aus nzz.ch, 26. 2. 2024 zu Philosophierungen
Stückwerk
des Geistes
Der Verfall von Großphilosophien kündet von der
Formschwäche west-lichen Denkens, aber auch von der Demokratisierung des
Denkens und Fühlens.
Die
aufklärerischen Philosophien des Westens, welche die moderne Welt
hervorgetrieben haben, stehen vor einem Trümmerhaufen. Was sich als
universal verstand, wird heute als interessengeleitet denunziert. Das
Erbe unserer Kultur steht auf dem Spiel und mit ihm die Idee der
Menschheit.
Gibt
es heute noch Großphilosophien? Man könnte Peter Sloterdijks
«Sphären»-Trilogie (1998–2004) als solche bezeichnen. Aber die
«Neuerzählung» der Mensch-heitsgeschichte fällt sich selbst in den
Rücken: Eine sich verzettelnde Lust am Metaphorischen – die Sphären sind
Kugeln, Blasen, Schäume – tritt an die Stelle des Versuchs, die
Conditio humana in geistigen Prinzipien zu fundieren. 2013 erschien dann
das Buch «Warum es die Welt nicht gibt» von Markus Gabriel. Mit dem
Gestus des Großphilosophischen wird über die Welt als Ort von
«Sinnfel-dern» nachgedacht. Doch wehrt dieser «Neue Realismus» jede
Reflexion über den «Sinn des Ganzen» ab. Der Welt selbst, als dem Ort
alles Seienden, sei nichts der-gleichen zuschreibbar...
Treten
wir einen Schritt zurück. 1848: Friedrich Engels und Karl Marx wollten
Hegel «vom Kopf auf die Füße» stellen. Für Hegel, den Idealisten, waren
das Ganze und der Geist identisch. Marx hingegen sah in der
Geistmetaphysik, verkörpert durch Sitte und Religion, die Rechtfertigung
bestehender Ausbeutungsverhältnisse: Opium für das Volk. Laut dem
historischen Materialismus blockiert der «Geist», als bourgeoise
Ideologie, die kommunistische Revolution; vergeblich. Großphiloso-phien
bleiben selten ohne blutige Utopie.
Doch
bereits seit Hegels monumentaler Dialektik, die Arthur Schopenhauer als
Galimathias, Aberwitz und Unsinn gegeisselt hatte, wurde immer
deutlicher: Das Zeitalter der Grossphilosophien, die es unternahmen, die
Welt, vom Atom bis zur Zivilisationsdynamik, aus angeblich
selbstevidenten Prinzipien herzuleiten, war vorbei. Aber nicht ganz, ein
letztes Aufbäumen stand bevor. Martin Heidegger wollte in seinem
epochalen Werk «Sein und Zeit» (1927) das tiefe Denken retten, indem er
es vor den Gegenwartsdiskursen – dem «Gerede» – in Sicherheit brachte.
Sein Motto: Rettung der Philosophie durch Wiederbesinnung auf ihren
Ursprung.
Fehlendes Fundament
Laut
Heidegger bedurfte es eines Rückgangs zur griechischen Vorsokratik, die
etwa von 600 bis 350 v. Chr. ihre Ursprungs-Lehren formulierte. Nur
dadurch wäre es möglich, erneut eine Philosophie des Seins zu entwickeln
– und damit auch die grundlegende Stellung des Menschen zu bedenken,
der als einziges Wesen zur Seins-Erkenntnis fähig, aber keineswegs die
alle Maßstäbe setzende «Krone der Schöpfung» sei. Heidegger behauptet,
seine ursprungsphilosophische Grundlegung befreie von den
humanistischen, den rationalistischen und idealistischen Einengun-gen.
Dass
der Meisterdenker sich dabei in pathetischen Formeln ergeht – das Sein
wird schließlich als «Seyn» in einen quasireligiösen Rang erhoben –,
ist von Kritikern oft hervorgehoben worden: Aus dem Sein/Seyn als
Urgrund der Welt lässt sich alles und nichts herauszaubern. Wir haben
es, nüchtern betrachtet, mit einer großphilo-sophischen Leerformel zu
tun, in welche alle möglichen Welterklärer ihre obskuren Gedanken
hineinprojizieren können.
Wir
leben in einer Zeit der Fragmentierungen des Geisteslebens, soweit die
ideologischen Verwerfungen, die wir zurzeit durchleben, ein «Leben des
Geistes» überhaupt zulassen.
