Samstag, 1. April 2023

Wer glaubt schon noch an die Wissenschaft?


aus Die Presse, Wien. 1. 4. 2023                                      Mit Physiologie, Pharmakologie und Pathologie bildete sich die experimentelle Medizin erst ab 1850 langsam heraus.                                                                                  zu Jochen Ebmeiers Realien 

Warum glauben wir nicht mehr an die Wissen-schaft?
Zwar hat die Wissenschaft die Welt begreifbar gemacht – doch nur für einen immer kleineren Zirkel. Ihre Befunde widersprechen unseren unmittelbaren Anschauungen: Wir sehen die Sonne jeden Tag untergehen – auch wenn wir gelernt haben, dass das nicht stimmt.

von Alexander Berger

Als Ignaz Semmelweis im Frühjahr 1847 erkannte, dass Hygienemangel im Spital das ge-fürchtete Kindbettfieber verursacht, war das Problem damit keineswegs gelöst. Zwar konnte Semmelweis – damals Assistenzarzt in der Geburtshilfeabteilung des Wiener Allge-meinen Krankenhauses – empirisch zeigen, dass die Todesrate unter den gebärenden Frau-en abrupt zurückging, wenn die behandelnden Mediziner ihre Hände mit Chlorkalklösung desinfizierten. Doch diese Einsicht brachte ihm keinen Ruhm ein, im Gegenteil: Intrigen und Feindseligkeiten führender Fachkollegen verhinderten eine glänzende Karriere. Sem-melweis starb 1865, verbittert und verkannt, in der Döblinger Nervenheilanstalt. Erst nach seinem Tod begann sich seine Theorie durchzusetzen. Warum?

Zu Zeiten von Semmelweis, zweihundert Jahre nach der wissenschaftlichen Revolution, befand sich die Medizin noch im Mittelalter. Tradition und Intuition wurden großgeschrie-ben, experimentelle Methoden waren randständig. Mit Physiologie, Pharmakologie und Pathologie bildete sich die experimentelle Medizin erst ab 1850 langsam heraus. Vor diesem Hintergrund war Semmelweis ein Pionier der wissenschaftlichen Einstellung: Seine Theorie, dass „Leichengift“ an den Händen der Mediziner die hohe Frauensterblichkeit verursachte (Bakterien kannte man damals noch nicht), entwickelte er durch klinische Experimente. Mittels kontrollierter Beobachtung konnte er zeitgenössische Theorien widerlegen, die entweder die schlechte Luft, die Gebärstellung der Frauen oder sogar die entkräftende Wirkung der ständigen Priesterbesuche auf der Station verantwortlich machten. Die experi-mentelle Herangehensweise von Semmelweis, sein bohrender Zweifel an den damals geläu-figen Erklärungen, aber auch an seinen eigenen Hypothesen, die er im Forschungsverlauf immer wieder revidierte – all das macht deutlich, dass der später so genannte „Retter der Mütter“ etwas unerhört Neues in die Medizin einführte, nämlich das wissenschaftliche Ethos. Dieses Ethos ist überall dort präsent, so hat der US-amerikanische Soziologe Robert K. Merton argumentiert, wo wirklich Wissenschaft betrieben wird. Denn alle Wissenschaft, die diesen Namen verdient, beruht auf der Bereitschaft, alle Wissensansprüche anhand em-pirischer und logischer Maßstäbe zu prüfen – ohne Ansehen der Person, ihrer Herkunft, Hautfarbe oder sexuellen Orientierung.

Eine hartnäckige Skepsis ist daher die Geschäftsgrundlage der modernen Wissenschaft. Dieser kritische, ja respektlose Geist der Wissenschaft hat allerdings seinen Preis: Wer sich am Spiel der Wissenschaft beteiligen will, muss ein hohes Maß an Selbstkritik, an Selbstrela-tivierungsfähigkeit mitbringen. Man muss allen Behauptungen (auch den eigenen) mit ge-sundem Misstrauen begegnen und kritischen Einwänden immer gute Gründe unterstellen. Autoritarismus und Dogmatismus vertragen sich nicht mit dem Ethos der Wissenschaft. Genau deshalb kann man die Wissenschaft als moralische Instanz verstehen: Weil sie Werte verkörpert, die ein gedeihliches Miteinander in modernen, fragmentierten, pluralistischen Gesellschaften fördern. Natürlich werden diese Werte in der wissenschaftlichen Praxis immer wieder verletzt – doch die Skandalisierung dieser Verfehlungen unterstreicht die ungeteilte Bedeutung dieser Werte.


Nota. - Wenn schon sonst keiner mehr: Die Wissenschaftler glauben ja wohl noch an die Wissenschaft; und wer es nicht tut, soll keinen wissenschaftlichen Beruf wählen. Aber das ist ein Zirkel. Ohne Wissenschaftler keine Wissenschaft, und Wissenschaft ist nur zu Hälfte einer Sache der Kenntnisse. Zum andern eine Sache der Absicht: Man muss sie um ihrer selbst gewählt haben. Das gehört zur persönlichen Kultur, und die schwimmt auf einem See von Populärkultur und ist von ihr vorgewärmt. Wenn sie aber nicht Acht gibt, löst sie sich darin wieder auf.

JE

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