Freitag, 7. April 2023

Wie das Kapital durch die Poren sickerte.

Quentin de Metsys                                                   zu öffentliche Angelegenheiten 
aus Die Presse, Wien, 4. 4. 2023

Kredit im Mittelalter: 
Geldgeschäfte an der Schank

von Uschi Sorz

Heute gilt der Zugang zu Krediten als eine der Grundvoraussetzungen für Wirtschafts-wachstum. Im Mittelalter allerdings hatte man von dem abstrakten Konstrukt eines „freien Markts“ noch keine Vorstellung. Ein institutionalisiertes Banken- und Kreditwesen gab es nicht. „Dennoch hat Europa ab dem Mittelalter eine enorme wirtschaftliche Wachstums-phase durchlebt“, sagt Stephan Nicolussi-Köhler. Der 36-Jährige ist Assistenzprofessor am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Uni Innsbruck. Den scheinbaren Widerspruch erklärt er so: „Damals haben Männer und Frauen durchaus Finanzdienstleistungen angeboten, aber meist auf informelle Art. Dass beispielsweise Notare oder Kaufleute nebenbei Geld verliehen und Gastwirte Dreh- und Angelpunkt mittelalterlicher Kreditgeschäfte waren, übersieht man leicht, wenn man heutige ökonomische Maßstäbe anlegt.“

Vergangenem Leben nachspüren

Nicolussi-Köhler interessieren die wirtschafts- und sozialhistorischen Fragen des Mittelalters, weil sie das pulsierende Leben in dieser Zeit spiegeln. Geld als solches betrachtete der mittelalterliche Mensch zwar mit ganz anderen Augen als der moderne, doch selbstverständlich war der Austausch von Gütern ebenfalls Teil seines Alltags. Veränderte sich etwa die Form der Abgaben an den Grundherrn von Naturalien in Geld, wie es rund um 1300 üblich wurde, so konnte das bei hohen Lebensmittelpreisen einen günstigen Einfluss auf das bäuerliche Einkommen haben. Umgekehrt wurden durch derartige Entwicklungen die Einkünfte der Grundbesitzer geschmälert. „Solche Prozesse zu untersuchen und ihre Kausalitäten herzustellen ist spannend.“ Schon als Kind habe er sich beim Anblick alter Gebäude gefragt, wie Menschen in früheren Zeiten gelebt haben, erzählt der Wiener. Und während seines Geschichtsstudiums an der Uni Wien habe er gemeinsam mit seinem Bruder, einem Künstler und Kunsthistoriker, alte Kulturregionen Europas durchwandert. „Das hat die Faszination für mein Fach noch verstärkt.“ Ob von Saint-Jean-Pied-de-Port an der französisch-spanischen Grenze bis Santiago de Compostela oder entlang der Via Francigena vom schweizerischen Lausanne nach Rom: „Schauplätze seiner Forschung aus eigener Anschauung zu kennen macht einen Unterschied.“

Mit einem Studienaufenthalt in Frankreich in den Archiven von Marseille kam noch die Freude an der methodischen Arbeit mit originalen mittelalterlichen Quellen hinzu. „Das ist wie ein Puzzle mit vielen verloren gegangenen Teilen. Zuerst versucht man, die vorhandenen Stücke in ihre ursprüngliche Position zu bringen, dann überlegt man sich anhand der rekonstruierten Fragmente, wie das gesamte Bild ausgesehen haben könnte.“ Dieses Training in Geduld und Kreativität kommt auch Nicolussi-Köhlers Forschungsfokus, den „unteren 99 Prozent der Gesellschaft“, zugute. „Was von der Vergangenheit erhalten bleibt, ist oft eine Machtfrage. Wir haben deutlich mehr Kenntnis von der Kultur des Adels als von den unteren Schichten.“ Darum müsse man hier den Blick auf andere Quellen richten. In seinem aktuellen Projekt zu den Kreditgewohnheiten im 13. und 14. Jahrhundert im Alpenraum etwa auf Inventare, Notariatsregister oder Gerichtsprotokolle. So untersucht er, welcher Bedarf an finanziellen Dienstleistungen – wie z. B. Krediten, Ansparungen oder Altersvorsorge – bestand und wie man ihn bedienen konnte.

Vor Kurzem wurde der Historiker für sein Buch „Marseille, Montpellier und das Mittelmeer“ zum südfranzösischen Fernhandel im 12. und 13. Jahrhundert von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit dem Jubiläumspreis des Böhlau-Verlags ausgezeichnet. Inhalt ist seine Dissertation, die er 2018 an der Uni Mannheim abschloss. 


Nota. - Kaum zu glauben: Ein 'abstraktes Konstrukt' kommt vor, aber nicht der elementare Umstand, dass die römische Kirche das Geldverleihen gegen Zins als sündhaft verboten hatte. Es blieb daher den Juden vorbehalten, die dadurch den reicheren Christen unverzicht-bar, aber  nicht sympathisch wurden. Durch die Poren der mittelaltrigen Gesellschaft, wie Marx schrieb, verbreiteten sie sich in ganz Europa. Grundeigentum war ihnen in der Feudalordnung verwehrt, ebenso der Zugang zu den Zünften, so dass ihnen kein ehrliches Gewerbe offenstand. Ihre engen Familienbindungen weit über alle Grenzen erlaubte ihnen aber rasche und große Geldbewegungen, ohne die mancher christliche Handelsherr und regierende Fürst in manche Not geraten wäre.

Kleinere Leute waren in kleinen Orten, wo es keine Judenviertel gab, auf kleinere Darlehen angewiesen, die ihnen christliche Geschäftsleute unterm Siegel der Verschwiegenheit gewährten, die sie womöglich anders als in Bargeld vergüten konnten. Das wird sich naturgemäß nur lückenhaft dokumentieren lassen. Doch dass es gang und gäbe war, ist immerhin wahrscheinlich. Es bereitet bürgerlicher Lebensauffassung den Weg, und das kann man gar nicht überschätzen. Doch zur Anhäufung jener Kapitalmengen, die schließlich die Industrialisierung möglich machten, wird es kaum beigetragen haben.
JE


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