, das ganz im Einklang mit und in Abhängigkeit von der Natur steht, ist für den städtischen, zweckrationalen Menschen der Neuzeit die Natur keine Ganzheit mehr, in die er fraglos einbezogen ist, im Guten wie im Schlechten.

Interessanterweise nimmt sich auch Ritter die Ventoux-Besteigung von Petrarca vor, aber er deutet sie anders als Burckhardt. Denn warum beschreibt der Dichter die Schönheit des Blicks vom Gipfel nicht, den er mühsam als vermeintlich Erster bestiegen hat? Oben angekommen liest Petrarca in den „Bekenntnissen“ des Augustinus Folgendes: „Die Menschen gehen hin und sehen staunend die Gipfel der Berge und die Fluten des Meeres ohne Grenzen, die weit dahinfließenden Ströme, den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne, aber sie haben so nicht acht ihrer selbst.“ Petrarca verstummt, weil ihm klar wird, dass er in der Bewunderung von „Irdischem“ sich selbst vergisst: Der Betrachtung wirklich wert ist nur das Innere der eigenen Seele, nämlich Gott.

Bis an die Schwelle der Neuzeit richtete sich, so Ritters Argumentation, das Nachdenken des Menschen, also die „Theorie“ der philosophischen Tradition, stets auf den ganzen Kosmos der Natur, auf eine göttliche Ordnung, in der Himmel und Erde zusammengehören. Auf einen Berg wagte man sich allenfalls, weil er der Sitz von Göttern war oder ein Ort der Offenbarung. Unter den zergliedernden Blicken der modernen Naturwissenschaft – durch Fernrohre, Prismen und Mikroskope – zerfällt das Ganze in Einzelteile und wird dadurch technisch nutzbar gemacht. Mit dem neuen kopernikanischen Weltbild treten das objektive Wissen über die Natur und die alltägliche, „naive“ Erfahrung auseinander: Wir sehen immer noch die Sonne auf- und untergehen und die Sterne um uns kreisen.

Ritters Pointe ist, dass in der ästhetischen Landschaftsbetrachtung die kopernikanische Wende wieder zurückgedreht wird, für den entzweiten Menschen Himmel und Erde weiter vereint sind: „Landschaft ist die ganze Natur, sofern sie als ‚ptolemäische‘ Welt zum Dasein des Menschen gehört“, so Ritter, der sich hier auf die „Briefe über Landschaftsmalerei“ des romantischen Malers und Philosophen Carl Gustav Carus bezieht. Carus, der mit Goethe, Caspar David Friedrich und Alexander von Humboldt befreundet war, hatte Landschaftskunst als „Erdlebenbildkunst“ definiert. „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ oder „Kreidefelsen auf Rügen“ zeigen eben nicht Natur, wie sie ein Geologe oder Meteorologe sehen würde, sondern eine Landschaft, die das Subjekt in eine vormoderne Einheit zurückästhetisiert.

Der große Bereinigungsfuror

Nun hat sich zwar die Landschaftsmalerei über die impressionistische Revolution und die symbolistischen Aufladungen weiterentwickelt, aber die romantische Sehnsucht nach Wiederherstellung verlorener Einheit prägt das populäre Naturgefühl bis heute. Wenn nicht mehr in der Kunst, dann definitiv noch im Tourismus, was schon Ritter in seiner milden Polemik gegen die „Prospektlandschaft des Reisens“ kritisierte. Wer heute zum Königsstuhl nach Rügen fährt oder eine Bootsfahrt auf dem Rhein macht, hat Caspar David Friedrich oder William Turner im Hinterkopf beziehungsweise in seiner Smartphone-Mediathek.

Aber die andauernde Wirkung der Romantik ist leicht verständlich, wenn man sie ihren historischen Kern als Entschädigung und Weltbildreparatur begreift: Die Beherrschung der Natur ist gewaltig vorangeschritten. Im Festhalten an einer längst in mathematischer Abstraktheit verblichenen Ganzheit hat die Rede von Landschaft immer schon einen nostalgischen oder sogar offen konservativen Zug. Der ist unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung, also etwa von der politischen oder gesellschaftlichen Frage, ob gigantische Windräder für die Energiewende wirklich auch im Allgäu massenhaft aufgestellt werden müssen. Landschaft bezieht Künstliches, Menschengemachtes, sogar Industrielles immer mit ein. Folgt man der Kompensationsthese Ritters, liegt die Leistung der Ästhetik darin, dass sie das Entzweite versöhnt und integriert, auch noch ein Sinnbild der Naturferne wie das Windrad in den humanen Horizont reintegriert.

Gelungene Landschaftsmalerei (oder auch -dichtung) ist deshalb nicht einfach ein zeitloses Idyll, das Industrieschlote, Kanalbauten, Schleusen, Zechen ausblendet, sondern sie lässt all das zum Teil der Landschaft werden. Man denke an William Turners Gemälde „Rain, Steam, Speed – The Great Western Railway“, das geradezu eine Ikone des modernen Zeitalters ist. Oder an Vincent van Goghs „Brücke von Arles“. Dass der industrielle Fortschritt von gestern den Nachgeborenen als Idylle von heute erscheint, zeigen viele Beispiele, von den Windmühlen und Schleusen bis zu den Zechentürmen im Ruhrgebiet. Auch die klassisch gewordenen Schwarzweiß-Fotografien stillgelegter Industrieanlagen von Ernst und Hilla Becher lassen sich als Landschaftsbilder lesen.

Am historischen Beginn der Landschaft steht die Entzweiung von der Natur. Diese Entzweiung hat uns am Ende des fossilen Zeitalters in eine Lage gebracht, in der wir gezwungen sind, mit riesigen Windparks der Zerstörung Einhalt zu gebieten. Ästhetik reicht als Rettendes nicht mehr. Es mag unseren gewohnten Blick irritieren, vielleicht auch die tröstliche Idylle zerstören, in der sich Outdoor-Fans und Stadtmüde immer noch illusionär einrichten konnten: im Trugbild einer unberührten, in Harmonie mit dem Menschen ewig existierenden Natur. Doch im Begriff der Landschaft steckte immer schon der Urwiderspruch, dass der Mensch nur jene Natur genießt, die er sich zugleich untertan macht.


Nota. - Er fragt, und das ist löblich, seit wann und wie die Landschaft ästhetisch wahrge-nommen wurde. Interessanter ist aber, seit wann und wie die Landschaft ästhetisch wahr-genommen wird. Und das läuft auf die Frage hinaus: Wann und wie hat sich ästhetisches Wahrnehmen aus der Verstrickung mit thematisch-utilitären Motiven entbunden und eman-zipiert?

Weil er dieser Zuspitzung ausweicht, gelingt es ihm aber nicht, beim ursprüngliche Thema zu bleiben ist, von der Natur, die entweder ein wertfreie Abstraktion ist - oder ein schwül-stiges Ideologem. Nachhaltigkeit ist nicht ästhetischer als Ganzheit oder Stickstoffgehalt. Das Ästhetische ist nicht der Trost über die vorbürgerliche verlorene Heimat, sondern die Überwindung der bürgerlichen Zweckhaftigkeit. 

Und ob ein Windrad an dieser einen Stelle den Anblick stört oder bereichert, ist eine konkrete Frage im gegebenen Fall. 
 JE



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