Als
Jürgen Habermas, linkshegelianisch geschult, 1968 sein Werk «Erkenntnis
und Interesse» vorlegt, da ist der Geist gleichsam schon in die Brüche
gegangen. Er hängt in seinen Leistungen ab von «transzendentalen
Interessen»: Neben einem wissenschaftlich-technischen und einem
hermeneutischen, dem wechselseitigen Verständnis dienenden Interesse
existiert – bei Habermas entscheidend – ein Interesse, das auf die
Emanzipation des Menschen, dessen Befreiung von aller Ausbeutung und
Selbstentfremdung, gerichtet ist.
Bei
alldem fehlt ein übergreifendes Prinzip oder Fundament, wie es noch der
Fall war bei Kant («das Ding an sich»), bei Nietzsche («der Wille zur
Macht»), bei Scho-penhauer («die Welt als Selbsterkenntnis des Willens»)
oder bei Heidegger («das Sein des Seienden»). Heute, nach einer
stürmischen Phase der Sprachkritik, ist die akademische Zunft längst von
allen philosophischen Welterklärungstheorien abge-rückt. Wir leben in
einer Zeit der Fragmentierungen des Geisteslebens, soweit die
ideologischen Verwerfungen, die der Westen zurzeit durchlebt, ein «Leben
des Geistes» überhaupt zulassen.
In
den ruhigeren akademischen Gewässern finden wir uns bei philosophischen
Einzeldisziplinen wieder. Diese haben jeweils ihre eigenen Rayons und
Regeln, ob es sich um Ontologie, Metaphysik, Erkenntnistheorie,
Sprachanalytik, Ethik oder Sozialtheorie handelt. Nicht mehr wird
beansprucht, eine umfassende Theorie allen Wissens oder der menschlichen
Kondition zu bieten. Diese Selbstbescheidung im Umgang mit
geisteserheblichen Themen passt in eine Welt der kulturellen Vielfalt.
Deren «plurale» Gesinnung lehnt es ab, Philosophie als
Nachfolgedisziplin einer religiösen Dogmatik zu betreiben.
Zerbrechlichkeit des aufgeklärten Denkens
Kein
Zweifel, die Philosophie war, spätestens seit dem Durchbruch der
neuzeit-lichen Aufklärung, die privilegierte Nachfolgerin der grossen
religiösen Mythen, namentlich des Christentums – seiner
Weltentstehungslehre, seiner Ethik und heilsgeschichtlichen Apokalyptik.
In dieser Funktion blieb das Denken zurück-gebunden an
Letztbegründungsmuster, was besonders den ethischen Universa-lismus des
europäischen Denkens beflügelte. Christliches Naturrecht wurde
schrittweise durch säkulare Prinzipien ersetzt, die beanspruchten, den
Grundbe-dürfnissen und Untiefen der menschlichen Natur am besten zu
entsprechen. Die Pflicht-, Tugend- und Glücksmoralen sollten
allgemeingültige Formen des Zusam-menlebens ohne Rückgriff auf eine
«übernatürliche» Ordnung ermöglichen.
Wir
wissen heute um die Zerbrechlichkeit des aufgeklärten Denkens.
Religionen prallen wieder mit voller Wucht aufeinander, die Vernunft
wird denunziert, ja selbst die exakte Wissenschaft gerät in den
Verdacht, von geldgierigen Mächten aus dem Hintergrund dirigiert zu
werden. Im Übrigen konnten philosophische Großtheori-en das Böse nie
effektiv zähmen, die menschliche Raffgier, Brutalität und Mordlust nicht
wirksam stilllegen. Mit derlei «Theorien» wurden Tyranneien und brutale
Großmachtbestrebungen großflächig gerechtfertigt und begrifflich
unterbaut, bis hin zu Hitlers Rassen- und Welteroberungswahn.
Aber
auch jene Haltung, die heute im Westen als posttraditionale
Sensibilität vor-herrscht, scheint fragwürdig. Laut ihr sind die
Lebensstile doktrinärer, frauenverach-tender, judenfeindlicher,
homophober Kulturen strikt abzulehnen; und trotzdem sind wir gehalten,
unsere ethischen Standards nicht absolut zu setzen, sondern jede Kultur
aus ihrer eigenen Tradition heraus zu «verstehen». Der Berufung auf die
un-verletzliche Würde und Gleichheit aller entspricht keine
Menschheitsmetaphysik mehr, wie sie in Schillers Zeile anklingen mochte:
«Alle Menschen werden Brüder», die «Schwestern» eingeschlossen.
Warum
fehlen uns zunehmend Stärke und Mut, um die Prinzipien der aufgeklärten
Vernunft, ob in der Wissenschaft oder der Ethik, philosophisch zu
untermauern und ihre Umsetzung einzufordern? Vielleicht, weil wir noch
immer einer Welt unge-bildeter, darbender und zum Fanatismus verführbarer
Massen gegenüberstehen, die von monströsen Diktatoren und ihrem
korrupten Anhang zu mörderischen Taten aufgehetzt werden, während wir,
moralisch feinnervig wie niemals zuvor, unseren Eurozentrismus geißeln?
Für die Idee der Menschheit
Ein
Hauptgrund unseres Hangs zur Kleingeistigkeit liegt zweifellos darin,
dass – außerhalb des religiösen und naturrechtlichen Kontextes – das
Selbstverständnis des Westens zusehends blasser geworden ist. Immer
lauter melden sich individua-listische und egomanische Stimmen zu Wort.
Man kann die Schlag- und Stichworte der neuen Moralisten nicht mehr ohne
Beklemmung aussprechen: politische Kor-rektheit, neue Wachheit
(«Wokeness»). Stets sind wir zu wenig korrekt oder nicht «woke» genug.
Auf diese Weise beschleunigen sich die Auflösungstendenzen unse-rer
historisch vermittelten Einheit des Guten, Wahren und Schönen. Dieser
Ero-sion haben all die Opportunisten und Querköpfe, welche die
Massenmedien und das Internet fluten, nichts entgegenzusetzen als
Tagespolemik.
Aber
vielleicht – auch diese Perspektive zählt – ist das Ende der
philosophischen Großtheorien, in denen sich der «Geist» gerne
gottgleich manifestierte, eine not-wendige Folge der Demokratisierung des
Denkens und Fühlens. Wer pragmatisch denkt, und zwar entlang der
Grundbedürfnisse und Gefahren, die der menschlichen Natur innewohnen,
wird eine Theorie der kleinen Schritte (Karl Poppers «piecemeal social
engineering») befürworten. Fundamentalistische Weltbilder enden nicht
selten beim Terror der Ideale, indem sie sich anheischig machen, das
Wesen des Menschen zu befreien oder aber alle Menschlichkeit einer
übermenschlichen Autorität zu op-fern. Und so hat das Stückwerk des
Geistes seine eigene Humanität. Zwar verwei-gert es sich aller Heroik,
aber es lässt uns immerhin leben.
Dessen
ungeachtet dürfen wir, über alle «Love, peace and respect»-Rhetorik
hinaus, nicht aufhören, unsere Stellung im Ganzen des Seins und
Weltseins philosophisch, religiös und existenziell zu befragen. Wir
dürfen, nach unserer Selbstreinigung von eurozentristischen Verengungen,
nicht davon Abstand nehmen, uns auf die univer-salethische Tradition des
Abendlandes zu besinnen. Denn wir benötigen ein geisti-ges Fundament,
welches dem Sog der narzisstischen und neonationalistischen Verlockungen
widersteht. Wenn wir das Erbe unserer Kultur, geformt aus antiker,
christlicher und humanistischer Gesinnung, dauerhaft verspielen, dann
opfern wir die Idee der Menschheit und versinken in den Egoismen der
Kleingeistigkeit.
Peter Strasser ist Universitätsprofessor i. R. Er lehrt an der Karl-Franzens-Universität Graz Philosophie.
Postskriptum für Peter Strasser: Um groß geht es beim Philosphieren nicht, sondern um scharf. Radikal sein heißt, bei der Wurzel ansetzen. Einen Grund brauchen wir nicht, um zu einem Schluss zu kommen, sondern um uns die Richtung zu geben, in die es fortgehen soll. JE
Nota. - Dass ich mein System nur fragmentarisch darstellen konnte, gebe ich frei-mütig zu, und den Titel Großphilosophie beansprucht es nicht. Die Einsicht, dass dem zeitgenössischen Denken das Fundament fehlt, drängt sich jedem auf, der die gegenwärtigen Grundströmungen des westlichen Denken vergleicht, die philolo-gisch spitzenklöppelnden Kontinentalen und die definitorisch flohknackenden Sy-stematiker.
Ich habe auf deren Konjunktion nicht gewartet, ich schürfe seit vierzig Jahren am selben Ort nach einem Grund, und als ich auf einen festen Punkt gestoßen bin, hielt ich die Zeit für gekommen, dort mein Fundament zu legen - das ich aber von anderen auch schon vor-bereitet fand.
Da ich - ungern - den unsicheren Gang wagen musste, mein fragmentarisches Sys-tem ausschließlich im Internet vorzutragen, hat Peter Strasser meinen Weg nicht gekreuzt. Da bleibt mir nur, mich ihm so bemerkbar zu machen:
Ich bin da!
JE